31
Martin war in einem anderen Zimmer des Four Clans. Er lag auf dem Bett und versuchte, ein bisschen zu schlafen. Sein Körper war müde, aber sein Gehirn hatte anscheinend eine geheime Amphetaminfabrik entdeckt und schluckte Pillen nach eigenem Gutdünken. Das Bild an der Wand gegenüber dem Bett war ein Druck von Burke und Hare, wie sie fröhlich eine Leiche ausbuddelten, sie übertrumpften fast, aber nur fast, die brennende Hexe aus dem anderen Zimmer. Er setzte sich auf und drehte sich um, er wollte nachsehen, was über dem Bett hing. Die Schlacht von Flodden Field, das Gemetzel der Schotten in vollem Gang. Vor vierundzwanzig Stunden war ihm die Existenz des Four Clans noch nicht einmal bekannt gewesen, jetzt schien sein ganzes Leben innerhalb der karierten Wände stattzufinden. Gehirnwäsche durch Schottenmuster.
Er schaltete den Fernseher ein und sah die Abendnachrichten aus Schottland. Der Kabarettist Richard Moat … erschlagen … im Haus des Kriminalschriftstellers Alex Blake … zuvor aufgrund einer ungewöhnlichen Verwechslung … der zurückgezogen wie ein Einsiedler lebende Schriftsteller Alex Blake, dessen wahrer Name … der Sprecher der Polizei sagte, dass sie nach Zeugen für den Mord suchen … der Edinburgher Stadtteil Merchiston. Er schaltete den Fernseher wieder aus.
Er hatte weder ein Buch noch, natürlich nicht, seinen Laptop dabei, er konnte also weder lesen noch schreiben. Martin war nicht klar gewesen, wie viel Zeit seines Lebens er mit diesen Aktivitäten verbrachte. Was würde er tun, sollte er erblinden? Wenn er blind wäre, hätte er wenigstens einen Blindenhund – alles hatte auch eine gute Seite, ein Silberstreif aus hilfreichen Labradors und edlen Schäferhunden, erpicht darauf, seine Augen zu sein. Was, wenn er das Gehör verlor? Es gab auch Hunde für Taube, aber Martin wusste nicht, was sie taten. Sie zerrten einen wahrscheinlich häufig am Ärmel, während sie bedeutungsvoll etwas anstarrten.
Sein Telefon zwitscherte, und der volltönende Dubliner Tonfall seiner Agentin drang ihm ans Ohr. »Sind Sie tot, Martin?«, fragte sie. »Oder nicht tot? Ich wünschte nur, Sie würden sich entscheiden, weil ich hier mit einer Menge Fragen konfrontiert werde.«
»Nicht tot«, sagte Martin. »In den Fernsehnachrichten hieß es, ich lebe wie ein Einsiedler. Warum sagen Sie so etwas? Ich lebe nicht einsiedlerisch, ich bin kein Einsiedler.«
»Also, Sie haben nicht viele Freunde, Martin.« Melanie senkte die Stimme, als wären andere Personen bei ihr im Zimmer, und fügte hinzu: »Haben Sie ihn umgebracht, Martin? Haben Sie Richard Moat ermordet? Ich weiß, wir sagen immer, dass keine Publicity schlechte Publicity ist, aber Mord ist eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte. Sie wissen, was ich meine?«
»Warum um alles in der Welt sollte ich Richard Moat umbringen? Wie kommen Sie bloß auf die Idee?«
»Wo waren Sie, als er starb?«, fragte Melanie.
»In einem Hotel«, sagte Martin.
»Mit einer Frau?«, entfuhr es ihr überrascht.
»Nein, mit einem Mann.« Wie immer er es sagte, es klang nicht richtig. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn er ihr von der Pistole erzählte. Die Pistole war jetzt ein Geheimnis, das schwer auf ihm lastete. Er hätte es einfach der Polizei erzählen, ihre Ungläubigkeit ertragen sollen, aber eine Nacht mit einem bewaffneten Meuchelmörder schien kein besonders gutes Alibi.
»Herrgott«, sagte Melanie, »haben Sie einen Anwalt, Martin?« Sie ließ die paar Sekunden verstreichen, die sie offenbar für eine angemessene Pause hielt, und sagte dann: »Wie kommen Sie mit dem Buch voran?«
Glaubte sie wirklich, dass er schrieb, während all diese Dinge passierten? Jemand – jemand, den er kannte – war in seinem Haus ermordet worden. Auf seinem Beistelltisch klebte Gehirnmasse.
