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Die Krankenschwester mit dem freundlichen Lächeln kam zu Martin ins Wartezimmer. Sie setzte sich neben ihn, und einen Moment lang dachte Martin, sie würde ihn davon unterrichten, dass Paul Bradley gestorben war. Müsste er jetzt die Beerdigung arrangieren, da er doch irgendwie für ihn verantwortlich war?

»Es wird noch eine Weile dauern«, sagte sie. »Wir warten, bis der Arzt zurückkommt, dann wird er wahrscheinlich entlassen.«

»Entlassen?« Martin staunte, das Bild Paul Bradleys im Krankenwagen vor sich, Blut aus seinem Kopf auf dem Babydeckenleichentuch, in das er gewickelt war. Er hatte geglaubt, dass der Mann mit dem Tod kämpfte.

»Die Kopfverletzung ist nur oberflächlich, nichts gebrochen. Es gibt keinen Grund, warum er nicht nach Hause kann, solange Sie da sind und ihn für den Rest der Nacht im Auge behalten. Darauf achten wir, wenn jemand bewusstlos war, egal, wie kurz.«

Sie lächelte ihn noch immer an, weswegen er sagte: »Gut, okay. Kein Problem. Danke –«

»Sarah.«

»Sarah. Danke, Sarah.« Sie schien sehr jung und klein, die Verkörperung der Sauberkeit, das blonde Haar zu einem festen Knoten gebunden, wie ihn Ballerinen tragen.

»Er hat gemeint, Sie sind ein Held«, sagte sie.

»Da täuscht er sich.«

Sarah lächelte, aber er war sich nicht sicher, worüber. Sie legte den Kopf schräg, ein Spatz von einem Mädchen. »Sie kommen mir bekannt vor«, sagte sie.

»Wirklich?« Er wusste, dass er ein leicht zu vergessendes Gesicht hatte. Er war eine leicht zu vergessende Person, eine immerwährende Enttäuschung für Fremde, wenn er ihnen in Fleisch und Blut gegenüberstand. »Oh, Sie sind so klein!«, hatte eine Frau nach einer Lesung letztes Jahr erklärt. »Nicht wahr?«, wandte sie sich zwecks Bestätigung an das versammelte Publikum, das ihr gern recht gab, alle nickten und lächelten, als hätte er sich vor ihren Augen gerade in einen Jungen verwandelt. Er war eins fünfundsiebzig groß, nicht gerade ein Zwerg.

Schrieb er wie ein kleiner Mann? Wie schrieben kleine Männer? Auf den Umschlägen seiner Bücher war noch nie ein Foto von ihm gewesen, vermutlich weil seine Verleger nicht glaubten, dass sie sich damit besser verkauften. »O nein«, sagte Melanie, »es macht Sie geheimnisvoller.« Für sein letztes Buch hatten sie es sich anders überlegt und eine berühmte Fotografin geschickt, die versuchen sollte, »Atmosphäre« einzufangen. (»Mach ihn sexy«, lautete ihr genauer Auftrag in einer E-Mail, die versehentlich an Martin weitergeleitet wurde. Zumindest hoffte er, dass es ein Versehen war.)

Die Fotografin schlug Blackford Pond vor mit dem Ziel, triste Schwarzweißaufnahmen unter winterlichen Bäumen zu schießen. »Denken Sie an etwas wirklich Trauriges«, instruierte sie ihn, während Mütter mit kleinen Kindern im Schlepptau, die Enten und Schwäne fütterten, sie mit unverhohlener Neugier beobachteten. Martin konnte nicht auf Befehl traurig sein, Traurigkeit entsprang einem nicht beeinflussbaren visuellen Quell, der allein vom Zufall angezapft wurde – von toten Kätzchen auf Anzeigen des Tierschutzvereins, alten Dokumentaraufnahmen von Brillen- und Kofferhaufen, vom Cellokonzert Nr. 2 von Haydn. Das Rührselige, das Schreckliche und das Erhabene trieben ihm Tränen in die Augen.

