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Jackson hatte größte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. Die Luft im Spiegelzelt war zum Schneiden und überhitzt. Dekonstruierte romantische Ironie, sagte die leichenhafte Frau, die die Schriftsteller auf dem Podium vorstellte. Ihre Worte waren an niemanden im Besonderen gerichtet, und Jackson hatte keine Ahnung, was sie meinte. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Oberteil, das ein knochiges Brustbein und Brüste enthüllte, die herunterhingen wie Lappen. Jemand sollte der Frau eine richtige Mahlzeit spendieren, dachte Jackson. Ohne eine Miene zu verziehen, beschwor er ein Bild von Julias Brüsten herauf, Brüste, die er in letzter Zeit nicht oft zu Gesicht bekommen hatte. Louise Monroe hatte wesentlich kleinere Brüste; um das zu wissen, musste man sie nicht nackt sehen. Aber sie hatte welche, daran bestand kein Zweifel. Er durfte nicht an die nackte Louise Monroe denken. Er verspürte einen Stich Ehebrecherschuld. Sehr, sehr böser Jackson.
Und, so stellte er fest, hier waren noch mehr Leute, die anscheinend nicht arbeiten mussten, wie war es möglich, dass die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbrach? Wer arbeitete eigentlich noch? Die Ausländer und die Armen – Mädchen namens Marijut und Sophia. Und Computerfreaks, Tausende picklige Jungen, die nie das Tageslicht sahen, die Anzugträger im Finanzdistrikt, ein paar Orangenverkäuferinnen, und damit hatte es sich. Und die Notfalldienste natürlich, die ruhten nie. Er fragte sich, wie Julias Tag verlief. Er blickte diskret auf seine Uhr, vielleicht aß sie mit jemandem zu Mittag. Schauspielern war keine richtige Arbeit, nicht gemäß irgendeiner sinnvollen Definition des Wortes.
Martin, der eindeutig in einem abgedunkelten Raum liegen und beruhigende Musik hören sollte, bestand hysterisch darauf, auf dem Literaturfestival aufzutreten, obschon es Jackson ein völlig unnötiges Engagement erschien. Er hatte bereits ein Wörtchen mit einem Journalisten reden müssen, der Martin interviewen wollte. »Sub judice«, sagte Jackson zu dem Mann, drohender, als er beabsichtigt hatte. Er war heute nicht wirklich in der Stimmung, sich auf lange Diskussionen einzulassen.
Seit Dienstag schien eine Menge mit Martin passiert zu sein. Auch Jackson war eine Menge passiert, aber Martin gewann den Ich-habe-einen-schlechten-Tag-Wettbewerb mühelos.
»Mein Laptop ist verschwunden, nachdem ich ihn auf den Honda-Fahrer geworfen habe«, sagte er atemlos, als Jackson ihn auf dem Literaturfestival am Charlotte Square getroffen hatte. Er wirkte etwas verwirrt. Es gab natürlich verwirrt und verwirrt. Jackson war nicht sicher, ob er der zweiten Art gewachsen war, aber Martin schien klar und fähig, sich auszudrücken. Vielleicht ein bisschen zu fähig für Jacksons Geschmack.
»Ich habe die Nacht mit dem Peugeot-Fahrer im Hotel verbracht, weil sie im Krankenhaus meinten, er könne eine Gehirnerschütterung haben. Sein Name war Paul Bradley, nur hat sich herausgestellt, dass er nicht so heißt, weil es so eine Person nicht gibt. Aber er existiert. Natürlich existiert er, Sie haben ihn ja gesehen, nicht wahr? Er hatte eine Pistole. Eine Welrod. Aber dann wurde ich bewusstlos, weil er mich unter Drogen gesetzt hat, und dann hat er meine Brieftasche gestohlen. Es würde mir nichts ausmachen, aber ich habe ihm das Leben gerettet.«
»Eine Welrod?«, fragte Jackson. Wieso kannte Martin sich mit Waffen aus? Mit Welrods, um Himmels willen.
»Und jemand ist in mein Büro eingebrochen, also nicht eingebrochen, es gab keine Spuren von einem Einbruch, aber auf dem Boden lag ein Bonbonpapier …«
»Ein Bonbonpapier?«
»Ich esse keine Bonbons! Und jetzt stellt sich heraus, dass Paul Bradley überhaupt nicht existiert! Und er war mein Alibi.«
»Alibi?«
»Für den Mord.«
»Mord?« Jackson revidierte seine Meinung: Vielleicht war es doch die zweite Art von verwirrt.