»Ein Gegengift«, sagte sie, »Kunst kann ein Gegengift zum Leben sein.«
Nina Riley war wohl kaum Kunst. Das ist wirklich todschick, Bertie, wir sollten öfter eine Kreuzfahrt machen. Jetzt müssen wir nur noch beweisen, dass Maud Elphinstone die Katzendiebin ist und dass der Name auf ihrer Geburtsurkunde Malcolm Elphinstone lautet. Es war, mit Verlaub, Schund.
»Sind Sie noch da, Martin? Sie wissen, dass Sie morgen auf dem Literaturfestival lesen müssen. Soll ich kommen und Sie moralisch unterstützen?«
»Nein, das will ich nicht. Ich werde absagen.«
»Es werden viele Leute kommen.«
»Deswegen werde ich absagen.« Er legte auf und starrte wieder an die Decke.
Martins Akku war leer, seit gestern hatte er nichts mehr gegessen außer der Schachtel Minstrels, die er mit Clare im Streifenwagen geteilt hatte. Den ganzen Tag war ihm aus dem einen oder anderen Grund übel gewesen – der grässliche Kater am Morgen, das geronnene Blut, das sein schönes Haus besudelte, der Anblick von Richard Moats Zombiegesicht –, aber jetzt hatte er plötzlich Heißhunger. Ein richtiges Abendessen wäre ihm recht gewesen – pochierte Eier mit orangefarbenem Dotter auf heißem, gebuttertem Toast. Und auf dem Tisch eine große Porzellankanne mit Tee und ein Kuchen in Form einer Trommel – ein Genueser Kirschkuchen oder ein glasierter Walnusskuchen. Und irgendwo in einer Ecke seine Frau, die still strickte.
Es war zwar ein anderes Zimmer im Four Clans, in der Minibar fand sich trotzdem nichts Essbares. Beim Anblick einer Dose Irn-Bru, die in den Eingeweiden der Bar lauerte, drehte sich ihm der Magen um. Er wollte nach Hause. Er wollte nach Hause gehen und in sein eigenes Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen und alles vergessen, aber er würde es nicht vergessen, weil es seine Strafe war. Und seine Strafe wäre erst vollständig, wenn sein ganzes Leben in Brüche gegangen und alle kleinen Einzelteile davon durch eine Mangel gedreht wären, bis sie so platt waren, dass sie niemand mehr zu einem Ganzen zusammensetzen könnte. Im einen Augenblick war er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, und ein Ticken der Uhr später, nach einer Umdrehung der Schraube, war er ein Ausgestoßener. Es brauchte nur ganz wenig. Der Schwung, den ein Baseballschläger beschrieb, eine Schale Borschtsch und ein Mädchen, das sich das Kopftuch abnahm.
Ein schönes Mädchen mit blondem Haar wollte sich mit ihm (Marty) in der Kaviarbar des Grand Hotel Europe treffen. Er fragte sich, ob sie, weil er Ausländer war, sein zögerliches, stotterndes Britentum attraktiv fand, ob sie statt des Langweilers zurückhaltenden Charme wahrnahm.
Er hatte den Lebensmittelhändler zum Tee ins Grand Hotel Europe eingeladen, aber der Mann hatte eine große Schau abgezogen und die kleinen Sandwiches und Kuchenstücke abschätzig gemustert und gesagt: »Man kriegt nicht viel für sein Geld, nicht wahr?«, als würde er zahlen und nicht Martin. Eine Menge Mädchen waren da, sehr gut gekleidete russische Mädchen, und der sterbende Lebensmittelhändler sah Martin an, zog die Augenbrauen in die Höhe, machte eine Kopfbewegung in Richtung der Mädchen und sagte: »Wir wissen, was sie sind«, und Martin erwiderte: »Wissen wir das?« Der Lebensmittelhändler schnaubte angesichts von Martins scheinbarer Ignoranz, verzog das Gesicht und lachte. »Sankt Petersburger Bräute.« An seiner fleischigen Lippe hing ein Stück geräucherter Lachs. Martin fragte sich, ob überhaupt noch etwas Sinn hatte. Der Lebensmittelhändler war ein wandelndes, sprechendes Memento mori. »Nein«, sagte er ernst, »ich glaube, sie sind einfach attraktive junge Frauen, ich glaube nicht, dass sie … was anderes sind.«
»Ja, aber was wissen Sie schon, Martin?«, sagte der Lebensmittelhändler gönnerhaft.