»Etwas aus Ihrem Leben«, schmeichelte ihm die Starfotografin. »Wie fühlten Sie sich zum Beispiel, als Sie die Priesterwürde aufgaben, das muss schwer gewesen sein.«

Und Martin, untypisch rebellisch, sagte: »Das mache ich nicht.«

»Zu schwierig für Sie?« Die Fotografin nickte und zog ein gequält mitfühlendes Gesicht.

Auf den Fotos sah er schließlich aus wie ein höflicher Serienmörder aus der Vorstadt, und das Buch wurde wie üblich ohne Foto auf dem Umschlag gedruckt.

»Sie müssen präsenter sein, Martin«, sagte Melanie. »Es ist meine Aufgabe, Ihnen das zu sagen«, fügte sie hinzu. Er runzelte die Stirn und sagte: »Ja?« Das Gegenteil von präsent war absent. Ein leicht zu vergessender Mann mit einem leicht zu vergessenden Namen. In der Welt eher absent als präsent.

»Nein, wirklich«, beharrte Sarah, »ich bin sicher, dass ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe. Was machen Sie?«

»Ich bin Schriftsteller.« Er bereute sofort, es gesagt zu haben. Zum einen klang es immer, als wollte er angeben (und doch war die Tatsache, dass man Schriftsteller war, als solche kein Grund für Hybris). Und das darauf folgende Gespräch nahm den immer gleichen, unvermeidlichen Verlauf und endete in einer Sackgasse. »Wirklich? Sie sind Schriftsteller? Was schreiben Sie?« – »Romane.« – »Was für Romane?« – »Kriminalromane.« – »Wirklich? Woher nehmen Sie Ihre Ideen?« Die letzte Frage empfand Martin als zu ungeheuer, zu neurowissenschaftlich und existenziell, als dass er sich in der Lage gesehen hätte, sie zu beantworten, und trotzdem wurde sie ihm ständig gestellt. »Ach, wissen Sie«, sagte er dieser Tage, »da und dort.« (»Sie denken zu viel nach, Martin«, pflegte sein chinesischer Akupunkteur Ming Chen zu sagen, »aber nicht auf positive Weise.«)

»Wirklich?«, sagte Sarah, und ihre unschuldigen Gesichtszüge kämpften darum, sich vorzustellen, was es hieß, »ein Schriftsteller« zu sein. Aus unerfindlichem Grund hielten es die Leute für einen glamourösen Beruf, aber Martin fand nichts Glamouröses daran, Tag für Tag allein in einem Zimmer zu sitzen und zu versuchen, nicht wahnsinnig zu werden.

»Harmlose Krimis«, sagte er, »nichts zu Böses oder Grusliges. So was wie Miss Marple trifft Dr. Finlay«, fügte er hinzu und war sich bewusst, wie defensiv er klang. Er fragte sich, ob sie von den beiden gehört hatte, wahrscheinlich nicht. »Die Protagonistin heißt Nina Riley«, sah er sich gezwungen fortzufahren. »Sie hat von ihrem Onkel eine Detektei geerbt.« Wie dumm sich das anhörte. Dumm und plump.

Die Polizistinnen von zuvor betraten das Wartezimmer. Bei Martins Anblick rief die eine: »Da sind Sie ja, wir müssen Ihre Aussage aufnehmen. Wir haben Sie schon überall gesucht.«

»Ich war die ganze Zeit hier«, sagte Martin.

»Sie wissen bestimmt nicht, was er für einen Beruf hat«, sagte Sarah zu den Polizistinnen.

Beide Frauen schauten ihn eine Weile ernst an, dann sagte die andere: »Weiß nicht. Ich geb’s auf.«

»Er ist Schriftsteller«, erklärte Sarah triumphierend.

»Wäre ich nie draufgekommen«, sagte die eine.