»In meinem Haus wurde ein Mann ermordet! Richard Moat, der Kabarettist, und dann hat er mich angerufen.«
»Wow! Richard Moat wurde in Ihrem Haus ermordet?«
»Ja. Und dann hat er mich angerufen.«
»Ja, das sagten Sie schon.« Kannte Martin den Unterschied zwischen Fakt und Fiktion? Er war schließlich Schriftsteller.
»Nicht er, ich weiß, dass nicht er es war. Der Mörder muss sein Handy mitgenommen haben – sein Handy war verschwunden ?–, und dann hat er mich damit angerufen.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht!«
»Okay, okay, beruhigen Sie sich.« Jackson seufzte. Man sagte fünf kleine Wörter – Wie kann ich Ihnen helfen? –, und schon hatte man seine Seele verpfändet.
Obwohl alles seltsam klang, was Martin erzählte, waren in seiner Geschichte auch kleine Wahrheiten versteckt. Und wer war Jackson, um Martin zu kritisieren? Er hatte versucht, ein totes Mädchen vor dem Ertrinken zu retten, er hatte einen Hund mit der Macht seiner Gedanken getötet. Jackson fragte sich, ob Martin noch mit seiner Mutter zusammenwohnte. Nicht, dass das verwerflich wäre, Jackson würde gern mit seiner eigenen Mutter zusammenleben, er hatte nur so kurze Zeit mit ihr verbracht. Nein, Martin lebte nicht mit seiner Mutter, er lebte mit Richard Moat, oder?
»Nicht lebte«, korrigierte ihn Martin. »Er wohnte bei mir, weil er auf dem Festival auftrat. Ich kannte ihn kaum, mochte ihn nicht einmal. Was, wenn sein Mörder es als Nächstes auf mich abgesehen hat?«
»Ich glaube, Sie sollten mit der Polizei reden, Martin.«
»Nein!«
»Geben Sie der Polizei Ihr Handy, damit sie versuchen können, den Anrufer zurückzuverfolgen.«
»Nein!«
Sie waren ein streitsüchtiges Pack. Er hatte noch nie von Dougal Tarvit oder E. M. Watson gehört. Er hatte allerdings auch noch nie von Alex Blake gehört – bis gestern Abend. Auf dem Weg zum Literaturfestival war er in eine Buchhandlung gegangen und hatte im Café in einem von Alex Blakes Büchern geblättert. Es war harmloses Zeug, beschrieb eine Art retroutopisches Großbritannien, in dem es nur so wimmelte von Aristokraten und Wildhütern – aber niemand schien Sex zu haben (was zu Martins geschlechtsloser Ausstrahlung passte). Es waren unsinnige Bedingungen, Morde waren saubere Angelegenheiten, die zu einwandfreien Leichen führten, so wie man sie am Sonntagabend im Fernsehen sah, das Äquivalent eines heißen Bades und einer Tasse warmen Kakaos. Die Leibeigenen revoltierten nicht, sie waren glücklich in ihren Ketten, und der Gestank des Todes konnte der feinen, nach Heidekraut duftenden Luft um Nina Rileys Kopf nichts anhaben. »Gehen Sie nicht hinein, Miss Riley«, sagte der Wildhüter. »Das ist kein Anblick für ein hübsches junges Mädel.«
Nina Riley hatte einen Kumpan, aber hatten sie den nicht alle? Der Robin zu ihrem Batman. Ich habe etwas Wichtiges entdeckt, Bertie. Wir müssen uns treffen. Der beste Freund seines Bruders Francis hieß Burt. Beide waren Schweißer, beide spielten Rugby. Burt war bei Francis’ Beerdigung zusammengebrochen – das war das Einzige, was Jackson von der Beerdigung im Gedächtnis geblieben war –, Burt weinte am Grab hässliche männliche Schluchzer, ausgekeucht von einem Macho, der wahrscheinlich nicht mehr geweint hatte, seit er ein Baby gewesen war. Francis hatte sich auf eine brutale, beiläufige Weise umgebracht, die Jackson jetzt als typisch für seinen Bruder betrachtete. »Francis du blöder verdammter Mistkerl«, hatte Burt wütend den Sarg angeschrien, als er in die Grube gesenkt wurde, bevor ihn ein paar Männer vom offenen Rachen des Grabs fortzerrten. Francis war nie »Frank« oder »Fran« gewesen, sondern immer bei seinem vollen Namen genannt worden. Er hatte ihm eine gewisse Würde verliehen, die er vielleicht nicht wirklich verdient hatte.