Sie hatten in dem hellen, luftigen Café Tee getrunken, doch die Kaviarbar war ein dunklerer, ausgefallenerer Ort mit Buntglas und Kupfer, im russischen stil modern. »Wir nennen es Jugendstil«, sagte er zu Irina. »Da?«, erwiderte sie, als hätte sie nie zuvor etwas so Faszinierendes gehört.
Auch heute noch, ein Jahr später, sah er die roten und schwarzen Kaviarperlen vor sich, die in kleinen Glasschalen auf zerstoßenem Eis schimmerten. Er aß nichts davon; Fisch war schlimm genug, aber Fischeier waren widerwärtig. Irina schien es nicht zu bemerken und aß alles auf. Sie tranken Champagner, billigen russischen Champagner, der jedoch überraschend gut war. Irina hatte ihn bestellt, ohne ihn zu fragen, hatte ihm zugeprostet und gesagt: »Wir haben gute Zeit, Marty.« Sie hatte sich umgezogen, ihr Haar war hochgesteckt, und sie trug keine Stiefel mehr, sondern Schuhe, aber ihr Kleid war hochgeschlossen und sittsam. Er wollte sie fragen, warum sie an einem Stand unter freiem Himmel Souvenirs verkaufte – ging es ihr finanziell schlecht, oder war es eine Berufung? –, aber etwas so Komplexes konnte er nicht verständlich machen.
In den Stunden zwischen dem Idiot und dem Grand Hotel hatte er über das bevorstehende Treffen nachgedacht. Er hatte sich vorgestellt, dass sie fröhlich plaudern würden, ihr Englisch auf magische Weise verbessert und seine paar unsicheren Brocken Russisch verwandelt in flüssiges Sprechen.
Eigentlich hätte er wie alle anderen ins Ballett im Mariinsky-Theater gehen sollen, aber er hatte »ein leichtes Bauchgrimmen« vorgeschoben, als der Lebensmittelhändler ihn abholen wollte. Der Mann zog verstimmt von dannen, jemand, der mit dem Tod tanzte, ließ eine Magenverstimmung als Entschuldigung offenbar nicht gelten.
Martin sorgte sich, dass Irina das Ganze falsch verstehen und bezahlt werden wollte, aber die Tatsache, dass sie die Rechnung im Café beglichen hatte, schien zu implizieren, dass sie sich nicht verkaufte. Vielleicht war sie auf der Suche nach einem Ehemann. Er hätte nichts dagegen, wirklich nicht. Niemand würde sie im St. James Centre anstarren, so wie sie eine Thaibraut anstarrten. Man würde ihr nicht ansehen, dass sie gekauft war. (Oder doch?) Ja, Irina Canning, meine Frau. Oh, sie ist Russin. Wir haben uns in St. Petersburg kennengelernt und verliebt. Eine sehr romantische Stadt. Sie würde Englisch lernen, er Russisch. Sie hätten kleine halbrussische Kinder, Sascha und Anastasia. Er würde ihr geben, was sie sich wünschte – finanzielle Sicherheit, ein schönes Zuhause, Kinder, die im reichen Westen aufwuchsen, Gesundheitsvorsorge für eine alternde Mutter, eine Ausbildung für ein jüngeres Geschwister, und als Gegenleistung würde sie ihm die Illusion der Liebe schenken. Gewinn und Verlust, Waren und Dienstleistungen, darum drehte es sich schließlich in der Welt. Geschäfte.
Irgendwann hörten sie auf, Champagner zu trinken, und wechselten zu Wodka. Der Wodka war so kalt, dass ihm die Nerven in der Kopfhaut schmerzten.