Die andere schüttelte erstaunt den Kopf. »Bei Schriftstellern frage ich mich immer, woher nehmen sie ihre Ideen?«

 

Martin nahm Paul Bradleys Tasche, die sich anzufühlen begann, als gehörte sie ihm, und machte einen Spaziergang durchs Krankenhaus. Er betrat ein Geschäft und schaute sich die Zeitungen an. Er ging ins Café und trank eine Tasse Tee, bezahlte mit dem Kleingeld in seiner Tasche. Er fragte sich, ob es möglich wäre, im Krankenhaus zu leben, ohne dass es jemand bemerkte. Es gab alles, was man unbedingt brauchte, Essen, Wärme, Toiletten, Betten, Lektüre. Jemand hatte einen Scotsman auf dem Tisch liegen lassen. Er begann lustlos ein Kreuzworträtsel zu lösen. Um die Ecke gedacht. Drei Lichter für eine Lampe. Fünf Buchstaben. Ampel.

Während er den Tee trank, fiel ihm ein Akzent auf – ein Mädchen oder eine Frau –, der durch das Geklapper und die Gespräche im Café bis zu ihm drang. Russisch. Aber als er sich umsah, konnte er ihn keiner Person zuordnen. Eine russische Frau, die unerwartet im Royal Infirmary auftauchte, um ihn zu geißeln, ihn der Gerechtigkeit zuzuführen. Vielleicht hatte er Halluzinationen. Er versuchte sich auf die schwarzen und weißen Quadrate zu konzentrieren. Kreuzworträtsel waren nicht seine Stärke. Jonas in weiblichem Namen. Fünf Buchstaben. Anagramme waren ihm am liebsten. Kleine Umstellungen. Sonja.

Idjot, hörte er das unsichtbare russische Mädchen sagen. In St. Petersburg gab es ein Café namens »Der Idiot«. Er war mit Irina dort gewesen und hatte Borschtsch gegessen, genau in der Farbe des Blazers, den er als Schüler jeden Tag hatte tragen müssen. Für einen Mann, der mit einer unmoralischen, gleichgültigen Welt rang, musste Dostojewski sehr viel Zeit in Cafés verbracht haben, in St. Petersburg beanspruchte ihn jedes zweite als Stammgast. Jack und Arthur fahren in eine Hauptstadt. Sieben Buchstaben. Jakarta. Er nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken.

Es war eine organisierte Reise gewesen, für die sie samstags in den Reisebeilagen der Zeitungen warben: »Erleben Sie das Licht des Nordens – fünftägige Kreuzfahrt vor der Küste Norwegens«, »Die Wunder von Prag«, »Betörendes Bordeaux – Weinproben für den Anfänger«, »Herbst am Comer See«. Es war eine sichere Art zu reisen (eine feige Art), alles organisiert, so dass man nur noch mit dem Pass in der Hand erscheinen musste. Mittelschicht, mittleren Alters, aus Mittelengland. Und natürlich aus Mittelschottland. Sicherheit in der Masse, in der Herde.

Letztes Jahr hieß es »Der Zauber Russlands – fünf Nächte in St. Petersburg«, eine Stadt, die Martin schon immer hatte sehen wollen. Die Stadt von Peter dem Großen, von Dostojewski und Diaghilew, die Stadt, in der Tschaikowsky sein letztes Jahr verbrachte und Nabokov sein erstes. Die Erstürmung des Winterpalastes, Lenins Ankunft im Finnischen Bahnhof, Schostakowitsch, der während der Belagerung seine Siebte Sinfonie im August 1942 live übertragen ließ – kaum vorstellbar, dass es einen so von Geschichte berauschten Ort gab. (Warum hatte er statt Religionswissenschaft nicht Geschichte studiert? In der Geschichte gab es mehr Leidenschaft, in den Handlungen der Menschen mehr spirituelle Wahrheit als im Glauben.) Er dachte, dass er gern einen Roman schreiben würde, der in St. Petersburg spielte, einen richtigen Roman, nicht Nina Riley. Und außerdem hätte Nina in den späten vierziger Jahren wohl kaum nach St. Petersburg reisen können – Leningrad hieß es damals. Vielleicht hätte sie heimlich die Grenze zwischen Schweden und Finnland und der Sowjetunion überschreiten oder in einem kleinen Boot die Ostsee überqueren können (sie war gut im Rudern).