An das Begräbnis seiner Schwester erinnerte sich Jackson nicht, weil er nicht dabei, sondern bei einer Nachbarin gewesen war. Mrs. Judd. Er hatte lange nicht mehr an Mrs. Judd gedacht, an den Rußgeruch in ihrem Wohnzimmer, die zu hart gepolsterten, mit geblümtem Samt bezogenen Sitzmöbel, an ihren goldenen Eckzahn, der ihr ein etwas liederliches zigeunerhaftes Aussehen verlieh, obwohl es in einem Leben, das von der Zeche bestimmt war, nichts Unkonventionelles gab – Tochter eines Bergarbeiters, Frau eines Bergarbeiters, Mutter eines Bergarbeiters.
Jackson war bereits angezogen für Niamhs Beerdigung – er erinnerte sich an den schwarzen Anzug aus einem billigen, filzartigen Material, den er nie zuvor und nie danach gesehen hatte –, aber als es so weit war, konnte er einfach nicht hingehen und schüttelte stumm den Kopf, als sein Vater sagte: »Wir müssen jetzt los, Sohn.« Francis sagte mürrisch: »Komm schon, Jackson, es wird dir leid tun, wenn du dich nicht richtig von ihr verabschiedest«, aber Jackson hatte es nie bedauert, nicht zu dem schrecklichen Begräbnis gegangen zu sein. Doch Francis hatte recht, er hatte sich nie richtig von Niamh verabschiedet.
Er war zwölf und hatte nie zuvor einen Anzug getragen, und es sollte Jahre dauern, bis er wieder einen anzog – Francis’ Beerdigung verdiente offenbar keinen –, und alles, woran er sich erinnerte, war, wie er in dem schlecht sitzenden Anzug von jemand anderem an Mrs. Judds kleinem altem Resopalküchentisch saß, der mit Brandlöchern übersät war, süßen Tee trank und eine Hühnerpastete aß. Komisch die Dinge, an die man sich erinnerte. Bertie, das war kein Unfall, das war Mord!
Er hatte damit gerechnet, dass jemand im Café zu ihm kam und ihn sarkastisch grinsend fragte, ob er vorhabe, das Buch zu kaufen oder den ganzen Tag hier zu sitzen und es kostenlos zu lesen. Aber dann bemerkte er, dass sich niemand für ihn interessierte und er tatsächlich, wenn er wollte, den ganzen Tag bei einem ekelhaften Latte und einem noch ekelhafteren Blaubeermuffin hier sitzen und umsonst Alex Blakes Gesamtwerk lesen könnte. Niemand arbeitete, und die Bücher kosteten nichts.
Jackson las kaum Belletristik, hin und wieder einen Spionageroman oder Thriller im Urlaub. Er zog Sachbücher vor, weil sie ihm das Gefühl gaben, etwas zu lernen, auch wenn er es nahezu sofort wieder vergaß. Er war nicht sicher, ob Romane von Bedeutung waren, doch er lief nicht herum und erzählte es, weil ihn die Leute dann für einen Spießer gehalten hätten. Vielleicht war er ein Spießer. Julia las viel, sie hatte immer einen Roman dabei, andererseits beruhte ihr Berufsleben auf Fiktionen der einen oder anderen Art, während sein ehemaliger Beruf auf Fakten basierte.
Was Kunst anging, war er nicht viel besser. Dieser ganze fusselige Impressionismus war nichts für ihn, er hatte endlos Wasserlilien angeschaut und sich gefragt: Was soll das? Und religiöse Malerei gab ihm das Gefühl, in einer katholischen Kirche zu sein. Er mochte darstellende Kunst, Bilder, die eine Geschichte erzählten. Er mochte Vermeer, die kühlen Interieurs sprachen von einer Gewöhnlichkeit, die er verstand, ein für immer festgehaltener Augenblick, denn im Leben ging es nicht um Legionen von Madonnen oder Wasserlilien, es ging um alltägliche Details – die Frau, die Milch aus einem Krug goss, der Junge, der am Küchentisch saß und eine Hühnerpastete aß.
