Dreiunddreißig
Oh, da bist du ja, Lucian«, zwitscherte Glisselda, die mit dem Gesicht zur Tür gewandt dastand.
»Nein!«, schrie Kiggs und sprang mit einem Satz quer durch den Raum auf seine Großmutter zu, die als Einzige ihr Glas schon an die Lippen gesetzt hatte.
»Ich dachte, von hier aus hätte man einen schönen Blick auf den Sonnenaufgang«, plapperte Glisselda weiter, die nicht sofort begriff, was vor sich ging. Erst als Kiggs ihr das Glas aus der Hand riss, fragte sie ihn verdattert: »Was ist los?«
»Irgendjemand hat deine Mutter vergiftet. Mit Wein. Und auch in diesem könnte Gift sein, vermutlich ist es der gleiche. Euer Glas bitte, Lady Corongi«, befahl Kiggs. Lady Corongi sah ihn empört an, gab ihm jedoch das Glas.
»Ich hoffe, du irrst dich«, sagte die Königin und sank auf einen Stuhl. Halt suchend stützte sie sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen, das mit Büchern und Landkarten bepackt war. »Ich habe leider schon einen Schluck getrunken, ehe du hereingeplatzt bist.«
»Wir müssen Hoheit unverzüglich zu einem Arzt bringen«, sagte Dame Okra in einem so entschiedenen Ton, dass niemand zu widersprechen wagte. Sie half der Königin aufzustehen und führte sie zur Treppe.
»Dr. Ficus ist beim Ardmagar«, rief Kiggs ihnen hinterher, »aber Dr. Johns müsste –«
»Ich weiß, ich weiß!«, kam die barsche Antwort auf halber Treppe.
»Selda, du hast hoffentlich keinen Tropfen getrunken?«, fragte Kiggs seine Cousine.
Glisselda hatte sich gegen ein Bücherregal gelehnt, sie sah aus, als wäre ihr schwindlig, aber sie beruhigte ihn sofort: »Nein. Du bist gerade rechtzeitig gekommen. Aber was ist mit Euch, Lady Corongi?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Egal welches Gift im Wein sein mochte, es war nichts gegen das Gift in den Blicken, die sie Graf von Apsig zuwarf.
Josef war kreidebleich geworden. Er gab Kiggs die Flasche und hob entschuldigend die Hände. »Bitte«, sagte er fast flehentlich, »ich versichere Euch, der Augenschein trügt –«
»Ihr habt Euch selbst ja gar nichts eingeschenkt, Graf Josef«, sagte Kiggs beiläufig und stellte die Flasche auf den Arbeitstisch. »Ihr seid nicht zufällig ein Saar, oder?«
»Ich bin ein Samsamese!«, stieß Josef hervor. »Wir beteiligen uns nicht an teuflischen …« Er verstummte und starrte Lady Corongi an. »Darauf wart Ihr also aus … Was genau war Euer Plan, Hexe? Die Königin und die Prinzessin trinken, Ihr tut so, als würdet Ihr ebenfalls trinken, und wenn die Giftwirkung einsetzt, wartet Ihr einfach ab, bis ich losrenne, um Hilfe zu holen, und dann? Dann stehlt Ihr Euch heimlich davon und ich soll den Sündenbock für Eure Verbrechen spielen?«
»Willst du etwa diese vornehme Dame beschuldigen, du Ungeheuer?«, schrie Glisselda und legte der zierlichen Frau beschützend den Arm um die Schultern. »Sie war fast mein ganzes Leben lang meine Lehrerin!«
Josef schien sich nicht mehr in der Gewalt zu haben. Das Weiße in seinen Augen trat hervor, und seine Lippen bewegten sich stumm, als löste er gerade in Gedanken eine Rechenaufgabe. Verzweifelt raufte er sich mit beiden Händen sein blondes Haar. »Prinz«, stieß er hervor, »ich kann nichts vorbringen, was Euch überzeugen könnte. Mein Wort steht gegen ihres.«
»Ihr habt meiner Tante eine Flasche mit vergiftetem Wein gegeben«, sagte Kiggs. Aus seinem Zorn war eisige Kälte geworden.