Wie üblich hatte Martin mühelos einen unerwünschten Begleiter erworben – einen Mann, der sich in der Abflughalle wie eine Klette an ihn hängte und ihm anschließend kaum mehr von der Seite wich. Es war ein pensionierter Lebensmittelhändler aus Cirencester, der Martin sofort erzählte, dass er unheilbar an Krebs erkrankt war und dass St. Petersburg auf seiner Liste der »Dinge, die ich tun will, bevor ich sterbe« stand.

Ihr Hotel war als »eines der besten Touristenhotels« angepriesen worden, und Martin fragte sich, ob »Touristenhotel« der russische Ausdruck für einen gesichtslosen Betonblock aus der Sowjetära war, mit endlosen identischen Korridoren und einem miserablen Restaurant. In seinem Führer hatte er vor der Reise Innenaufnahmen vom Astoria und Grand Hotel Europe betrachtet, Hotels, umwittert von Luxus und vorbolschewistischer Dekadenz. In seinem Hotel waren die Zimmer so groß wie Schuhschachteln. Er war allerdings nicht allein in seiner Schuhschachtel. Als er in der ersten Nacht ins Bad ging, trat er fast auf eine Kakerlake, die auf dem Zimmerteppich weidete. Und zudem wurde gebaut, das Hotel schien gleichzeitig abgerissen und rekonstruiert zu werden. Männer und Frauen auf Gerüsten – offenbar völlig ungesichert. Überall eine feine Schicht aus Zementstaub. Sein Zimmer befand sich im siebten Stock, und als Martin am ersten Morgen die Vorhänge aufzog, sah er vor dem Fenster zwei Frauen mittleren Alters auf dem Gerüst, Kopftücher auf dem Kopf, Werkzeug in der Hand.

Das Zimmer wurde erträglich durch die Aussicht – die weite Fläche der Newa, verziert vom Schnörkel des Winterpalastes, eine so ikonenhafte Ansicht wie Venedig, wenn man über die Lagune darauf zufährt. Vom Fenster aus sah er die Aurora, die am Ufer vor Anker lag. »Die Aurora!«, rief er aufgeregt am nächsten Morgen beim Frühstück dem sterbenden Lebensmittelhändler zu. »Von ihr wurde während der Revolution der erste Schuss abgefeuert«, erklärte er, als ihn der sterbende Lebensmittelhändler verständnislos anblickte.

Am ersten Tag besichtigten sie Kirchen und folgten ihrer Reiseleiterin Maria pflichtbewusst durch die Kasaner Kathedrale, die Isaak-Kathedrale, die Christi-Auferstehungs-Kirche und die Peter-und-Pauls-Kathedrale (»In der unsere Zaren begraben sind«, sagte Maria stolz, als ob es den Kommunismus nie gegeben hätte).

»Das muss Ihnen gefallen«, sagte der Lebensmittelhändler zu Martin während einer kurzen Mittagspause an einem Ort, der Martin an eine Schulcafeteria erinnerte, nur dass hier Rauchen erlaubt war. »Weil Sie doch so ein religiöser Mensch sind.«

»Nein«, sagte Martin nicht zum ersten Mal, »Religionslehrer! Das heißt nicht notwendig, dass ich religiös bin.«

»Sie unterrichten also etwas, woran Sie nicht glauben?«, fragte der sterbende Lebensmittelhändler plötzlich richtig streitlustig. Das Sterben machte den Mann selbstgerecht. Oder vielleicht war er es schon immer gewesen.