Tarvit war anzusehen, dass er ein arroganter Schnösel war, und E. M. Watson (was war das für ein Name?) war einfach nur seltsam: entweder eine schlecht zusammengesetzte Frau oder ein als Frau verkleideter Mann. Transvestiten waren Jackson ein Rätsel. Er hatte nie im Leben ein weibliches Kleidungsstück getragen, mit Ausnahme eines Kaschmirschals von Julia bei einem Spaziergang, und den ganzen Nachmittag hatte ihn seine parfümierte Weichheit irritiert. Martin schien die Signale, die E. M. Watson in seine Richtung sandte, wohlgemut zu übersehen. Der Mann hatte etwas Zölibatäres, erinnerte Jackson an einen Vikar oder Mönch. E. M. – Eustacia Marguerite oder Edward Malcolm? Wie auch immer, E. M. hätte ihre liebe Mühe mit Martin.
Jackson kam sich ein wenig lächerlich vor, als er im »Signierzelt« (Jackson hatte zuerst »Singzelt« gelesen – eine Vorstellung, die ihn sowohl beunruhigte als auch verwirrte) hinter Martin stand wie ein Geheimagent. Das Literaturfestival fand in Zelten statt und erinnerte ihn vage an ein Feldlager der Armee. Plötzlich hatte er wieder den Geruch des Zirkuszelts von gestern Abend in der Nase, den vertrauten Geruch von Gras unter Leinwand. Das verrückte russische Mädchen, eine Banditenkönigin, ihr Messer an seiner Kehle.
Martin blickte bei jeder Person nervös auf, die sich ihm näherte, als wartete er auf einen unbekannten Meuchelmörder. Jackson verstand nicht, warum er hier auftrat, wenn er sich solche Sorgen machte. »Ich werde mich nicht verstecken«, hatte Martin gesagt. »Man muss sich den Dingen stellen, vor denen man Angst hat.« Jacksons Erfahrung nach war es oft am besten, man mied die Dinge, vor denen man am meisten Angst hatte. Zurückhaltung war bisweilen der bessere Teil von Heldenmut.
»Gleichzeitig machen Sie sich Sorgen, dass jemand es auf Sie abgesehen hat? Die Person, die Richard Moats Handy gestohlen hat, die Person, die in Ihr Büro eingebrochen ist?«
»Nein, die sind nicht hinter mir her«, sagte Martin. »Kosmische Gerechtigkeit hat mich im Visier.«
»Kosmische Gerechtigkeit?« Bei Martin klang es wie eine Person, wie der Anführer der vier Reiter der Apokalypse.
»Ich habe ein Verbrechen begangen«, sagte Martin. »Und werde dafür bestraft. Auge um Auge.«
Jackson versuchte, ihn aufzumuntern. »Jetzt kommen Sie schon, Martin, war es nicht Gandhi, der gesagt hat: ›Auge um Auge, und die ganze Welt wird blind‹?« Oder so etwas Ähnliches. Er hatte den Spruch auf einem T-Shirt gelesen, als er in den achtziger Jahren eine Antiatomwaffen-Demonstration bewachte. Letztes Jahr hatte ihn Julia dazu gebracht, an einer Antikriegsdemonstration teilzunehmen. So sehr hatte sich seine Welt verändert.
»Tut mir leid«, sagte Martin. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie diesen Job übernehmen.«
Jackson machte es nichts aus, es war ein Job, und er tat etwas, statt nur rumzuhängen (obwohl es sich anfühlte wie Rumhängen). Nahe dran und persönlich war nicht sein Ding, aber er hatte seinerzeit auch als Leibwächter gearbeitet, kannte die Routine.
»Solange ich aufpasse, wird Ihnen nichts passieren, Martin«, versicherte er ihm. Filmsprache, die Martin glücklich zu machen schien.
Jackson fragte sich, was für ein »Verbrechen« Martin begangen hatte. An einer Bushaltestelle geparkt? Schundromane geschrieben?
Martin hielt sich gut, signierte höflich und lächelte. Jackson hielt aufmunternd den Daumen nach oben. Dann wandte er sich ab, und da stand sie, neben ihm.
