Siebenunddreißig
Als ich den Palast erreichte, drängten sich vor den Toren die Kutschen. Der Magistrat der Stadt, der Bischof, das Domkapitel, die Zunftmeister, die Königliche Garde – alle Menschen, die irgendwie wichtig waren in der Stadt, wollten als Erste hinein. Drinnen spülte mich die Menschenmenge in den Großen Saal. Es waren mehr Besucher als hineinpassten, die Hälfte wurde wieder nach draußen in den gepflasterten Burghof geschickt.
Die Beratungen hatten anscheinend nicht lange gedauert. Gleich würde die offizielle Verlautbarung verkündet werden.
Ein Balkon auf halber Höhe des Saals wurde zu beiden Seiten hin geöffnet, sowohl auf die Große Halle zu als auch in den Schlosshof, sodass man jemanden, wenn er denn laut genug sprach, drinnen wie draußen verstehen konnte. Glisselda erschien auf dem Balkon und winkte der jubelnden Menge zu. Sie trat auf als Stellvertreterin ihrer Großmutter – aus Trauer um ihre Mutter war sie ganz in Weiß gekleidet, das goldene Haar leuchtete wie eine Krone –, aber jeder, der sie an diesem Tag sah, wusste, dass die künftige Königin vor ihm stand. Alle im Saal verstummten ehrfürchtig.
Sie reichte einem besonders stimmgewaltigen Herold ein zusammengefaltetes Blatt und er verkündete laut über die tuschelnden Zuhörer hinweg:
Generäle von Tanamoot,
Goredd erkennt die Rechtmäßigkeit Eurer Herrschaftsansprüche über das Land der Drachen nicht an. Ardmagar Comonot ist noch am Leben, und belanglose Drohungen werden uns nicht bewegen, ihn auszuliefern oder Euren Beschuldigungen Glauben zu schenken. Er ist unser bewährter Freund und Verbündeter, Begründer und Verteidiger des Friedens und der rechtmäßige Herrscher von Tanamoot.
Wenn Ihr Krieg wollt, dann seid gewarnt. Wir sind nicht so wehrlos, wie Ihr törichterweise meint. Und auch Euer eigenes Volk wird nicht blindlings für Euch Partei ergreifen, denn es wünscht sich, dass unsere beiden Arten weiterhin zusammenleben. Dieser Frieden ist ein wahrer Segen für die Welt, er hat sie zum Besseren gewandelt. Ihr könnt das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.
Daher hegen wir die inständige Hoffnung, diesen Streit mit Worten beilegen zu können.
Ihre Hoheit, Prinzessin Glisselda, Erste Thronerbin von Goredd, im Namen Ihrer Majestät, Königin Lavonda der Großartigen.
Wir klatschten schweren Herzens Beifall, denn wir wussten nur zu gut, dass dieser Brief für die Generäle Anlass genug sein würde, einen Krieg anzuzetteln. Ein Kampf stand bevor, ob wir wollten oder nicht. Ich sah aber auch grinsende Gesichter in der Menge, denn manche unter uns hätten ihn in der Tat herbeigesehnt.
Es dauerte endlos lange, bis sich die Menschenmenge verlaufen hatte, jeder wollte die Gelegenheit ergreifen, die Ankündigung zu diskutieren. Die Palastwachen lenkten die Menschen, so gut sie konnten, nur Kiggs war nirgendwo zu sehen. Er war doch sonst immer da, wo der Trubel am dicksten war.
Prinzessin Glisselda hatte es ebenfalls vorgezogen, sich zurückzuziehen. Vermutlich war Kiggs bei ihr. Außerhalb des königlichen Wohnflügels gab es zwei Orte, an denen ich nach ihnen suchen konnte. Ich hatte gerade den Fuß auf die große Freitreppe gesetzt, als jemand mich von hinten ansprach. »Sag mir, dass es nicht wahr ist, Serafina. Sag mir, dass es alles Lügen sind, die man sich über dich erzählt.«
Ich drehte mich um. Graf von Apsig kam durch die Vorhalle auf mich zu, die Schritte seiner Stiefel hallten auf dem Marmorboden. Ich brauchte nicht erst zu fragen, was er damit meinte. Die Vertreter von Ninys und Samsam hatten die Nachricht bereits bis in die hintersten Winkel des Hofes verbreitet. Ich stützte mich leicht auf das Geländer und holte tief Luft. »Es ist keine Lüge«, sagte ich. »Ich bin ein Drache – wie Lars auch.«
Apsig zuckte weder zurück noch stürzte er sich auf mich – wie ich es halb befürchtet hatte. Er sah mich fassungslos an, ließ sich auf die weiten Steintreppen fallen und stützte den Kopf in die Hände. Einen Moment lang überlegte ich tatsächlich, ob ich mich neben ihn setzen sollte, so niedergeschlagen sah er aus. Aber er war und blieb unberechenbar.