»Ich schwöre Euch, das war nie meine Absicht. Ich habe lediglich ein Geschenk von ihrer lieben Freundin Lady Corongi überbracht, es gab keinen Grund, misstrauisch zu sein.« Er fuchtelte herum, suchte fieberhaft nach Argumenten, die seine Unschuld bewiesen. »Ihr könnt nicht mit Sicherheit sagen, dass dieser Wein vergiftet ist, Ihr nehmt es nur an. Vielleicht ist es nur falscher Alarm?«
»Ich weiß, dass Ihr in der Kathedrale wart an dem Tag, an dem man auf Serafina eingestochen hat«, sagte Kiggs und ordnete geistesabwesend die Sachen auf dem Schreibtisch neu.
»Und ich habe gesehen, wie Ihr mit Thomas Broadwick gesprochen habt«, fügte ich hinzu und verschränkte die Arme vor der Brust.
Josef schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe eine Botschaft überbracht für die Söhne von Sankt Ogdo. Sie war verschlüsselt. Ich hatte keine Ahnung, was sie bedeutet.«
»Lügner!«, rief ich.
»Fragt sie!«, flehte er und zeigte auf Lady Corongi. »Sie hat mich mit den Söhnen bekannt gemacht. Sie trägt ihnen heimlich die neuesten Nachrichten aus dem Palast zu. Sie ist schuld an meinem Elend!«
»Unsinn!«, schnaubte Lady Corongi und starrte auf seinen Zeigefinger, als beleidigte er sie mehr als alles, was der Graf gesagt hatte. »Prinz, ich wundere mich, weshalb Ihr diese erbärmliche Kreatur nicht schon längst an Händen und Füßen gefesselt habt.«
Josef machte den Mund auf, um zu antworten, aber genau in dem Moment hörte man ein entsetzliches Geräusch – sssluu-sssluu-sssluuuu! – irgendwo ganz dicht bei Kiggs. Prinzessin Glisselda sprang auf einen Stuhl und schrie: »Bei den Beinen von Sankt Polypous, was ist das?« Josef zog seinen Dolch und blickte wild um sich.
Nur Lady Corongi verharrte an ihrem Platz. Mit großen Augen hörte sie zu, während die Stimme lispelte: Ichch durchchchaue dichch, du Schchwindlerin!
Ich sah Kiggs fragend an. Er nickte und öffnete die Hand, die er hinter dem Rücken gehalten hatte. Zum Vorschein kam mein Eidechsenfigürchen.
Er fragte: »Wen nennt es eine Schwindlerin, Lady?«
Mit einem Zittern erwachte Lady Corongi aus ihrer Erstarrung. Sie sah mich mit ihren grimmigen blauen Augen nur kurz an, aber in dieser flüchtigen Ewigkeit erkannte ich ihr wahres Wesen. In diesem endlosen Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Lady Corongi stürzte sich auf Glisselda, die immer noch auf dem Stuhl stand. Glisselda schrie, fiel vornüber, sodass Lady Corongi sie sich schnappen konnte. Die sonst so vornehme Dame drehte sich blitzschnell um und rannte mit der Prinzessin über der Schulter die Treppe hinunter.
Das Entsetzen lähmte uns einen Herzschlag zu lang. Kiggs kam als Erster wieder zur Besinnung, er packte meinen Arm und zog mich hinter sich her, um sie zu verfolgen. Josef rief uns etwas nach, ich wusste nicht, galt es uns oder Lady Corongi. Am Fuß der Treppe angelangt blickte Kiggs nach rechts und ich nach links. Da sah ich gerade noch den Saum von Lady Corongis Kleid hinter einer Ecke verschwinden. Wir nahmen die Verfolgung auf und suchten dabei nach jedem Hinweis: eine offene Tür, der Duft ihres Parfums, ein Vorhang, den ein nicht vorhandener Windzug rascheln ließ – bis wir zu einem Schrank gelangten, der von der Wand abgerückt worden war und so den Zugang zu den geheimen Tunneln offenlegte.
Kiggs blieb stehen und sagte: »Das war ein Fehler, Lady.« Er kehrte um und rannte den Weg zurück; drei Türen weiter befand sich ein Raum, in dem sich Wachen aufhielten. Er riss die Tür auf, rief den Männern etwas zu und gab kurze Handzeichen. Die Wachen strömten heraus und verteilten sich sofort in alle Richtungen. Kiggs kam zu mir. Neben dem verschobenen Schrank wartete bereits ein Soldat. Er salutierte und reichte uns eine Laterne.
»Was habt Ihr ihnen befohlen?«, fragte ich.