»Herrgott noch mal«, murmelte er. »Sie haben mich aber erschreckt.«
Er hielt nach dem Messer Ausschau – dass er es nicht entdeckte, hieß noch lange nicht, dass sie es nicht bei sich hatte. In einem früheren Leben, unter einem früheren Regime wäre sie vermutlich eine Spionin (oder tatsächlich eine Meuchelmörderin) gewesen. Vielleicht war sie es auch jetzt.
»Also, verrücktes russisches Mädchen«, sagte er, »wie geht’s?«
Sie ignorierte ihn und reichte ihm wortlos ein Foto.
Ein Mädchen, das irgendwo an einem Pier lehnte. »Ausflug nach St. Andrews«, sagte das verrückte russische Mädchen. Er konnte sie nicht ewig so nennen. Sie hatte gesagt – was hatte sie gesagt? Fragen Sie nach Jojo. Das klang ziemlich unwahrscheinlich. Der Name einer Prostituierten. »Wie ist Ihr richtiger Name?«, fragte er. Richtige Namen waren Jackson immer wichtig gewesen. Ich heiße Jackson Brodie.
Sie zuckte die Achseln und sagte: »Tatiana. Ist nicht geheim.«
»Tatiana?« Wie Titania? Er hatte Fotos von Julia als Königin der Elfen in einer Schulaufführung von Ein Sommernachtstraum gesehen, barfuß, nahezu nackt, das erstaunliche Haar offen fallend und mit Blumen geschmückt. Ein wildes Mädchen. Er wünschte, er hätte sie damals schon gekannt.
»Ja, Tatiana.«
»Und das Mädchen auf dem Foto?«
»Lena. Sie ist fünfundzwanzig.«
Auf dem Foto schien die Sonne, und der Wind blies dem Mädchen durch die Haare, die kleinen Kruzifixe in ihren Ohren waren gerade noch zu erkennen. Seine Meerjungfrau. Die Ähnlichkeit mit Tatiana war erstaunlich, nur dass ihre Augen freundlicher blickten.
»Alle sagen, wir sehen aus wie Schwestern«, sagte Tatiana.
Tatiana beherrschte das Imperfekt nicht, bemerkte Jackson. Dadurch blieb das Mädchen in der Gegenwart, in der sie keinen Platz mehr hatte.
Er dachte an all die anderen Fotos toter Mädchen, die er betrachtet hatte, und spürte, wie sich das bleierne Gewicht der Melancholie wieder auf ihn legte. Josie hatte Alben über Alben mit Fotos, die Marlees Leben seit ihrer Geburt dokumentierten. Eines Tages würden sie zu Staub zerfallen, oder jemand fände ein Foto auf einem Flohmarkt oder was immer es in der Zukunft geben würde, und empfände vielleicht die gleiche Trauer um ein unbekanntes, vergessenes Leben. Tatiana stieß ihm ihren spitzen Ellbogen in die schmerzenden Rippen und zischte ihn an: »Passen Sie auf.«
»Was ist mit den Kruzifixen?«, fragte er.
»Sie kauft sie bei Juwelier, St. James Centre. Paar für sie, Paar für mich – Geschenk. Sie ist gläubig. Gute Person. Trifft schlechte Menschen.« Sie zündete sich eine Zigarette an und starrte in die Ferne, als sähe sie etwas, was nicht wirklich sichtbar war. »Sehr gute Person.«
Beim Anblick der Zigarette lief ein Junge im Literaturfestival-T-Shirt auf sie zu. Mit einem Blick hielt sie ihn in zwanzig Schritt Entfernung auf.
»Ich habe sie gefunden«, sagte Jackson. »Ich habe Ihre Freundin Lena gefunden, und dann habe ich sie wieder verloren.«
»Ich weiß.« Sie nahm ihm das Foto wieder ab.
»Gestern Abend haben Sie mir geraten, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern«, sagte Jackson. »Aber jetzt sind Sie hier.«
»Ein Mädchen kann nicht Meinung ändern?«
»Gehe ich richtig in der Annahme, dass Terence Smith versucht, Sie umzubringen, weil Sie wissen, was mit Ihrer Freundin Lena passiert ist? Hat er sie umgebracht?«
Tatiana warf die Zigarette auf den Boden. Der Junge im Literaturfestival-T-Shirt, der noch immer außerhalb der Reichweite ihres versteinernden Blicks stand, schoss vor und hob die brennende Kippe auf. Er sah aus wie ein Junge, der sich auf eine Granate werfen würde, um ein Menschenleben zu retten.
