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Wir müssen gehen, Gloria«, sagte Tatiana.

Die Maschinen zischten und pumpten, Graham schwebte noch immer durch den Weltraum. Gloria beugte sich vor und küsste Graham auf die Stirn. Es konnte ein Segen oder ein Fluch oder beides sein, weil die Synthese, die die Wirklichkeit war, alles umfasste. Schwarz und weiß, gut und böse. Sein Fleisch war bereits wie Lehm.

Welches waren die wahren Verbrechen? Kapitalismus, Religion, Sex? Mord – normaler-, aber nicht notwendigerweise. Diebstahl – dito. Aber Grausamkeit und Gleichgültigkeit waren auch Verbrechen. Ebenso schlechte Manieren und Unempfindlichkeit. Am schlimmsten war Gleichgültigkeit.

Nicht lange nach ihrer Hochzeit fuhren Gloria und Graham an einem Sonntag zum Mittagessen zu seinen Eltern, Beryl und Jock. Eine magere gebratene Ente, wie sich Gloria erinnerte, aufgewogen durch einen mächtigen Pflaumenkuchen. Es erstaunte Gloria immer wieder, dass sie sich kaum erinnern konnte, was am vergangenen Freitag passiert war, aber noch in allen Einzelheiten wusste, was es vierzig Jahre zuvor zu essen gegeben hatte.

Aus irgendeinem Grund war der Wagen an diesem Tag in der Werkstatt (Graham hatte einen Triumph Herald mit in die Ehe gebracht), deswegen hatte Grahams Vater sie in das bescheidene Hatter-Haus (das alte Pencaitland-Modell, lange aufgegeben) zurückgefahren, das Jock und Beryl ihnen zur Hochzeit geschenkt hatten. Es war als »Einsteigerhaus« bekannt gewesen. Niemand verkaufte »Aussteigerhäuser«, oder?

Unterwegs machten sie einen Umweg über »den Hof«, weil Vater und Sohn dort irgendetwas längst Vergessenes zu erledigen hatten. Damals war Hatter-Häuser ein kleines Bauunternehmen mit einem wackligen Büro irgendwo in der Ecke. Gloria stieg aus. Sie war nie zuvor hier oder im Büro gewesen und nahm an, dass sie sich dafür interessieren sollte, da sie jetzt auch eine Hatter war. Selbstverständlich hätte sie nie ihren Mädchenamen, Lewis, aufgeben sollen. Jetzt, da sie eine geächtete Witwe war, wäre ein guter Zeitpunkt, ihn wieder anzunehmen. Die Leute wechselten ständig ihre Identität, ihr Großvater hatte seinen Namen in Lewis umgewandelt, nachdem er aus Polen in Leeds eingetroffen war mit einem Koffer aus Pappe und einem Familiennamen, den niemand aussprechen konnte.

Die zwei Männer gingen ins Büro, und Gloria schlenderte über den Hof mit seinen geheimnisvollen Paletten und Säcken. Sie hatte keine Ahnung, wie man ein Haus baute. Sie fragte sich, was mit der menschlichen Rasse passiert wäre, wenn sie, Gloria, das Sagen gehabt hätte, als der Mensch zum ersten Mal mit Flint auf Flint schlug und ein Werkzeug erschuf. Sie hätte nie etwas so Kompliziertes wie ein Regal fabrizieren können, alles würde wahrscheinlich in Hängematten und Säcken aufbewahrt. Sie war eine Sammlerin, Graham war ein Schraubenzieher schwingender Jäger. Er ging hinaus und baute Dinge, sie blieb zu Hause und zog auf. Das war einen Monat nach ihrer Hochzeit, als der Funke in ihrer Verbindung noch sprühte und Gloria noch begeistert zuammenpassende Teller und Mopps kaufte.

In diesem Augenblick hörte Gloria einen leisen miauenden Laut, der – Freude über Freude – aus einem Nest Kätzchen drang. Blind und maulwurfsgleich lagen sie zusammengerollt bei ihrer Mutter hinter einem Holzstoß.

Hatter junior und senior kamen aus dem Büro, ihr neuer Schwiegervater grüßte sie mit: »Du hast also die verdammten Katzen gefunden, Gloria?« Gloria, die bereits den mit Lammfell ausgelegten Korb für mindestens zwei, wenn nicht gar alle Kätzchen plante, ein Hatter-Haus im Hatter-Haus, sagte: »Oh, sie sind so niedlich, Mr. Hatter.« Gloria zog die Zehen ein, so süß waren sie. Sie schaffte es nicht, ihn vertraulich »Jock« zu nennen, und so blieb es auch die drei Jahre, die sie seine Schwiegertochter war, bevor er einen massiven Herzinfarkt hatte, der ihn auf einer Baustelle umwarf; er fiel in einem Rohbau aus Betonbausteinen in den Dreck, die Männer versammelten sich um ihn und starrten erstaunt auf seinen Körper. Der Titan hatte das Gebäude verlassen. Der Olympier stand derweil in der unfertigen Küche und überlegte, ob er ungestraft ein kleineres Fenster als vorgesehen einbauen konnte.