»Was sollen wir jetzt tun?« Er warf die Hände in die Luft und blickte mich aus rot geränderten Augen an. »Sie haben gewonnen. Es gibt nichts mehr, was ausschließlich den Menschen vorbehalten ist; in diesem Konflikt gibt es keine klaren Fronten mehr. Sie sickern überall ein, beherrschen alles! Ich habe mich den Söhnen von Sankt Ogdo angeschlossen, weil sie die Einzigen zu sein schienen, die gewillt waren, etwas zu unternehmen, die Einzigen, die dem Vertrag nicht blind Folge leisteten und ihn als das bezeichneten, was er ist: unser Untergang.«
Er raufte sich die Haare, als wollte er sie mit den Wurzeln ausreißen. »Aber wer hat mich mit den Söhnen bekannt gemacht und mich gedrängt, ihnen beizutreten? Dieser Drache, Lady Corongi.«
»Sie sind nicht alle darauf aus, uns zu vernichten«, sagte ich sanft.
»Nein? Und was ist mit der Kreatur, die deinen Vater überlistet hat? Oder dem Ungeheuer, das meine Mutter betrogen hat und schuld daran ist, dass sie einen Bastard zur Welt brachte?«
Ich schnappte nach Luft. Er warf mir einen finsteren Blick zu und sagte: »Meine Mutter hat Lars genauso aufgezogen wie mich, wie einen ebenbürtigen Bruder. Eines Tages wuchsen ihm Schuppen aus der Haut. Damals war er sieben. Er zeigte sie uns, rollte ganz unschuldig seinen Ärmel hoch …« Seine Stimme versagte, er fing an zu husten. »Mein Vater hat ihr mitten in den Hals gestochen. Das war sein gutes Recht. Sie hatte seine Ehre verletzt. Und Lars hätte er vielleicht auch getötet.«
Er schwieg und starrte vor sich hin, als widerstrebte es ihm, sich weiter zu erinnern. »Aber Ihr habt es nicht zugelassen«, fragte ich nach. »Ihr habt ihn besänftigt.«
Er sah mich an, als hätte ich Mootya geredet. »Besänftigt? Nein. Ich habe den alten Mann getötet. Ich habe ihn vom Rundturm gestoßen.«
Als er mein Entsetzen sah, lächelte er zynisch. »Wir leben im abgelegensten Winkel des Hochlands. So etwas passiert dort jeden Tag. Als ich an den Hof von Blystane ging, habe ich den Namen meiner Urgroßmutter angenommen, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Die Familienverhältnisse der Hochländer sind kompliziert; kein Samsamese an der Küste kommt da noch mit.«
Das also war des Rätsels Lösung. Er war kein Drache, sondern ein Vatermörder, der seinen Namen geändert hatte. »Und was ist mit Lars?«
»Ich habe ihn in den Bergen ausgesetzt und erklärt, dass ich ihn töten würde, falls er mir noch einmal unter die Augen käme. Ich hatte all die Jahre keine Ahnung, wo er sich aufhielt, bis er hier aufgetaucht ist wie ein Rachegeist, der mich verfolgt.«
Er sah mich verächtlich an; er hasste mich dafür, dass ich nun so vieles wusste, obgleich er es mir selbst erzählt hatte. Ich räusperte mich. »Was werdet Ihr jetzt tun?«
Er stand auf, zog sein schwarzes Wams zurecht und verbeugte sich spöttisch. »Ich kehre nach Samsam zurück. Ich werde dem Herrscher die Augen öffnen.«
Sein Ton war so kalt, dass es mir eisig über den Rücken lief. »In welcher Beziehung?«, fragte ich bang.
»In der einzig möglichen. Dass die Menschen über den Tieren stehen.«
Nach diesen Worten stolzierte er davon. Mit ihm schien auch die ganze Luft zum Atmen zu weichen.
Ich fand Glisselda in Millies Zimmer vor; sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und weinte. Millie, die die Schultern der Prinzessin streichelte, blickte erschrocken auf, weil ich, ohne anzuklopfen, eingetreten war. »Die Prinzessin ist müde«, sagte sie und wollte mir den Weg versperren.
