Zweiundzwanzig

Als ich eintraf, hatte Kiggs bereits die Königin und Comonot unterrichtet und sich mittlerweile zu Bett begeben. Seine Abwesenheit war für mich wie ein Schlag in die Magengrube.

Das Studierzimmer der Königin erinnerte mich an das Arbeitszimmer meines Vaters, obwohl sich weniger Bücher darin befanden, dafür mehr alte Statuen. Die Königin saß hinter einem ausladenden Schreibtisch, genau da, wo auch mein Vater gesessen hätte. Ardmagar Comonot hatte auf einem thronähnlichen Sessel in der Nähe des Fensters Platz genommen; hinter ihm färbte sich der Himmel gerade rötlich. Beide hatten sie einige wenige Begleiter mitgebracht, die an den Wänden aufgereiht standen, wie um die Bücher vor unseren schmutzigen Fingern zu schützen. Uns drei Missetätern bot man keinen Platz an.

Ich war erleichtert, dass keiner auf die Idee gekommen war, meinen Vater zu benachrichtigen. Er wäre ganz sicher wütend auf mich gewesen. Aber vielleicht wollten sie nur nicht, dass er sie mit seinem unheilvollen Anwaltsblick ins Visier nahm.

Orma zeigte sich ungerührt, weil ich so lange weg gewesen war, allerdings sog er ziemlich laut die Luft ein, als ich mich zu ihm gesellte. Er roch, dass ich blutete. Aber ich hatte nicht die Absicht, mit ihm darüber zu sprechen.

»Eine Bitte«, ergriff Orma unaufgefordert das Wort. »Verschont Basind mit diesen Angelegenheiten. Ich nehme es auf mich, was er getan hat. Er ist ein Schlupfling, unerfahren und beispiellos dumm. Ich soll ihn unterrichten. Er ist mir nur nachgelaufen.«

»Gewährt«, antwortete Comonot und hob sein feistes Kinn. »Schlupfling Basind, du kannst gehen.«

Basind grüßte seinen Ardmagar und ging, ohne der Königin auch nur zuzunicken.

»Prinz Lucian hat uns von eurem Zusammentreffen mit dem Drachen Imlann berichtet«, sagte die Königin stirnrunzelnd, während sie Basind nachblickte. »Ich würde jetzt gerne deine Version der Geschichte hören, Maid Dombegh.«

Ich sagte alles, was ich wusste. Ich machte deutlich, dass wir nur dem Frieden und der Wahrheit dienen wollten, indem wir den Ardmagar besser zu schützen versuchten.

Die Königin hörte teilnahmslos zu, aber Comonot schien gerührt zu sein von dem, was wir unternommen hatten, um die Bedrohung von ihm abzuwenden. Man hätte die beiden fast für ihren jeweiligen Gegenpart halten können: Comonot, der mitleidige Mensch, und Lavonda, der gefühlskalte Drache. Vielleicht hatten genau diese Eigenschaften es ihnen ermöglicht, nach Jahrhunderten voller Misstrauen und Krieg doch noch Frieden miteinander zu schließen. Jeder erkannte im anderen ein Stückchen von sich selbst.

»Maid Dombegh hat sich keiner allzu schweren Vertragsverletzung schuldig gemacht«, sagte die Königin. »Ich sehe keinen Grund, sie einzusperren. Der Besitz eines Apparats zum Nachrichtenaustausch verstößt zwar gegen das Gesetz, aber ich bin geneigt, ein Auge zuzudrücken, wenn sie es zurückgibt.«

Ich band den Ohrring von der Schnur und gab ihn Orma zurück.

Comonot wandte sich an Orma. »Von Rechts wegen sollte ich dir deine Privilegien, nach Belieben zu reisen und zu lehren, entziehen, weil du dich ohne Erlaubnis verwandelt hast. Aber ich bin beeindruckt von deinem Unternehmungsgeist und dem Wunsch, deinen Ardmagar zu beschützen.«

Anscheinend hatte ich diesen Teil der Geschichte glaubwürdig genug wiedergegeben. Orma grüßte nach Drachenart, indem er den Arm zum Himmel streckte.