Er wiederholte im Laufen die Handzeichen und erklärte hastig, was sie zu bedeuten hatten: »Allen weitersagen. Alle Männer in Bereitschaft. Verschließt die unteren Tunnel. Sagt in der Stadtgarnison Bescheid und …« Er blickte mir in die Augen. »Drachen.«
Es war eine beeindruckende Abfolge von Befehlen. Beklommen fragte ich: »Werden sie mit uns hinuntergehen?«
»Sie kommen bald nach. Es wird ein bisschen dauern, bis alle auf ihrem Posten sind. Es gibt ja sieben Eingänge zu den Tunneln.«
»Und was ist mit dem Ausfalltor?«
Er gab keine Antwort, sondern rannte weiter. Natürlich würden die Palastwachen das Ausfalltor nicht rechtzeitig erreichen, deshalb hatte er die Soldaten in der Stadt benachrichtigt, aber auch die würden zu spät kommen. Bei dem Gedanken daran verließ mich der Mut. Glisselda war vielleicht schon tot, ehe einer von uns sie erreichte.
Aber ich hatte meine eigenen Soldaten, die ich um mich scharen konnte. Ich griff nach der Kette an meinem Hals, schaltete Ormas Ohrring ein und betete im Stillen, dass Orma mich hören konnte, dass er nicht schon viel zu weit weg war und noch rechtzeitig bei uns eintreffen könnte. Dann schickte ich meine Gedanken nach Abdo aus. Seine Antwort kam prompt.
Wo bist du? Wir machen uns allmählich Sorgen!
Schlimme Dinge geschehen. Du und Lars, ihr beide müsst so schnell ihr könnt zum nordwestlichen Schlossberg laufen. Bei dem Ausfalltor könnte in Kürze ein feindlicher Drache erscheinen, um von hier zu fliehen.
Vielleicht handelte es sich auch um eine sehr starke und entsetzlich schnelle alte Frau. Das war noch nicht sicher.
Wie gelangen wir über die Schlossmauer?
Bei Sankt Mashas Stein. Es wird schon irgendeinen Weg geben. Ich konnte nur hoffen, dass das stimmte.
Und was sollen wir zwei gegen einen feindlichen Drachen ausrichten?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich gerade in einem Tunnel bin und die Verfolgung aufgenommen habe, und wenn du und Lars zum Tor kommen, dann sind wir schon doppelt so viele Leute wie jetzt. Wir müssen den Drachen nicht töten, nur aufhalten, bis mein Onkel eintrifft.
Ich zog mich zurück, denn ich ahnte, dass er wieder protestieren würde, und ich musste mich konzentrieren, damit ich auf dem holprigen Weg nicht hinfiel.
Wir gingen durch die drei Türen, die nicht mehr verschlossen waren und weit offen standen – ein Beweis, dass Lady Corongi genau diesen Weg eingeschlagen hatte. Als wir bei der Höhle angekommen waren, die die Natur in den Berg gehauen hatte, zog Kiggs sein Schwert. Er musterte mich von Kopf bis Fuß. »Wir hätten dir eine Waffe beschaffen sollen!« Sein Blick war dunkel vor Sorge. »Ich möchte, dass du umkehrst.«
»Seid nicht albern.«
»Fina, ich weiß nicht, was ich tue, wenn dir etwas zustößt! Bitte, geh zurück!« Er baute sich vor mir auf, um mir den Weg zu versperren.
»Hört auf damit!«, schrie ich. »Ihr vergeudet nur Zeit.«
Der Kummer legte sich wie ein Schleier über sein Gesicht. Kiggs nickte kurz und wandte sich unserer eigentlichen Aufgabe zu. Wir rannten weiter.
Am Ausgang der Höhle war niemand zu sehen. Über den Boden verstreut lagen Frauenkleider wie eine abgestreifte Haut. Kiggs und ich blickten uns an; wir dachten beide an das zusammengelegte Kleid, das wir hier gefunden hatten. Es war so naheliegend gewesen und doch hatten wir nichts begriffen.
Glisselda hatte offensichtlich mit »Lady Corongi« gekämpft, während diese sich auszog, also bestand ein wenig Hoffnung, dass der Drache noch nicht fliegen konnte. Wir rannten durch den Höhlenausgang hinaus auf das rutschige, schneebedeckte Gras und suchten nach den beiden. Ein gellender Schrei war zu hören. Glisselda. Wir drehten uns um. Direkt über dem Höhleneingang, kaum mehr als ein Schatten vor dem heraufziehenden Morgenrot, stand ein kräftiger, nackter Mann, der Glisselda über seine Schulter geworfen hatte.