»Lass es gut sein.« Glisselda trocknete sich das Gesicht. Ihr Haar fiel offen auf die Schultern und ihre verweinten blauen Augen ließen sie noch jünger aussehen. Sie versuchte zu lächeln. »Ich freue mich immer, wenn ich dich sehe, Fina.«
Mein Herz krampfte sich zusammen bei diesem Abbild des Jammers. Sie hatte gerade erst ihre Mutter verloren und die Bürde eines ganzen Königreichs lag auf ihren Schultern. Und ich hatte mich als schlechte Freundin erwiesen. Ich konnte sie nicht nach Kiggs fragen, weiß der Himmel, wieso ich überhaupt auf diese Idee gekommen war.
»Wie geht es Euch?«, fragte ich und setzte mich ihr gegenüber.
Sie sah auf ihre Hände. »Ganz gut, wenn ich in der Öffentlichkeit bin. Ich habe mir nur gerade etwas Zeit gegönnt, um … um Tochter sein zu dürfen. Wir müssen heute Nacht mit Sankt Eustach die Totenwache halten, da ruhen die Augen der ganzen Welt auf uns. Daher haben wir beschlossen, eine stille, würdige Trauer an den Tag zu legen. Das heißt, dass wir uns jetzt die Zeit nehmen müssen, um wie ein kleines Kind zu weinen.«
Ich dachte zuerst, sie spräche von sich in der Mehrzahl, wie es ihr als Königliche Hoheit auch zustand, aber dann sagte sie: »Du hättest uns sehen sollen, wie wir nach der Ratsversammlung diesen Brief aufgesetzt haben. Mir war zum Weinen, und Lucian versuchte, mich zu trösten, was wiederum ihn zum Weinen brachte, woraufhin ich umso mehr schluchzen musste. Ich habe ihn in seinen Trotzturm geschickt, damit er dort seinen Gefühlen freien Lauf lassen kann.«
»Er hat Glück, dass Ihr Euch so um ihn sorgt«, sagte ich und meinte es auch so, ganz gleich wie zerrissen ich mich innerlich dabei fühlte.
»Das Gegenteil ist wahr«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber die Sonne geht bald unter, und er ist noch immer nicht zurückgekommen.« Ihr Gesicht verzog sich, und sofort eilte Millie zu ihr und legte ihr den Arm um die Schulter. »Würdest du ihn holen, Fina? Ich wäre dir sehr dankbar.«
Ausgerechnet jetzt, zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, ließ mich meine Lügenkunst im Stich. Zu viele widerstrebende Gefühle stürmten auf mich ein. Wenn ich ihr nun aus eigennützigen Gründen einen Gefallen erwies, war das schlimmer als tugendhaft, aber schroff zu sein? Gab es denn keinen Ausweg, ohne Schuld auf mich laden zu müssen?
Glisselda bemerkte mein Zögern. »Ich weiß, er ist übel gelaunt, seit er erfahren hat, dass du ein Halbdrache bist«, sagte sie und beugte sich zu mir. »Du verstehst doch sicher, dass es ihm schwerfällt, sich an diese Vorstellung zu gewöhnen.«
»An meiner Wertschätzung für ihn ändert das nichts«, sagte ich.
»Ebenso wenig wie an meiner Wertschätzung für dich«, sagte Glisselda tapfer. Sie erhob sich, und auch ich stand auf, in der Annahme, das Gespräch sei beendet. Sie streckte die Arme aus, zauderte, ließ sie wieder sinken – doch dann riss sie sich zusammen und umarmte mich. Ich drückte sie an mich und ließ meinen Tränen freien Lauf, wobei ich selbst nicht so genau wusste, ob aus Erleichterung oder Bedauern.
Sie ließ mich los und warf den Kopf in den Nacken. »Es war gar nicht so schwer, mich damit abzufinden«, sagte sie entschlossen. »Reine Willenssache.«
Ihre Worte kamen etwas zu prompt, aber ich erkannte die gute Absicht dahinter und glaubte uneingeschränkt an ihren eisernen Willen. Sie sagte: »Ich werde Lucian schelten, falls er sich dir gegenüber jemals unhöflich betragen sollte, Serafina! Lass es mich wissen!«
Ich nickte und mein Herz brach ein wenig. Dann machte ich mich auf den Weg zum Ostturm.
Anfangs war ich gar nicht sicher, ob er überhaupt da war. Die Tür zum Turm war nicht verschlossen, deshalb konnte ich ungehindert die Stufen hinaufsteigen. Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich das Turmzimmer betrat. Es war leer. Nun ja, nicht ganz – es war vollgestopft mit Büchern, Schreibfedern, Pergamenten, Gesteinsproben und Fernrohren, alten Schatullen und Zeichnungen. So wie die Königin hatte auch der Prinz sein eigenes Studierzimmer; es war entzückend unordentlich und alles war in Gebrauch. Ich hatte gar nicht auf die Umgebung geachtet, als wir mit Lady Corongi hier oben gewesen waren. Was ich sah, ließ ihn mir noch liebenswürdiger erscheinen, und das stimmte mich traurig.