»Nein, ja, nein«, sagte Martin. Das Gespräch war ihm unangenehm, allein weil er so tat, als wäre er noch Religionslehrer, obwohl er seit sieben Jahren keinen Fuß mehr in eine Schule gesetzt hatte. Er wollte sich nicht als Schriftsteller zu erkennen geben, denn dann wäre er fünf Tage mit den Fragen konfrontiert gewesen, die der Beruf nun einmal provozierte, und der Unmöglichkeit, sich zu verstecken. Einer von ihnen, ein Mann, der während des Flugs auf der anderen Seite des Gangs saß, las Der verwunschene Hirsch, den zweiten Nina-Riley-Krimi. Martin hätte gern – beiläufig – »Gutes Buch?« gesagt, wollte jedoch die Antwort nicht hören, die wahrscheinlich »Ein Haufen Mist« und nicht »Das ist ein phantastisches Buch, Sie sollten es unbedingt lesen!« gelautet hätte.

Martin gab es auf, dem Lebensmittelhändler gegenüber seine nicht vorhandene Religiosität zu beteuern, schließlich bereitete sich der Mann aufs Sterben vor, und womöglich war der Glaube alles, was ihn noch am Leben hielt, der Glaube und das Abhaken der Posten auf seiner Liste. Martin fand es nicht gut, eine Liste zu machen, denn wenn man den letzten Punkt abgehakt hatte, blieb nur noch das Sterben. Aber vielleicht war das der letzte Punkt.

Als sie nach dem Mittagessen in einer Seitenstraße einen Kanal entlanggingen, kamen sie an einem Schild vorbei, einer hölzernen Anzeigentafel auf dem Gehsteig, auf der stand: »St. Petersburger Bräute – treten Sie ein«. Ein paar aus ihrer Gruppe kicherten, und der Lebensmittelhändler, der an Martin klebte, bis er tatsächlich starb, sagte: »Wir wissen alle, was das heißt.«

Martin fühlte sich kurz schuldig. Er hatte im Internet recherchiert. Und überlegt, sich eine Braut zu kaufen (denn, seien wir ehrlich, umsonst bekam er keine). Als der Erfolg einsetzte, hatte er geglaubt, dass er dadurch für Frauen attraktiver würde, dass er sich ein wenig Charisma von seinem interessanteren Alter Ego, Alex Blake, würde leihen können. Aber es hatte sich nichts geändert, ihn umgab offenbar eine Aura der Unberührbarkeit. Er gehörte zu der Kategorie, die am Ende einer Party in der Küche stand und Gläser spülte. »Du wirkst einfach asexuell, Martin«, hatte einmal ein Mädchen zu ihm gesagt in dem Glauben, ihm damit zu helfen.

Hätte es eine Website gegeben, die für »altmodische britische Bräute (aber nicht wie Ihre Mutter)« warb, hätte er sich angemeldet, es gab jedoch keine, und so hatte er sich zuerst die Thai-Bräute angeschaut (»zierlich, sexy, aufmerksam, liebevoll, gefügig«), nur war ihm allein die Vorstellung schon zu schmierig. Ein paar Monate zuvor hatte er bei John Lewis so ein Paar gesehen – ein hässlicher, übergewichtiger Mann mittleren Alters und an seinem Arm dieses schöne winzige Mädchen, das ihn anlächelte und anlachte, als wäre er ein Gott. Die Leute starrten sie an. Wissend. Sie sah so aus wie die Mädchen im Internet – verletzlich und klein, wie ein Kind. Er fühlte sich mies, als hätte er eine pornografische Seite aufgerufen. Er würde lieber sterben, als das tun – er hatte Angst, dass sie überwacht wurden, und wenn er aus Neugier nur kurz einmal »Komm rein« oder »Sexy Fotos« anklickte, stünde im nächsten Moment die Polizei vor seiner Tür, die Polizisten würden sie aufbrechen, hereinstürmen und ihn verhaften. Ebenso peinlich wäre es ihm, wenn er etwas aus dem obersten Regalfach eines Zeitungshändlers kaufen würde. Er wusste (denn auch das gehörte zu seinem Karma), wenn er mit so einem Heft zur Kasse ginge, würde das Mädchen (denn es wäre ein Mädchen) dem Manager zurufen: »Wie viel kostet Große Titten?« Oder wenn er sich etwas mit der Post schicken ließe, würde es just in dem Augenblick aus dem Umschlag fallen, in dem der Briefträger es ihm an der Tür aushändigte – und zweifellos würden genau in dem Moment ein Pfarrer, eine alte Frau und ein kleines Kind vorbeigehen. Die Gute hat was von einer Heiligen und ist führend, auch im Namen einer Krimiautorin. Sechs Buchstaben. Agatha.