All die Jahre, fast so lange wie Glisselda lebte, hatte er sich am Hof aufgehalten, verkleidet als alte Frau. Getränkt in Parfüm, andere Saar meidend, hatte er sich bei Prinzessin Dionne eingeschlichen und war so geduldig gewesen, wie es nur Reptilien sein können.
Bei all meinen Begegnungen mit Saarantrai hatte ich noch nie zuvor gesehen, wie sich ein Saarantras von seiner Menschengestalt in einen Drachen verwandelte. Der nackte Mann richtete sich auf, streckte und reckte sich. Es sah seltsam natürlich aus, wie er das machte, seine menschlichen Glieder entsprachen Drachengliedmaßen, seine Schultern wurden zu Flügeln, seine Wirbelsäule verlängerte sich und mündete in einen Schwanz, sein Gesicht zog sich in die Länge, auf seiner Haut sprossen Schuppen. Das alles gelang ihm, ohne Glisselda loszulassen. Als die Verwandlung vollendet war, hielt er sie fest zwischen den Krallen seiner Vorderfüße.
Wenn wir schlau gewesen wären, hätten wir uns auf ihn gestürzt, solange er sich noch verwandelte, aber wir standen starr da, viel zu überwältigt von dem, was sich da vor unseren Augen vollzog.
Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: Es war Imlann.
Nur noch wenige Minuten lang würde er nicht fliegen können. Ein Saar, der sich gerade erst in einen Drachen verwandelt hatte, war verletzlich und schwach, so wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon geschlüpft war. Seine Kiefer mahlten, er konnte schon Feuer spucken. Ich zog Kiggs in die Höhle zurück, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Feuerball vor dem Eingang einschlug und eine Wolke aus glühenden Steinen und Schwefel aufstob. Imlann brachte noch keine richtig große Flamme zustande, aber wenn er sich in die Höhle hinunterbeugte, dann brauchte er das gar nicht, zumal Kiggs sich stur weigerte zurückzuweichen.
Wie lange würden Lars und Abdo brauchen, um hierherzukommen? Und Orma, wenn er denn überhaupt käme. Es gab nur eine Möglichkeit. Ich drehte mich um und ging zum Höhlenausgang.
»Bist du wahnsinnig?«, schrie Kiggs und hielt mich am Arm fest.
Ich war tatsächlich wahnsinnig. Ich drehte mich um und küsste ihn, direkt auf den Mund, denn vielleicht war es das Letzte, was ich jemals tun würde, dabei liebte ich ihn doch so sehr und es machte mich so unendlich traurig, dass er das niemals erfahren würde. Der Kuss verblüffte ihn derart, dass er mich losließ. Ich rannte hinaus in den Schnee und stieg ein Stück den Abhang hinauf.
»Imlann!« Ich hüpfte und winkte wie närrisch mit den Armen. »Nimm mich mit!«
Das Ungetüm warf den Kopf zurück und schrie: »Du bist kein Drache. Das haben wir in der Waschküche ja herausgefunden. Was, beim Flammenstoß, bist du?«
Das war es. Ich musste sein Interesse derart wecken, dass er mich nicht sofort tötete. Es gab nur eines, womit ich dies erreichen konnte. »Ich bin deine Enkelin!«
»Unmöglich.«
»Doch, das ist möglich! Linn hat einen Menschen geheiratet, er heißt Clau–«
»Sprich seinen Namen nicht aus. Bis zu meinem Tode möchte ich ihn nicht hören. Er ist ein namenloses Etwas, das Gegenteil von Ard.«
»Und doch hat deine namenlose Tochter ihrem namenlosen Ehemann eine Tochter geboren.«
»Aber Orma hat etwas anderes berichtet …«
»Orma hat gelogen.«
»Ich sollte dich umbringen.«
»Du tätest besser daran, mich mitzunehmen. Ich könnte dir in den bevorstehenden Kämpfen von Nutzen sein.« Ich breitete die Arme aus und stellte mich in Positur, mein dunkelrotes Kleid sah auf dem verschneiten Berghang wie eine klaffende Wunde aus. »Als Halbblut habe ich beeindruckende Fähigkeiten, wie sie weder Drachen noch Menschen haben. Ich kann mit meinen Gedanken andere meiner Art erreichen, ja ich kann sie sogar aus der Ferne lenken und leiten. Ich habe Visionen und Erinnerungen von meiner Mutter. Wie, glaubst du denn, hätte ich sonst gewusst, wer du bist?«
Imlann blähte die Nüstern, aber es blieb unklar, ob er skeptisch oder fasziniert war. Unten in der Höhle bewegte sich Kiggs, er brachte sich langsam und geräuschlos in eine Position, aus der heraus er angreifen konnte.