»Deine Strafe sei dir also erlassen«, sagte Comonot mit einem Seitenblick auf die Königin. Er wollte herausfinden, wie sie auf seine Großmut reagierte. Aber sie sah ihn nur müde an. »Wir werden im Rat darüber sprechen, wie wir am besten vorgehen«, sagte Comonot. »Ein Einzelner, der unzufrieden ist, stellt dank der vorzüglichen Sicherheitsvorkehrungen meiner Gastgeber keine Gefahr für mich dar. Aber er bricht dennoch den Vertrag, und das muss geahndet werden.«

Orma salutierte erneut und sagte: »Ardmagar, darf ich dieses unerwartete Zusammentreffen mit Euch nutzen, um ein privates Anliegen vorzutragen?«

Mit einem kurzen Wink gewährte Comonot diese Bitte. Die Königin und ihre Begleiter gingen zum Frühstück und Comonot blieb mit einer kleinen Anzahl Saarantrai zurück. Ich wollte ebenfalls den Raum verlassen, aber Orma legte mir die Hand an den Ellbogen und hielt mich zurück. »Würdet Ihr Euer Gefolge ebenfalls entlassen, Ardmagar?«, bat Orma.

Zu meiner Überraschung entsprach der Ardmagar auch diesem Wunsch. Trotz des berüchtigten Vaters musste ihm Orma wohl ausgesprochen harmlos erscheinen.

»Alles in Ard«, sagte Orma. »Es geht um die Zensoren, und ich wollte nicht, dass –«

»Ich glaube nicht, dass das Ansehen deiner Familie noch tiefer sinken könnte«, sagte der Ardmagar. »Und beeil dich bitte. Ohne Frühstück wird dieser Körper ausgesprochen reizbar.«

Orma blinzelte, ihm fehlte seine Brille. »Schon seit sechzehn Jahren jagen mich die Zensoren. Sie prüfen mich unbarmherzig, immer und immer wieder, und sie behindern meine Studien. Wann ist es endlich genug? Wann werden sie einsehen, dass ich nichts anderes bin, als ich sein darf?«

Comonot rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. »Das müssen die Zensoren entscheiden, Gelehrter. Ich habe keine Macht über sie, ich muss mich ihnen genauso beugen wie du. Das muss so sein. Mit ihrer Unparteilichkeit überprüfen sie uns, falls wir törichte Verhaltensweisen an den Tag legen.«

»Und es gibt nichts, was Ihr tun könnt?«

»Du kannst selbst etwas tun, Gelehrter. Lass deine Erinnerungen und Gefühle freiwillig tilgen. Auch ich werde das tun, sobald ich wieder zu Hause bin.« Der Ardmagar tippte sich an den großen Kopf, mit seinem pomadisierten Haar sah er aus wie ein mit Seetang überwachsener Felsbrocken. »Ich lasse mir all den gefühlsduseligen Müll entfernen. Man fühlt sich danach wie neu geboren.«

Orma versuchte, sein Entsetzen zu unterdrücken; hoffentlich war nur mir das Zucken seines Unterkiefers aufgefallen. »Das kann ich nicht tun, Ardmagar. Sie löschen auch alle Erinnerungen, und dann könnte ich nicht mehr forschen. Aber was, wenn ich Imlann zur Strecke bringe?« Orma wusste offenbar nicht, wann es Zeit war aufzuhören. »Würde das nicht beweisen, wem ich ergeben bin; wäre mir dann der Staat nicht zu Dank verpflichtet –«

»Solche Belohnungen gewährt der Staat nicht, wie du sehr wohl weißt«, unterbrach ihn Comonot.

Seine allzu schnelle Antwort brachte mich in Harnisch. Ich war mir sicher, dass er log. »Basind sollte auch nicht hier sein, dennoch ist er es«, sagte ich vorwurfsvoll. »Eskar hat ausdrücklich betont, dass es sich um einen Gefallen handelt, den man seiner Mutter erweist für den Verrat an ihrem Mann.«

»Ich erinnere mich zwar nicht an diese Angelegenheit, aber es ist ganz gewiss nicht die Regel«, erwiderte Comonot mit einem warnenden Unterton.

»Serafina«, sagte mein Onkel beschwichtigend und streckte die Hand nach mir aus.

Ich achtete nicht auf ihn; mein Vortrag war noch nicht zu Ende. »Schön, nennt es eine Ausnahme, aber könnte man nicht auch für meinen Onkel eine Sonderregelung finden? Er hat nichts weiter getan als –«

»Euren Onkel? Gelehrter Orma, wer ist diese Person?«, rief der Ardmagar und sprang auf.