Die russischen Bräute im Internet sahen nicht wie Kinder aus und auch nicht besonders gefügig. Die Ludmillas und Swetlanas und Lenas sahen wie Frauen aus, die wussten, was sie taten (sich verkaufen, seien wir ehrlich). Sie verfügten über eine erstaunliche Bandbreite an Eigenschaften und Talenten, sie mochten »Disco« ebenso wie »klassische Musik«, sie gingen gern in Museen und Parks, sie lasen Zeitungen und Romane, sie hielten sich fit und sprachen fließend mehrere Sprachen, sie arbeiteten als Steuerberaterinnen und Betriebswirtinnen, sie waren »ernsthaft«, »liebenswürdig«, »zielbewusst« und »elegant«, sie wollten einen »anständigen Mann«, »freundliche Gespräche« und »Romantik«. Es war kaum zu glauben, dass diese prägnanten Lebensläufe zu lebenden, atmenden Frauen gehörten, aber da waren sie – sie trieben nicht im virtuellen Raum, sondern die Ludmillas, Swetlanas und Lenas oder ihre Äquivalente befanden sich hinter einer großen Holztür in den (etwas angsteinflößenden) Straßen von St. Petersburg. Bei dieser Vorstellung begann er innerlich vor Schreck zu zittern. Er erkannte das Gefühl: Es war nicht Verlangen, es war Versuchung. Er konnte haben, was er wollte, er konnte sich eine Ehefrau kaufen. Selbstverständlich glaubte er nicht, dass sie sich tatsächlich in dem Gebäude aufhielten, eingesperrt hinter den abblätternden Mauern. Aber sie waren in der Nähe. In der Stadt. Und warteten.

Martin hatte eine Idealfrau. Nicht Nina Riley, nicht eine gekaufte Braut, der es um ökonomische Sicherheit oder einen Pass ging, nein, seine Idealfrau stammte aus der Vergangenheit – eine altmodische Frau aus den Home Counties, eine junge Witwe, die ihren Mann, einen Kampfpiloten, in der Schlacht um Großbritannien verloren hatte und jetzt tapfer weiterkämpfte und ihr Kind allein aufzog. Papa ist gestorben, Schatz, er sah gut aus und war tapfer und kämpfte um sein Leben, damit er bei dir bleiben konnte, aber er musste uns verlassen. Das Kind, ein ziemlich ernster Junge namens Peter oder David, trug Fair-Isle-Pullover über grauen Hemden. Er hatte Brillantine im Haar und aufgeschürfte Knie und tat nichts lieber, als am Abend mit Martin Flugzeuge zu basteln. (So eines ist doch Papa geflogen, oder?) Martin machte es nichts aus, nur die zweite Stelle hinter dem Spitfire-Piloten (»Roly« oder »Jim«) einzunehmen, einem Mann, der den blauen, blauen Himmel über England wie eine Schwalbe durchschnitten hatte. Martin wusste, die Frau war ihm dankbar, weil er die Scherben ihres zerbrochenen Lebens gekittet hatte, und würde ihn nie verlassen.

Gelegentlich hieß sie Martha, ganz selten Abigail (im imaginären Leben waren Identitäten nicht unwandelbar), aber meist blieb sie namenlos. Ihr einen Namen zu geben hieß, dass sie zu einer Realität wurde. Wenn sie zu einer Realität wurde, wurde sie unmöglich.

Am besten war es, Frauen in der Phantasie einzusperren. Wenn sie in das chaotische Durcheinander der wirklichen Welt entkamen, wurden sie unstet, unfreundlich, letztlich furchterregend. Sie sorgten für Zwischenfälle. Plötzlich fühlte er sich unwohl. Sich plötzlich übergeben ist hierbei verboten. Sie machen sich sonst strafbar. Zehn Buchstaben.