Martin war klar, dass er ziemlich betrunken war. Er war kein Trinker, ein Glas guter Wein am Abend war sein Limit, und er hatte weder den Kopf noch den Magen für billigen Champagner, kombiniert mit achtzigprozentigem russischem Wodka. Die Zeit schien in einer Serie von Schnappschüssen vorwärtszutaumeln: Im einen Augenblick suchte er in seiner Brieftasche nach genügend Rubeln, um die Rechnung zu zahlen, und im nächsten saß er vorn in einem Taxi und wurde mit halsbrecherischer und schreckenerregender Geschwindigkeit irgendwohin chauffiert. Er fragte sich, ob er entführt wurde. Dann hörte er, wie Irina dem Taxifahrer auf Russisch etwas zumurmelte. Martin versuchte, den Sicherheitsgurt anzulegen, aber der Taxifahrer brummte »Njet«, und sagte dann etwas zu Irina, woraufhin sie lachte. »Nicht nötig«, sagte er, als hätte Martin seine Fahrkünste infrage gestellt. Martin lachte auch, er hatte die Kontrolle über sein Leben einem wahnsinnigen russischen Taxifahrer und einer angehenden russischen Braut übergeben. Er fühlte sich unerwartet beschwingt. Etwas würde passieren, etwas würde sich verändern.
In der Schublade seines Nachttisches im Four Clans fand er eine glänzende Plastikkarte mit den Gerichten und Telefonnummern des Straßenverkaufs in der Nähe. Sein Magen rumorte, und Säure schoss ihm in den Hals. Er könnte sich eine Pizza kommen lassen, aber er wusste, dass sie so unappetitlich aussähe wie auf dem Foto auf der Speisekarte, und außerdem hatte er nicht so viel Geld. »Geh nur kurz raus, um einen Happen zu essen«, sagte er zu der Frau am Empfang. Er wusste, dass er ihr keine Rechenschaft schuldig war, aber Martin konnte das bedrückende Gefühl nicht abschütteln, dass er im Four Clans in Gewahrsam war. Er hatte fast kein Geld mehr, doch er nahm an, dass er irgendwo billig Pommes oder eine Suppe essen könnte.
»Schön für Sie«, sagte die Frau am Empfang gleichgültig. Sie hatte einen roten Fleck auf dem Kinn, der wie Blut aussah. Martin hielt Tomatenketchup für wahrscheinlicher.
Er landete in einem billigen Internetcafé. Es sah aus wie ein altmodischer Tante-Emma-Laden, nur dass es schwarz gestrichen war, und draußen stand in violetter Leuchtschrift »e-coffee«. Im Inneren roch es nach altem Kaffeesatz und künstlicher Vanille. Martin bestellte eine Tomatensuppe, die nach fadem getrocknetem Oregano schmeckte, aber seinem mageren Budget entgegenkam.
Umgeben von den Computern des Internetcafés, wurde ihm erneut bewusst, wie sehr er die ständige Gesellschaft seines Laptops vermisste. Er hatte Hauptkommissar Sutherland von dessen Verschwinden erzählt, und der notierte sich die Einzelheiten, interessierte sich jedoch nicht weiter dafür. Martin begriff, dass er sich auf Sutherlands Prioritätenliste weit unten befand. »In den letzten vierundzwanzig Stunden sind Ihnen schrecklich viele Dinge zugestoßen, Mr. Canning«, sagte er. »Aber«, fügte er frohgemut hinzu, »bedenken Sie, dass Sie eines Tages, wenn alles vorbei ist, darüber werden schreiben können.«
Martin überlegte kurz, ob er ins Internet gehen sollte. Er fragte sich, ob sein Tod etwas an seinem Verkaufsrang bei Amazon geändert hatte (positiv oder negativ, vermutlich war beides möglich). Er entschied sich jedoch dagegen, bei Amazon nachzusehen oder seinen (oder Richards) Namen zu googeln. Er wollte nicht im ganzen Web Beweise seines eigenen Todes finden.
Nachdem er die Suppe mit dem Kleingeld aus seinen Taschen bezahlt hatte, blieben ihm noch genau einundsechzig Pence. Bis zu seinem Büro waren es nur zehn Minuten zu Fuß – er unternahm einen entschlossenen Versuch, die hochgestellten Kommas loszuwerden –, und er wollte hinschlendern und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Vielleicht könnte er morgen aus dem Four Clans flüchten, eine Luftmatratze kaufen und auf dem Laminatboden des Büros kampieren. Martin konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals in sein Haus zurückkehren würde. Auch wenn die Polizei fertig wäre, wie sollte er die Erinnerung an Richard Moats Ermordung aus seinem Wohnzimmer tilgen? Und wie sollte er das Zimmer je wieder sauber kriegen? Unvorstellbar, dass die Frauen von Hilfe in ihren hübschen rosa Uniformen Richard Moats Gehirnmasse von Teppich und Wänden kratzten.