Der Wind fuhr mir mit eiskaltem Finger über den Rücken. Die Tür zur Balustrade stand einen Spaltweit offen. Ich holte tief Luft, unterdrückte meine Höhenangst und öffnete die Tür.
Er stand an die Brüstung gelehnt und blickte auf die Stadt, über der gerade die Sonne unterging. Der Wind spielte in seinem Haar, der Saum des Mantels tanzte in der Brise. Zögernd trat ich näher, suchte mir einen Weg zwischen den Eispfützen und zog meinen Umhang enger, um mich zu wärmen und mir Mut zu machen.
Er wandte sich mir zu, der Blick seiner dunklen Augen war unbeteiligt, wenn auch nicht unfreundlich. Ich brachte stotternd meine Botschaft vor: »Glisselda hat mich hergeschickt, um Euch auszurichten, dass man mit Sankt Eustach Totenwache für ihre Mutter halten wird, sobald die Sonne versunken ist, und sie, ähm …«
»Ich habe es nicht vergessen.« Er blickte weg. »Die Sonne ist noch nicht untergegangen, Serafina. Würdest du ein Weilchen bei mir bleiben?«
Ich trat zur Brüstung und sah zu, wie die Schatten in den Bergen immer länger wurden. Mit welchem Entschluss auch immer ich hierhergekommen war, er verging wie die Sonne. Und vielleicht war das auch gut so. Kiggs würde wieder zu seiner Cousine gehen und ich würde in den Süden reisen und mich auf die Suche nach meinen Artgenossen machen. Alles würde so sein, wie es sein sollte, wenigstens oberflächlich betrachtet, und alle meine ungehörigen und unpassenden Gedanken wären dort verstaut, wo sie niemand fände.
Bei allen Knochen der Heiligen, ich wollte so nicht länger leben.
»Ich habe alles gesagt …«, fing ich an. Meine Worte wurden zu Kristallen in der eisigen Luft.
»Wirklich alles?«, fragte er. Sein Ton war nicht so scharf wie damals beim Verhör, aber ich wusste trotzdem, wie viel von meiner Antwort abhing.
»Alles, was wichtig ist, ja«, sagte ich fest. »Vielleicht nicht alle merkwürdigen Einzelheiten. Fragt mich, und ich werde antworten. Was wollt Ihr wissen?«
»Alles.« Er stand an die Brüstung gelehnt, aber jetzt richtete er sich auf und packte mit beiden Händen fest das Geländer. »So habe ich es immer gehalten: Wenn es etwas zu wissen gibt, dann will ich es auch wissen.«
Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, also redete ich einfach drauflos. Ich erzählte ihm, wie ich unter der Last der Visionen beinahe zusammengebrochen wäre und deshalb den Garten angelegt hatte, und von den Erinnerungen meiner Mutter, die um mich herum fielen wie Schneeflocken. Ich erzählte ihm, wie ich erkannt hatte, dass Orma ein Drache war, wie die Schuppen aus meiner Haut gewachsen waren und wie man sich fühlt, wenn man sich abstoßend findet, und wie das Lügen eine immer unerträglichere Last wird.
Es tat mir gut zu reden. Die Worte sprudelten mit solcher Macht hervor, dass ich mir vorkam wie ein übervoller Krug, den man ausschüttet. Danach ging es mir besser, und diesmal empfand ich die innere Leere als Erleichterung, als etwas, das sich zu bewahren lohnte.
Ich betrachtete Kiggs. Seine Augen waren noch nicht müde geworden, aber ich war plötzlich verlegen, ob meines langen Monologs. »Ich habe sicher manches vergessen, aber es gibt Dinge, die ich selbst noch nicht recht begreife.«
»Die Welt in mir ist größer und vielgestaltiger als dieses dürftige, weite Feld, bewohnt nur von Galaxien und Göttern«, zitierte er. »Langsam verstehe ich, weshalb du Necans liebst.«
Ich sah ihn an, in seinem Blick lag Wärme und Mitleid. Er hatte mir vergeben. Nein, besser: Er hatte mich verstanden. Der Wind pfiff um uns herum und spielte mit seinen Haaren. Ich nahm meinen Mut zusammen und sagte stockend: »Da ist noch etwas Wichtiges, dass Ihr … dass du wissen sollst. Ich … ich liebe dich.«
Er sah mich an und sagte kein Wort.