»Woher kennt Terence Smith meinen Namen?«, fragte Jackson.
»Er arbeitet für schlechte Leute, schlechte Leute haben Möglichkeiten. Sie haben Verbindungen.«
Das klang in Jacksons Ohren ziemlich vage. »Wie finde ich ihn?«
»Ich sage schon.« Sie klang verdrossen. »Reelle Häuser für reelle Menschen.« Sie neigte sich auf ihre beunruhigende Art näher zu ihm und fixierte ihn mit ihren grünen Augen. »Sie sind sehr dumm, Mr. Brodie.«
»Was Sie nicht sagen. Hat Terence Smith Lena umgebracht?«
»Auf Wiedersehen«, sagte sie und winkte. Bis zu diesem Moment hatte er nicht gewusst, dass man sarkastisch winken konnte. Dann war sie fort, war in der beflissenen, Bücher liebenden Menge untergetaucht.
Jackson gelang es, Martin aus E. M. Watsons zweideutigem Griff zu befreien. »Betty-May ist ihr lieber«, vertraute Martin ihm flüsternd an.
»Wirklich?«, sagte Jackson. Er hatte eine Idee. »Sie haben kein Auto, oder, Martin?«
Martins Wagen stand in der Straße vor seinem Haus, wo er ihn gestern Morgen zurückgelassen hatte. Die Einfahrt war mit Polizeiband abgesperrt, und eine Schar Polizisten, in Uniform und in Zivil, ging im Haus ein und aus. Jackson fragte sich, ob er gestern Abend im Park identifiziert worden war. Es war unwahrscheinlich, aber es war trotzdem am besten, den langen Arm des Gesetzes zu meiden. Martin dachte anscheinend das Gleiche, denn er schirmte sein Gesicht mit der Immobilienzeitung ab, die Jackson eben aufgehoben hatte. Wenn Richard Moats Mörder Martin wirklich angerufen hatte, dann hielt Martin Beweismaterial zurück, und Jackson war jetzt sein Komplize. Er seufzte bei dem Gedanken, wie viele Delikte er anhäufte.
Jackson dachte an Marijut in ihrer rosa Uniform, ein Mädchen, eher Freundin, hat einen Mann gefunden, der ermordet wurde in einem Haus, in dem wir putzen. Und das war das Haus. Wieder einmal Hilfe. Sie schienen ihre Tentakel überall zu haben, wo Jackson auftauchte. Verbindungen über Verbindungen. Was wusste Martin über sie?
»Nette Frauen«, sagte Martin, »die gut putzen. Sie tragen Rosa.«
»Wie haben Sie bezahlt?«
»Bar auf die Hand der Haushälterin. Ich lasse immer ein Trinkgeld liegen.«
»Keine von ihnen … Wie soll ich mich ausdrücken, Martin? Keine von ihnen hat jemals Extradienste angeboten?«
»Nicht wirklich. Da war ein nettes Mädchen namens Anna, das angeboten hat, den Kühlschrank abzutauen.«
»Okay. Soll ich fahren?«, sagte Jackson, der allein bei der Vorstellung ganz aufgeregt wurde. Martins Wagen war ein unauffälliger Vectra, aber immerhin, es waren vier Räder und ein Motor.
»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, sagte Martin höflich, als würde er Jackson einen Gefallen tun, setzte sich auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Sie fuhren mit ein paar Kängurusprüngen an.
»Gefühlvoll mit der Kupplung, Martin«, murmelte Jackson. Er hatte nicht vorgehabt, es laut zu sagen, niemand mochte einen Fahrer auf dem Rücksitz (oder wie in diesem Fall auf dem Beifahrersitz), wie seine Exfrau ständig betont hatte. Männer hatten auf Erden nichts zu schaffen, Frauen dagegen waren Götter, die unerkannt unter ihnen wandelten.
»Tut mir leid«, sagte Martin und streifte fast einen Fahrradkurier.
Jackson überlegte, ob er Martin das Ruder entreißen sollte, aber wahrscheinlich tat es dem Mann gut, über irgendetwas die Kontrolle zu haben, wie unzureichend auch immer.
»Wohin fahren wir?«, fragte Martin.
»Wir fahren ein Haus kaufen.«