Prolog
Ich erinnere mich an meine Geburt.
Ich erinnere mich sogar an die Zeit davor. Es war dunkel, aber um mich herum war Musik: das Pling-Pling der Gelenke, das Schu-Schu des Blutes, das Poch-Poch des Herzens lullte mich ein, begleitet vom Gluck-Gluck des Magens. Die Klänge umhüllten mich und ich war geborgen.
Dann brach die Welt auf und ich wurde in eine kalte und stille Helligkeit gedrängt.
Ich wollte diese Leere mit meinen Schreien füllen, doch sie erstreckte sich zu weit. Ich wehrte mich, aber es gab kein Zurück mehr.
Sonst weiß ich von nichts; ich war ein Baby, wenn auch ein besonderes.
Blut und Panik waren mir einerlei. Weder erinnere ich mich an die entsetzte Hebamme noch an meinen weinenden Vater und ebenso wenig an den Priester, der für die Seele meiner Mutter betete.
Meine Mutter hinterließ mir ein kompliziertes und beschwerliches Erbe. Aber die entsetzlichen Einzelheiten verbarg mein Vater vor allen Menschen, selbst vor mir. Wir zogen nach Lavondaville, der Hauptstadt von Goredd, und dort nahm er wieder seine Arbeit als Rechtsanwalt auf. Er ersann sich eine annehmbare tote Ehefrau, ein nettes Mädchen aus der Provinz namens Amaline Ducanahan. Ich glaubte an sie, so wie manche Menschen an den Himmel glauben.
Zudem versah er mich mit einer Stiefmutter, Anne-Marie, und vier jüngeren Geschwistern, sodass ich umringt von solch geballter Normalität nicht weiter auffiel.
Ich war ein heikles Kind und wollte partout nicht trinken, wenn die Amme beim Singen nicht genau den richtigen Ton traf. »Es hat ein sehr feines Gehör«, stellte Orma fest, ein groß gewachsener, hagerer Bekannter meines Vaters, der uns in jener Zeit oft besuchte. Orma nannte mich immer »es«, als wäre ich ein kleines Hündchen. Seine abweisende Art zog mich an, auf die gleiche Art wie Katzen bevorzugt um die Beine jener streichen, die ihnen eigentlich aus dem Weg gehen wollen.
Eines Morgens im Frühling begleitete er uns in die Kathedrale, wo der junge Priester mein zartes Haar mit Lavendelöl salbte und mir erklärte, dass ich in den Augen des Himmels nun eine Königin sei. Ich brabbelte wie jedes kleine Kind, das etwas auf sich hält, mein Geschrei hallte durchs ganze Kirchenschiff. Mein Vater machte sich nicht die Mühe näher zu treten oder von seinen Schriftstücken aufzublicken, als er versprach, mich fromm und im Glauben an alle Heiligen zu erziehen. Der Priester reichte mir den Psalter und ich ließ ihn prompt fallen. Er blieb aufgeschlagen liegen, zuoberst die Seite mit dem Bild der Heiligen Yirtrudis, deren Gesicht geschwärzt war.
Der Priester küsste hastig seine Hand, den kleinen Finger abwehrend gespreizt. »Euer Psalter enthält immer noch das Bild dieser Abtrünnigen!«
»Der Psalter ist sehr alt«, erwiderte Papa, ohne aufzublicken. »Und ich hasse es, wenn man Seiten aus Büchern reißt.«
»Den Bücherliebhabern empfehlen wir, die entsprechenden Seiten mit dem Bildnis der Yirtrudis zusammenzukleben, damit solche Versehen nicht mehr vorkommen können.« Der Priester schlug die Seite um. »Der Himmel meinte sicherlich die Heilige Capiti.«
Mein Vater murmelte etwas über abergläubischen Hokuspokus, gerade laut genug, dass der Priester es hören konnte. Was folgte, war ein wütender Streit zwischen meinem Vater und dem Priester, aber daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Meine Aufmerksamkeit wurde gebannt durch eine Mönchsprozession, die durch das Kirchenschiff schritt. Sie trotteten in weichen Schuhen daher wie eine große Welle aus dunklen, raschelnden Roben, mit klappernden Perlen und nahmen im Chorraum Platz. Sitze knarrten und quietschten, ein paar Mönche husteten.
Dann fingen sie an zu singen.
Die Kathedrale vibrierte förmlich von dem Gesang der Männer, und es kam mir vor, als würde sie sich vor meinen Augen immer weiter ausdehnen. Die Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster und ließen den Marmorboden golden und purpur aufleuchten. Die Musik drang in meinen kleinen Leib, erfüllte und umschloss mich, machte mich größer, als ich in Wirklichkeit war. Sie war die Antwort auf eine Frage, die ich nie gestellt hatte, wie nämlich die entsetzliche Leere, in die ich hineingeboren wurde, je ausgefüllt werden sollte. Ich glaubte, nein, ich wusste, dass ich die Weite überwinden und die Wölbung der Decke mit der bloßen Hand erreichen konnte.
Also versuchte ich es.