»Es tut mir leid.« Jetzt verließ mich auch der letzte Rest Mut. »Alles, was ich mache, ist falsch. Verzeiht mir. Ihr seid in Trauer, Glisselda braucht Euch, und gerade erst habt Ihr erfahren, dass ich ein halbes Ungeheuer bin –«
»An dir ist gar nichts ungeheuer«, widersprach er heftig.
Ich brauchte einen Augenblick, um meine Stimme wiederzufinden. »Ich wollte, dass Ihr das wisst. Ich möchte von hier mit reinem Gewissen weggehen, weil ich Euch endlich die Wahrheit gesagt habe. Ich hoffe, das zählt etwas in Euren Augen.«
Er blickte zum Himmel, der sich langsam rötete, und sagte mit einem selbstironischen Lachen: »Du beschämst mich, Serafina. Dein Mut hat mich immer beschämt.«
»Das ist kein Mut, das ist Dickköpfigkeit und Starrsinn.«
Er schüttelte den Kopf, sein Blick war ins Leere gerichtet. »Ich erkenne Mut, wenn ich ihn sehe und wenn ich ihn an mir vermisse.«
»Ihr seid zu streng mit Euch selbst.«
»Ich bin ein Bastard, und das machen alle Bastarde so«, sagte er und lächelte bitter. »Du weißt am besten, welche Last es ist, wenn man stets beweisen muss, dass man eine Daseinsberechtigung hat, man jenen tiefen Kummer, den die eigene Mutter verschuldet hat, wert ist. Im Wörterbuch der Herzen sind Bastarde das Gleiche wie Ungeheuer; deshalb hattest du auch immer ein so tiefes Verständnis für mich.« Er rieb sich die kalten Hände. »Willst du dir noch eine Geschichte voller Selbstmitleid über traurige Bastardkinder anhören?«
»Ich würde sie gerne anhören, ich habe sie wahrscheinlich sogar selbst mal durchlebt.«
»Nicht diese Geschichte«, sagte er und zupfte ein Stück Moos vom Geländer. »Als meine Eltern ertranken und ich zum ersten Mal hierherkam, war ich sehr zornig. Ich spielte absichtlich den Bastard, ich benahm mich so schlecht, wie man sich als kleiner Junge nur benehmen kann. Ich log, ich stahl, ich suchte Streit mit den Pagen, ich brachte meine Großmutter in Verlegenheit, wann immer ich konnte. So benahm ich mich jahrelang, bis sie Onkel Rufus holte –«
»Möge er am Herzen aller Heiligen ruhen«, sagten wir gleichzeitig und Kiggs lächelte betrübt.
»Sie holte ihn aus Samsam, denn sie dachte, er hätte eine starke Hand, mit der er mich im Zaum halten könnte. Das konnte er auch, doch es dauerte Monate, bis es so weit war. In mir war eine Leere, die ich nicht verstand. Er erkannte sie und gab ihr einen Namen. ›Du bist wie dein Onkel, Junge‹, sagte er. ›Wir fühlen uns nicht wohl auf der Welt, wenn wir keine richtige Aufgabe haben. Die Heiligen wollen, dass man eine Bestimmung hat. Bete, gehe mit offenem Herzen durch die Welt, dann wirst du den Ruf hören. Deine Aufgabe wird vor dir erstrahlen wie ein Stern.‹ Also betete ich zu Sankt Clare, aber ich ging noch einen Schritt weiter: Ich gab ihr ein Versprechen. Wenn sie mir meinen Weg zeigte, würde ich von diesem Tage an nichts anderes als die Wahrheit sagen.«
»Sankt Masha und Sankt Daan!«, platzte ich heraus. »Das erklärt so manches.«
Er lächelte leicht. »Sankt Clare hat mich gerettet und mir zugleich die Hände gebunden. Aber ich greife zu weit voraus. Einige Zeit später ging Onkel Rufus als Vertreter des Königshauses auf eine Hochzeit. Ich begleitete ihn. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich die Mauern der Burg verlassen durfte, und ich wollte mich dieses Vertrauens würdig erweisen.«
»Die Hochzeit meines Vaters, auf der ich gesungen habe«, sagte ich rau. »Ihr habt mir davon erzählt. Ich erinnere mich vage daran, Euch und Euren Onkel gesehen zu haben.«
»Es war ein wunderschönes Lied«, schwärmte er. »Ich habe es nie vergessen. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn es jemand singt.«
Ich betrachtete seine Umrisse, die sich vor dem rostroten Himmel abzeichneten, und war sprachlos, dass ausgerechnet das Lied meiner Mutter ihn so tief berührte. Es pries den verliebten Leichtsinn und beinhaltete alles, dem er abgeschworen hatte. Ich konnte nicht an mich halten. Ich fing an zu singen und er stimmte ein:
Wohl dem, der ohne heißes Sehnen, Geliebte,
Unter deinem Fenster geht,
Nicht seufzt, nicht fleht.