»Ich weiß alles über deine Anschlagspläne«, sagte ich, denn ich spürte, wie wichtig es war, weiterzureden. »Ich weiß, dass während wir sprechen, zu Hause eine Verschwörung im Gange ist.«
Imlann stellte alarmiert die Stacheln auf. Hatte ich richtig geraten? Trotzig redete ich weiter. »Du hast den Ardmagar und die halbe königliche Familie getötet. Es wird unweigerlich zum Krieg kommen. Aber Goredd ist noch nicht so geschwächt, dass du einfach hereinspazieren könntest. Du wirst meine Hilfe brauchen.«
Imlann schnaubte, Rauch kräuselte sich aus seinen Nüstern. »Lügnerin. Du hast mich schon einmal getäuscht. Deine Prahlerei war etwas vorschnell. Selbst wenn ich an deine Kräfte glauben würde, deine Treue gehört dem Prinzchen in der Höhle. Was nützen dir deine ›beeindruckenden Fähigkeiten‹, wenn ich mich zu ihm hinabbeuge und ihn röste? Ich kann schon wieder eine ganz passable Flamme hervorbringen.«
Ich machte den Mund auf – und plötzlich ertönte ein Dröhnen, als ob die Welt unterginge.
Das Geräusch kam nicht von mir, obschon ich lächerlich lange brauchte, um das zu begreifen. Lars hatte sich links der Höhle herangeschlichen und damit begonnen, seinen großen Dudelsack zu blasen. Er brüllte und grölte und kreischte musikalische Zumutungen in den Morgenhimmel. Imlann wandte ruckartig den Kopf in seine Richtung. Im selben Moment sprang von der anderen Seite eine kleine Gestalt heran, schwang sich auf den Hals des Drachen und klammerte sich mit Armen und Beinen an die bei einem frisch verwandelten Drachen besonders verletzliche Kehle. Imlann schleuderte den Kopf herum, aber Abdo hielt ihn unerbittlich in seinem Griff – fest genug, um Imlann am Feuerspucken zu hindern.
»Kiggs! Jetzt!«, rief ich, aber er war schon zur Stelle und stach auf die Klaue ein, mit der Imlann Glisselda festhielt. Der Drache stieß einen gurgelnden Laut aus und zog seinen Fuß zurück. Im selben Moment war ich bei Kiggs. Gemeinsam zerrten wir Glisselda zur Seite. Ich half der schluchzenden Prinzessin, zum Höhleneingang hinunterzuklettern, während Kiggs, der nicht einfach den Rückzug antreten wollte, nun auch den anderen Fuß des Drachen traktierte. Imlann versetzte ihm einen Stoß, Kiggs schlitterte den Hang hinunter bis vor die Höhle und fiel so hart auf den Rücken, dass ihm die Luft wegblieb. Glisselda rannte zu ihm.
Ein heißer, schwefeliger Wind umwehte uns. Als ich aufblickte, sah ich, wie Imlann sich vom Berghang aus in die Luft schwang; Abdo hing immer noch an seinem Hals. Ich schrie auf und fühlte mich schrecklich machtlos. Abdo durfte nicht loslassen, während der Drache flog. Der Sturz würde ihn töten. Imlann kam gemächlich in weitem Bogen wieder auf uns zu. Wenn seine Haut jetzt schon so gefestigt war, dass er fliegen konnte, dann war sie auch zu hart, als dass Abdo ihm noch den Hals zudrücken und ihn am Feuerspucken hindern konnte. Er kam, um uns in Asche zu verwandeln.
»Zurück!«, schrie ich Glisselda und Kiggs an. »Schnell in die Höhle!«
»Deine Lügen haben uns gerettet!«, keuchte Kiggs, noch ganz benommen von dem Sturz.
Meine Lügen. Ja. »Beeilt Euch!«, drängte ich.
Ein lautes Kreischen war zu hören und etwas Riesiges verdunkelte den Himmel über uns. Ich blickte hoch und sah Orma, der sich auf Imlann stürzte. Vor lauter Erleichterung brach ich in Tränen aus.