»Graham«, sagte Jock Hatter, »hol die verfluchten Viecher.«

»Klar«, sagte Graham, hob die fünf weichen, warmen Kätzchen auf und warf sie mit einer einzigen mühelosen Bewegung in den Wassereimer neben dem Büro. Gloria war so überrascht, dass sie einen schrecklichen Augenblick lang nur zusah, stumm und reglos, als stünde sie unter einem Bann. Dann schrie sie und wollte zu Graham laufen, um die Kätzchen zu retten, aber Jock hielt sie zurück. Er war ein kleiner Mann, doch erstaunlich kräftig, und sosehr sie sich auch wand und wehrte, sie entkam seinem Griff nicht. »Muss gemacht werden, Mädchen«, sagte er leise, als sie schließlich aufgab. »So ist die Welt.« Graham holte die fünf schlaffen Leichen aus dem Eimer und warf sie in ein altes Ölfass, das als Abfalltonne diente.

»Scheißkatzen«, sagte er, als sie später in der Kochnische ihres Einsteigerhauses hysterisch wurde. »Du musst dir abgewöhnen, so verdammt empfindlich zu sein, Gloria. Es sind bloß verdammte Tiere.«

 

Ermordet. Das Wort klang seltsam aus Tatianas Mund. Es grollte wie Donner, es spaltete den Himmel. Gloria fragte sich, ob der gespaltene Himmel in Teile zerbrechen und ihr auf den Kopf fallen würde. Ihr Bauch fühlte sich heiß und flüssig an, und ihr Herz schlug schneller, als gesund war für eine Frau kurz vor der Seniorenkarte. Tatianas Freundin war ermordet worden. Lena. Eine gute Person.

Gloria wusste, was Tatiana sagen würde. Und das Schlimmste war, dass sie es glaubte, bevor der Name ausgesprochen war. Deswegen sagte sie ihn. »Graham«, sagte sie tonlos.

»Ja«, sagte Tatiana. »Graham. Er ist sehr böser Mann. Er sagt Terry, dass er sie umbringen soll. Dasselbe, als ob er selbst sie umbringt. Kein Unterschied.«

»Nein«, pflichtete Gloria ihr bei. »Kein Unterschied. Überhaupt kein Unterschied.«

»Lena will zur Polizei gehen, alles sagen, was sie weiß.«

»Was wusste sie? Über die Betrugsgeschichten?«

Tatiana lachte. »Betrug ist nichts, Gloria. Viel schlimmere Sachen als Betrug. Graham macht Geschäfte mit sehr, sehr bösen Männern. Sie wollen nicht wissen, Gloria, sonst kommen Männer zu Ihnen. Wir müssen jetzt wirklich gehen.«

Gloria neigte sich über ihren Mann und flüsterte ihm ins Ohr: »Schaut auf meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt!«

 

Sie waren vom Tatort eines Mordes geflüchtet, waren tatsächlich auf der Flucht. Gloria brach Regeln, wenn auch nicht ihre eigenen. Sie hatte den Plastiksack mit dem Geld und den Memorystick geholt, aber ansonsten machten sie sich nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen, vom Acker. Tatiana hatte telefoniert, und ein großer schwarzer Wagen war vor der Hintertür vorgefahren, und sie stiegen ein. Wenn Gloria sich nicht irrte, war es derselbe Wagen, der Tatiana nach Grahams Herzinfarkt vor dem Krankenhaus abgeholt hatte. Der Chauffeur sagte während der ganzen Fahrt kein Wort, und Gloria fragte nicht, wem der schwarze Wagen gehörte. Große schwarze Autos mit schwarzen Fenstern gehörten in der Regel bösen Menschen. Bösen Menschen wie Graham.

Sie fuhren Richtung Süden, zum Flughafen, doch Gloria bat um einen »kleinen Umweg«.

»Warum?«, fragte Tatiana.

»Geschäfte«, sagte Gloria, als der Fahrer stumm ihrer Anweisung folgte und von der Hauptstraße in eine Siedlung abbog. »Ein kleines, noch nicht zu Ende gebrachtes Geschäft.«

»Glencrest Way«, sagte Tatiana, die das Straßenschild las. Auf Glencrest Way folgte Glencrest Close, Glencrest Avenue, Glencrest Road, Glencrest Gardens und Glencrest Wynd. Tatiana las alle diese Namen laut vor, wie ein exotischer Ersatz für das Navigationssystem des schwarzen Wagens, das in der verblüffenden Komplexität des Straßensystems den Dienst verweigerte. Über der Siedlung lag der Nebel von Grahams Anwesenheit, die Wolke des Wissens, und schirmte sie ab.

»Die Glencrest-Siedlung«, sagte Gloria überflüssigerweise, als der schwarze Wagen hielt. »Reelle Häuser für reelle Menschen. Gebaut auf einer alten Kohlengrube.« Sie nahm den schwarzen Müllsack, der dreiundsiebzigtausendfünfhundert Pfund in Zwanzig-Pfund-Scheinen enthielt.

Tatiana lehnte am Wagen und rauchte, während Gloria den schwarzen Plastiksack von Haus zu Haus schleppte und Geldbündel auf die Türschwellen legte. Nicht genug für alle, aber das Leben war eine Lotterie.

»Ist Tragödie«, sagte Tatiana und schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückte Person, Gloria.«

Sie stiegen wieder in den schwarzen Wagen und fuhren davon. Die Geldbündel waren nicht zusammengebunden, und der Abendwind ergriff sie und wehte die Scheine herum wie riesige Flocken Asche. Im Rückspiegel sah Gloria, wie jemand aus einem schäbigen Hatter-Haus – Modell Braecroft – trat und verwundert das durch die Luft flatternde Geld betrachtete.

Gefürchtet von den Bösen, geliebt von den Guten. Sie waren Banditenköniginnen, sie waren Räubermädchen. Sie waren Gesetzlose.