Verloren hab ich Herz und Seel’,
Schau herab zu mir, mein Juwel,
Ein flüchtger Blick, ein Lächeln nur,
Und mein Herz schwingt gleich in Dur.
Erweise diesen Großmut mir.
Nimm mein Leben, ich schenk es dir,
Ich kämpfe, fechte in jedem Turnier
Nur für einen Kuss von dir.
»Ihr … singt nicht schlecht. Ihr könntet im Palastchor mitmachen«, lobte ich ihn. Ich musste etwas Unverfängliches sagen, um nicht loszuweinen.
Meine Mutter hatte genauso kompromisslos gehandelt wie seine, aber sie hatte fest daran geglaubt, hatte alles, was sie besaß, dafür gegeben.
Was, wenn unsere Mütter gar nicht die Närrinen waren, für die wir sie gehalten hatten? Was war Liebe wirklich wert? Hunderttausend Kriege?
Er stützte sich mit den Händen auf die Balustrade und lächelte. »Du hast gesungen. Und die Schönheit deiner Musik hat mich erfüllt, getröstet und erkennen lassen: meiner Mutter Weg war nicht nur verwerflich. Was sie trieb, war die Liebe, und die kann Verderben bringen. Aber sie war zumindest ehrlich und ich beschloss, es ihr in dieser Sache gleichzutun. Ich spürte, dass ich dazu bestimmt war, die Wahrheit hinter den Dingen ans Licht zu bringen, so wie mich die Schönheit die Wahrheit hatte erkennen lassen, das war meine Berufung. Ich fiel auf die Knie, dankte Sankt Clare und schwor, mein Gelübde nie zu brechen.«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Schönheit und Wahrheit habt Ihr in meinem Gesang gesehen? Der Himmel hat einen wahrhaft entsetzlichen Humor.«
»Für mich hast du in diesem Moment genau das verkörpert. Aber mit dem Himmel hast du recht, denn wie sonst hätte ich in die jetzige verzwickte Lage geraten können? Ich habe ein Versprechen gegeben und es gehalten, so gut ich konnte, obwohl ich mich zugleich selbst belogen habe – möge Sankt Clare mir vergeben. Ich hatte gehofft, genau diese Falle vermeiden zu können, gefangen zwischen meinen Gefühlen auf der einen Seite und dem Wissen, dass ich jemanden, der mir sehr am Herzen liegt, verletze, wenn ich die Wahrheit laut ausspreche.«
Ich wagte kaum darüber nachzudenken, welche Wahrheit er meinte. Ich hoffte und fürchtete, dass er es mir gleich sagen würde.
Seine Stimme war dunkel vor lauter Kummer. »Ich habe immer nur an dich gedacht. Jetzt mache ich mir selbst Vorwürfe. Hätte ich Tante Dionne davon abhalten können, in Comonots Suite zu gehen, wenn ich nicht mit dir getanzt hätte? Ich war so begierig darauf, dir das Buch zu schenken. Wenn Dame Okra nicht gewesen wäre, hätten wir vielleicht nie bemerkt, dass Comonot den Ball verlassen hatte.«
»Vielleicht hättet Ihr beide aufhalten können, aber dann wärt ihr auf den Turm hinaufgegangen und hättet mit Lady Corongi auf das neue Jahr angestoßen«, wandte ich ein. »In diesem Fall wärt Ihr jetzt tot.«
Verzweifelt hob er die Hände. »Ich habe mich mein ganzes Leben lang bemüht, der Vernunft den Vorrang vor dem Gefühl zu geben und nicht so unüberlegt und verantwortungslos zu sein wie meine Mutter!«
»Ach ja, Eure Mutter und ihre abscheulichen Verbrechen gegen Eure Familie!«, rief ich, denn er machte mich wütend. »Wenn ich Eure Mutter im Himmel träfe, wisst Ihr, was ich machen würde? Sie auf den Mund küssen! Und dann würde ich sie mit an den Fuß der Himmelstreppe nehmen und auf Euch hier unten zeigen und sagen: Schau, was du angerichtet hast, du Teufel!«
Er wirkte entsetzt, aber auch ein wenig verblüfft.
Ich konnte nicht an mich halten und sagte: »Was hat sich Sankt Clare nur dabei gedacht, ausgerechnet mich als ihr unwürdiges Instrument auszuwählen? Sie hätte doch wissen müssen, dass mein Leben genau das Gegenteil von Wahrheit verkörpert.«
»Fina, nein«, bat Kiggs.