Im Büro gab es eine Toilette und eine winzige Küche mit Wasserkocher und Mikrowelle. Alles, was er wirklich brauchte. Im Büro konnte er einfach und frugal leben wie der Mönch, der er nie gewesen war.
In seiner Jugend hatten sie oft gezeltet – mit den Pfadfindern (Christopher passte sich mit jovialer Heuchelei an, Martin kam gerade so zurecht) und mehrmals mit ihren Eltern. Ihre Mutter übernahm dabei die Rolle von Harrys gehorsamem Unteroffizier, kochte ständig Wasser auf dem wackligen Primus-Brenner, während Harry der winzigen Truppe die dunkleren Tricks des Überlebens lehrte (Kaninchen das Genick zu brechen, Forellen zu ködern, Aale niederzuringen). Überleben, so schien es, war nicht möglich, ohne jemand anderen umzubringen.
Nina Riley war natürlich eine begeisterte Camperin. Das Leben im Freien hatte sie während des Kriegs in der Schweiz lieben gelernt, und sie belud häufig den Kofferraum ihres Bristols mit Vorräten und fuhr in die Berge ihrer Hochland-Heimat. Sie besaß ein Paar feste Wanderschuhe, ein Armeezelt und einen altmodischen Rucksack aus Leinwand mit Lederriemen, in dem sie ihre Thermoskanne und dicke Sandwiches mit Rindfleisch und Senf mitnahm. Sie kochte Wasser aus torfbraunen Bächen, um Tee zu machen. Sie angelte – Forellen aus dem Fluss oder Makrelen aus einer Meeresbucht – und briet sie zum Frühstück, bevor sie zu einer ganztägigen Wanderung aufbrach, auf der sie durchaus auf einen Verdächtigen stoßen konnte, dem es nachzuspionieren galt. Scheint mir ziemlich zweifelhaft, Bertie. Ich glaube, unser Freund ist ein kleiner Schuft. Bertie sagte nie sehr viel. Der Fernsehproduzent hatte Martin vorgeschlagen, dass zwischen Nina und Bertie »eine gewisse sexuelle Spannung herrschen sollte. Sie sind beide ein bisschen langweilig, verstehen Sie?« Martin dachte, er würde verrückt. Ob es sich so anfühlte?
Auf dem Weg vom Café zu seinem Büro kam er am Zirkus im Meadows Park vorbei. Zirkusse hatten ihn schon immer irritiert, die Artisten wirkten zerbrechlich und schienen überflüssig für den Fortbestand des Planeten, und doch schien es Martin, sie verhielten sich, als wüssten sie etwas, was er nicht wusste. Geheimnisse. Ein russischer Zirkus. Natürlich. Was sonst? Das gesamte Mütterchen Russland war gekommen, um der verlorenen Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese Puppe besonders, sehr guter Maler. Szenen aus Puschkin. Puschkin berühmter russischer Schriftsteller. Sie kennen? Kafka hatte die Autorenschaft für sein Leben übernommen. Er wurde gelöscht, aus der Erinnerung und aus der Geschichte ausradiert, denn genau das hatte er Irina angetan. Er hatte sie wie Abfall weggeworfen. Er hatte sie ausradiert, und jetzt wurde er ausradiert.
Jemand war im Büro gewesen. Kein Vandalismus, der Raum war nicht auf den Kopf gestellt, es waren nur Kleinigkeiten – die Tür der Mikrowelle stand offen, und im Abfalleimer der Küche lagen eine Styroporschachtel, ein halb gegessener Burger und eine leere Coladose. Auf dem Boden lag ein Bonbonpapier, ein Stuhl stand auf der falschen Seite des Zimmers. Die verschiedenfarbigen Post-it-Blocks, die normalerweise nebeneinander auf seinem Schreibtisch lagen, waren verschoben. Es sah nicht so aus, als sei ein Dieb da gewesen, sondern als habe eine unordentliche Sekretärin nicht genug zu tun gehabt und sich den Nachmittag über gelangweilt.