Meine Amme kreischte, als ich mich aus ihren Armen zu winden versuchte. Erschrocken bekam sie gerade noch mein Fußgelenk zu packen. Ich starrte benommen auf den Boden, der schwankte und wackelte.
Dann nahm mich mein Vater, legte seine großen Hände um meinen dicken, kleinen Leib und hielt mich auf Armeslänge von sich, als würde er einen seltenen Frosch betrachten. Ich blickte in seine meergrünen Augen mit den Trauerfalten.
Wortlos eilte der Priester auf und davon, ohne mich gesegnet zu haben. Orma sah ihm nach, wie er hinter dem Goldenen Haus verschwand, dann sagte er: »Claude, erkläre mir das. Ist er jetzt gegangen, weil du ihn davon überzeugt hast, dass seine Religion Schwindel ist? Oder war er … wie sagt man … beleidigt?«
Mein Vater überhörte die Frage, etwas an mir nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. »Sieh dir ihre Augen an. Ich könnte schwören, sie versteht uns.«
»Für ein Kind hat es einen sehr klaren Blick«, sagte Orma. Er setzte seine Brille auf und beugte sich zu mir herab, sodass er mich auf gleicher Höhe begutachten konnte. Er hatte dunkelbraune Augen, wie ich auch, aber anders als meine waren seine Augen kühl und unergründlich wie der Nachthimmel.
»Ich war dieser Aufgabe nicht gewachsen, Serafina«, sagte Papa ungewohnt zärtlich. »Vielleicht werde ich ihr auch nie gewachsen sein, aber ich glaube, dass ich es besser kann. Wir müssen eine Möglichkeit finden, einander eine Familie zu sein.«
Er küsste den Flaum auf meinem Kopf. Das hatte er noch nie getan. Erstaunt sah ich ihn an. Die klaren Stimmen der Mönche hüllten uns ein und hielten uns drei zusammen. Für einen kurzen, wunderbaren Augenblick verspürte ich wieder das Gefühl, das mit meiner Geburt verloren gegangen war: Alles war so, wie es sein sollte, und ich war genau dort, wo ich hingehörte.
Dann war der Moment auch schon vorbei. Wir schritten durch das bronzebeschlagene Kirchenportal und ließen die Musik hinter uns. Orma ging quer über den Vorplatz der Kathedrale davon, ohne sich zu verabschieden, sein Umhang flatterte wie die Flügel eines riesigen Fledermausjungen. Papa gab mich wieder der Amme, schlang den Mantel fest um sich und stemmte sich gegen den böigen Wind. Ich weinte ihm nach, aber er wandte sich nicht einmal um. Über uns wölbte sich der Himmel, leer und sehr weit entfernt.
Abergläubischer Hokuspokus oder nicht – was uns der Psalter sagen wollte, war klar: Die Wahrheit darf man nicht aussprechen. Hier ist eine akzeptable Notlüge.
Dabei war die Heilige Capiti – möge sie mich in ihrem Herzen bewahren – alles andere als ein armseliger Ersatz. Im Gegenteil, sie war eine vortreffliche Heilige. Sie trug ihren eigenen Kopf auf einer Schale vor sich her wie eine gebratene Gans und starrte einen von der Buchseite geradezu herausfordernd an. Sie verkörperte den Geist und damit die größtmögliche Trennung von den elenden Alltäglichkeiten des Leibes.
Je älter ich wurde und je mehr mich die Albernheiten des Körpers in Beschlag nahmen, desto größeren Gefallen fand ich an dem Bild, aber selbst in meinen jungen Jahren hatte ich stets eine tiefe Zuneigung für die Heilige Capiti verspürt. Wer liebte schon jemanden mit abgeschlagenem Kopf? Wie konnte sie in dieser Welt etwas Sinnvolles vollbringen, wenn sie doch ihre Hände dazu brauchte, die Schale zu halten? Gab es Menschen, die sie verstanden und die sie als ihre Freundin bezeichneten?
Papa erlaubte meiner Amme, die Seiten mit der Heiligen Yirtrudis zusammenzukleben, denn die arme Frau hatte keine ruhige Minute mehr, ehe dies nicht getan war. So konnte ich niemals wieder einen Blick auf die Häretikerin werfen. Wenn ich jetzt die Seite gegen das Licht hielt, sah ich zweierlei Umrisse, beide verschmolzen zu einer schrecklichen Monster-Heiligen. Die ausgestreckten Arme von Yirtrudis ragten der armen Capiti aus dem Rücken wie zwei nutzlose Flügel. Die Umrisse ihres Gesichts zeichneten sich dort ab, wo der Kopf der Heiligen Capiti hätte sein sollen. Sie war die doppelte Heilige meines Doppellebens.
Letztlich lockte mich meine Liebe zur Musik weg aus dem sicheren Hause meines Vaters in die Stadt und an den königlichen Hof. Ich nahm hierfür ein entsetzliches Wagnis auf mich, aber ich konnte nicht anders. Ich verstand noch nicht, dass ich die Einsamkeit in einer Schale vor mir hertrug und Musik das Licht war, das mich von hinten erleuchten würde.