Zuerst dachte ich, er wollte mich tadeln, weil ich Sankt Clare verunglimpft hatte. Er hob die Hand, verharrte einen Augenblick, dann legte er sie auf meine. Sie war warm und bei der zarten Berührung verschlug es mir den Atem. »Sankt Clare hat sich nicht geirrt«, sagte er sanft. »Ich habe in dir immer die Wahrheit gesehen, egal welche Ausflüchte du vorgebracht hast, selbst dann, als du mir ins Gesicht gelogen hast. Ich habe dein wahres Herz gesehen, klar wie die Sonne, und ich habe erkannt, wie außerordentlich es ist.«
Er nahm meine Hand in seine. »Es hat meiner Liebe zu dir keinen Abbruch getan, als du gelogen hast. Und erst recht nicht, als du die Wahrheit gesagt hast.«
Ich sah unwillkürlich auf meine Hand, es war die linke. Er spürte mein Unbehagen, und mit einer raschen, aber zärtlichen Bewegung streifte er meinen Ärmel zurück – alle vier Ärmel –, sodass mein Unterarm der kalten Luft, der untergehenden Sonne, den aufziehenden Sternen ausgesetzt war. Er strich mit dem Daumen über das silberne Schuppenband. Als er den Schorf sah, zog er besorgt die Brauen zusammen, und dann, mit einem kühnen Seitenblick, neigte er den Kopf und küsste die Schuppen auf meinem Handgelenk.
Ich konnte kaum atmen, so überwältigt war ich. Sonst spürte ich kaum etwas durch die Schuppen hindurch, aber diesen Kuss spürte ich bis in die Zehenspitzen.
Er streifte respektvoll meine Ärmel zurück, hielt meine Hand zwischen seinen und wärmte sie. »Als du hier heraufgekommen bist, habe ich gerade an dich gedacht. Ich habe nachgedacht und gebetet und bin zu keinem Ergebnis gekommen. Ich war schon beinahe entschlossen, dass unsere Liebe unausgesprochen bleibt. Lassen wir dieses Jahr verstreichen, lassen wir Glisselda ihre Rolle als Königin finden. Der Himmel möge den Tag kommen lassen, an dem ich ihr dies sagen kann, ohne dass wir alle im Chaos versinken. Vielleicht entlässt sie mich aus meinem Versprechen, vielleicht auch nicht. Vielleicht muss ich sie in jedem Fall heiraten, denn sie braucht einen Ehemann und ich bin die erste Wahl. Kannst du damit leben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Aber du hast recht, sie braucht dich.«
»Sie braucht uns beide«, sagte er. »Wir dürfen uns nicht so sehr mit uns selbst beschäftigen, dass wir in diesem Krieg nicht unserer Pflicht nachkommen können.«
Ich nickte. »Die Notlage geht vor, die Liebe muss warten. Aber ihre Zeit wird kommen, Kiggs. Ich glaube fest daran.«
Er runzelte ärgerlich die Stirn. »Ich hasse es, ihr das verheimlichen zu müssen, das ist Betrug. Kleine Lügen sind genauso schlimm wie große, aber wenn wir unser Beisammensein völlig beschränken würden, bis –«
»Völlig?«, fragte ich. »Keine Gespräche über die Philosophen aus Porphyrien? Und keine lustigen Geschichten vom Leben als Bastard?«
Er lächelte. Ach, meinetwegen könnte dieses Lächeln ewig dauern. Ich würde es am liebsten aussäen und ernten wie Weizen.
»Du weißt, was ich meine«, sagte er.
»Du meinst, du wirst meinen Arm nicht mehr küssen«, sagte ich. »Aber das macht nichts, weil ich dich küssen werde.«
Und das tat ich dann auch.
Wenn ich mir einen Augenblick für immer aufheben könnte, dann diesen.
Ich war wie die Luft selbst, ich war voller Sterne. Ich war der weite Raum zwischen den Türmen der Kathedrale, der feierliche Atem der Kamine, das Gebet, in den Winterwind geflüstert. Ich war die Stille und ich war die Musik, ein klarer, wohlklingender Akkord, der zum Himmel aufsteigt. Ich wäre wohl leibhaftig in den Himmel geschwebt, wenn nicht seine Hand auf meinem Haar und seine vollen schönen Lippen mich auf der Erde gehalten hätten.
Das war der wahre Himmel! Ja, es war nichts als die Wahrheit und nicht einmal Sankt Clare hätte widersprechen können.