Martin zog die Schubladen des Schreibtischs auf. Alles war in Ordnung, die Kugelschreiber und Bleistifte lagen ordentlich nebeneinander, die Büroklammern und Leuchtstifte befanden sich an ihrem Platz. Etwas fehlte. Martin wusste natürlich, was es war, noch bevor er die Schublade öffnete. Die CD-ROM, das Backup von »Tod auf Black Isle«, die letzte Kopie seines Romans. Er ließ sich auf den teuren Schreibtischstuhl fallen, der in der Miete inbegriffen war. Und in diesem Augenblick bemerkte er den rosa Post-it-Zettel, der auf der leeren weißen Wand gegenüber klebte. Jemand hatte eine Nachricht für ihn hinterlassen. Fuck you, Martin. Er spürte, wie das Herz in seiner Brust zu einem Zapfenstreich aufspielte. Vom Weckruf am Morgen bis zu seiner Einkerkerung im Four Clans war der ganze Tag unerbittlich grauenhaft gewesen.
Der Weckruf heute Morgen! Das war Richard gewesen. 1 Anruf in Abwesenheit. Er war zu betäubt gewesen, um sich zu melden, und dann hatte er ihn vollkommen vergessen. Er musste es der Polizei sagen. Es war ein wichtiges Beweisstück. Er nahm sein Handy, nur um festzustellen, dass der Akku fast leer war.
Jetzt wünschte er sich, er wäre am Morgen drangegangen, vielleicht wäre er die letzte Person gewesen, mit der Richard gesprochen hätte. »Oh, mein Gott«, entfuhr es ihm, und sein Mund verzog sich zu dem gleichen Oval des Entsetzens wie bei der brennenden Hexe auf dem Bild im Four Clans. Was, wenn Richard ihn während seines … Martyriums angerufen hatte? Was, wenn er verzweifelt um Hilfe gefleht hatte? Wenn Martin sich gemeldet hätte – hätte er Richards Tod irgendwie verhindern können? (Halt, du Schurke!) Martin legte den Kopf auf den Schreibtisch und stöhnte. Aber dann kam ihm ein Gedanke. Er hob den Kopf und schaute zu dem rosa Post-it-Zettel an der Wand. Richard hatte um zehn Uhr angerufen, Martin erinnerte sich, dass er auf die Uhr des Radioweckers neben seinem Bett im Four Clans geschaut hatte, und der Erste Hauptkommissar Campbell hatte gesagt, dass Richard zwischen vier und sieben Uhr morgens gestorben war, also konnte er nicht um zehn Uhr angerufen haben. Außer er hatte von jenseits des Grabes angerufen. Auf dieses Stichwort hin, auf eine Weise, wie nicht einmal Nina Riley es hätte arrangieren können, zwitscherte das Telefon in seiner Hand. Das Trommeln in seiner Brust wurde wilder, unregelmäßiger. Richard Moat, zeigte das Display an.
Wieder befand er sich in der Schiffsschaukel, spürte, wie sie sich schrecklich und unaufhaltsam in die Lüfte schwang, seinen Körper mitnahm, aber seinen Geist zurückließ, sich auf ihren Zenit zubewegte und eine Nanosekunde am Ende der Kurve innehielt. Nicht der Aufstieg war schrecklich, der Fall war es.
Seine imaginäre Frau nahm tapfer die Strickarbeit auf. Sie hatte kürzlich mit einem Fischerpullover für ihn angefangen. »Damit du im Winter nicht frierst, Liebling.« Martin toastete Hefeküchlein auf einer Röstgabel aus Messing. Das Feuer knisterte, die Hefeküchlein waren heiß, alles war sicher und gemütlich. Richard Moat befand sich jenseits des Grabes und wusste alles. Martins Herz schlug so heftig, dass es wehtat. Hatte er einen Herzinfarkt? Seine Frau sagte etwas zu ihm, aber er hörte es nicht, weil das Feuer so laut prasselte. Irina schlug plötzlich die puppenblauen Augen auf. Nein, sie war nicht hier. Sie konnte nicht in diesem hübschen Häuschen sein. Das war nicht erlaubt. Er verblasste, fiel, ein Vorhang senkte sich. Etwas Schwarzes, Monströses war in ihm, in seiner Brust, schlug mit den Flügeln. Die Nadeln seiner Frau klimperten, sie versuchte, ihn durch Stricken zu retten.
Martin sprach leise in sein Handy. »Hallo?«, sagte er. Niemand antwortete. Das Telefon gab ein letztes schwaches Piep von sich und schaltete sich aus. Schuld und Sühne. Auge um Auge. Kosmische Gerechtigkeit waltete in der Stadt. Er begann zu weinen.