Dann war es vorbei, er hielt meine Hände zwischen seinen und sagte: »In einer Ballade aus Porphyrien würden wir jetzt beide gemeinsam durchbrennen.«
Ich suchte seine Augen, weil ich wissen wollte, ob er mir damit einen Vorschlag machte. Sein entschlossener Blick sagte Nein, aber ich erkannte auch, dass es nur eines Anstoßes bedurft hätte, um seinen Entschluss ins Wanken zu bringen. Nichts wäre leichter gewesen als das, aber ich spürte, dass ich es nicht wollte.
Der Kiggs, den ich liebte, hätte sich nicht so hässlich benehmen und trotzdem mein Kiggs bleiben können. Mit seinem Entschluss würde noch etwas anderes in ihm ins Wanken geraten und für immer zerbrechen, und dafür würde es keine Heilung geben. Diese scharfe Bruchstelle würde ihn sein Leben lang schmerzen.
Wenn wir unseren Weg gemeinsam fortsetzen wollten, dann durften wir nicht unüberlegt, nicht sorglos handeln, sondern so, wie ein Kiggs und eine Fina eben waren und lebten. Nur so konnte es gut gehen.
»Ich glaube, ich kenne diese Ballade«, sagte ich. »Sie ist schön, aber sie endet traurig.«
Er schloss die Augen und drückte seine Stirn an meine. »Ist es etwa weniger traurig, wenn ich dich darum bitte, mich nicht mehr zu küssen?«
»Ja. Denn es ist ja nur einstweilen. Die Zeit wird kommen.«
»Ich möchte das gerne glauben.«
»Dann tu es auch.«
Er holte bebend Luft. »Ich muss gehen.«
»Ich weiß.«
Ich ließ ihm den Vortritt; bei den Feierlichkeiten des heutigen Abends wäre meine Anwesenheit unangebracht gewesen. Ich lehnte mich an die Brüstung, schaute meinen Atemwölkchen nach, die sich grau vor dem immer schwärzer werdenden Himmel abhoben, wie bei einem Drachen, der sein Feuer in den Wind bläst. Bei dieser Vorstellung musste ich lächeln – und dann hatte ich eine Idee. Vorsichtig, um nicht auf dem Eis auszurutschen, zog ich mich auf die Brüstung. Sie hatte einen breiten Umlauf, auf dem man bequem sitzen konnte. Aber ich wollte mich nicht setzen. So lächerlich langsam wie Comonot, als er sich in der Kathedrale versteckt hatte, zog ich die Füße aufs Geländer. Dann schlüpfte ich aus meinen Schuhen, denn ich wollte den Stein unter meinen Füßen fühlen. Ich wollte alles fühlen.
Ich richtete mich auf, stand da wie Lars auf den Zinnen, die dunkle Stadt lag zu meinen Füßen. In den Tavernenfenstern funkelten Lichter und warfen einen Schein auf die Pfeiler der Wolfstoot-Brücke. Ich dachte daran, wie ich kopfüber vom Turm gehangen war, hilflos der Gnade eines Drachen ausgeliefert. Damals hatte ich Angst, dass die Wahrheit auszusprechen wie ein Sturz in die Tiefe sein würde, dass Liebe sich anfühlen würde, wie wenn ich auf dem Boden zerschellte. Doch nun stand ich hier, mit beiden Beinen fest auf dem Untergrund und ganz aus eigener Kraft.
Wir alle waren Ungeheuer und Bastarde, und wir alle waren schön.
Heute hatte ich meinen Teil an Schönheit gehabt. Morgen würde ich etwas davon zurückgeben, um damit die Welt zu bereichern. Ich würde beim Begräbnis von Prinzessin Dionne spielen, ich hatte mich diesmal selbst aufs Programm gesetzt, denn ich musste die Öffentlichkeit nicht länger meiden. Jetzt durfte ich geben, was ich konnte.
Der Wind ließ meine Röcke wehen. Lachend reckte ich die Arme zum Himmel, spreizte die Finger und stellte mir vor, dass meine Hand ein Stern wäre. Übermütig warf ich meine Schuhe weit in die Nacht hinaus und rief: »Zerreißt die Finsternis, zerreißt die Stille!« Die Schuhe fielen immer schneller, sausten mit etwa zehn Metern pro Quadratsekunde in die Tiefe und landeten irgendwo auf dem gepflasterten Innenhof. Zeyd hatte unrecht, wenn sie glaubte, dass wir unausweichlich unserem schrecklichen Ende entgegentaumelten. Die Zukunft würde Krieg und Ungewissheit bringen, aber ich würde ihr nicht alleine entgegentreten müssen. Ich hatte Liebe und eine Aufgabe, Freunde und Familie. Ich hatte einen Platz, wo ich hingehörte.
ENDE