Ich starrte Orma fassungslos an. Er hatte die Augen geschlossen und die Hände vor dem Kinn gefaltet, als würde er beten. Er sog die Luft vernehmbar durch die Nase ein, öffnete die Augen und sagte: »Serafina ist die Tochter meiner Schwester, deren Name nicht genannt wird, Ardmagar.«

Comonots Augen traten beängstigend hervor. »Nein … nicht von diesem …«

»Doch, von diesem. Von dem Menschen namens Cl–«

»Sprich seinen Namen nicht aus«, befahl der Ardmagar mit versteinerter Miene. Er dachte einen Moment nach. »Du hast gesagt, sie sei kinderlos gestorben.«

»Ja, das … das habe ich gesagt«, gab Orma zu. Ihm versagte die Stimme und mir brach dabei fast das Herz.

»Die Zensoren wissen, dass du gelogen hast«, folgerte der Ardmagar scharfsinnig. »Das ist ein schwerwiegender Makel und deshalb lassen sie dich auch nicht in Frieden. Merkwürdig ist nur, dass es der Ker nicht berichtet wurde.«

Orma zuckte die Schultern. »Wie Ihr schon sagtet, Ardmagar, die Zensoren sind Euch keine Rechenschaft schuldig.«

»Nein, aber du. Deine Aufenthaltserlaubnis als Gelehrter ist mit sofortiger Wirkung widerrufen, Saar. Du wirst nach Hause zurückkehren und dich einer Exzision unterziehen. Wenn du dies nicht binnen einer Woche tust, wird das Magna Culpa über dich ausgesprochen werden. Hast du mich verstanden?«

»Jawohl.«

Ohne ein weiteres Wort ließ Comonot uns allein zurück. Ich sah Orma an. Vor lauter Wut und Entsetzen und Scham brachte ich zuerst keinen Ton heraus.

»Ich dachte, er wüsste es«, stieß ich hervor. »Eskar wusste es ja auch.«

»Eskar war eine der Zensoren«, sagte Orma leise.

Er stand regungslos da und starrte ins Leere, während ich händeringend auf und ab ging.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Das ist alles meine Schuld. Ich mache alles kaputt, ich –«

»Nein«, widersprach Orma unbewegt. »Ich hätte dich aus dem Zimmer schicken müssen.«

»Ich dachte, du wolltest mich dem Ardmagar vorstellen, so wie du mich Eskar vorgestellt hast!«

»Nein. Ich habe dich nicht weggeschickt, weil ich … ich wollte, dass du dabei bist. Ich dachte, es würde etwas nützen.« Seine Augen weiteten sich, er erschrak vor sich selbst. »Sie haben recht. Ich bin rettungslos in meine Gefühle verstrickt.«

Ich hätte ihn so gerne an der Schulter berührt oder seine Hand genommen, um ihm zu zeigen, dass er noch jemanden hatte auf dieser Welt, aber ich wagte es nicht. Er würde meine Hand abschütteln wie ein lästiges Insekt.

Und dennoch: Er hatte mich am Arm genommen und zurückgehalten, weil er mich bei sich haben wollte. Ich kämpfte mit den Tränen. »Du wirst also zu dir nach Hause zurückkehren?«

Er sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. »Nach Tanamoot? Niemals. Es wäre nicht damit getan, dass man meinen gefühlsduseligen Müll entfernt, nicht bei mir, dazu reicht das alles zu tief. Sie würden mir auch jedes Andenken an Linn nehmen. Jede Erinnerung an dich.«

»Aber du würdest weiterleben. Magna Culpa heißt, sie können dich ganz einfach töten, wo auch immer du bist.« Papa wäre entsetzt, wenn er wüsste, wie oft ich heute Abend schon den Anwalt gespielt hatte.

Orma zog die Augenbrauen hoch. »Wenn Imlann sechzehn Jahre lang im Süden überleben konnte, dann schaffe ich das auch.« Er wandte sich zum Gehen, überlegte es sich dann anders. Er nahm seinen Ohrring ab und gab ihn mir wieder. »Du wirst ihn vielleicht noch brauchen.«

»Bitte, Orma, ich habe dich ohnehin schon in die allergrößten Schwierigkeiten gestürzt –«

»Ja, weshalb ich gar keine größeren mehr bekommen kann. Nimm ihn.« Ich wusste, er würde so lange stur bleiben, bis ich den Ohrring wieder an die Schnur gebunden hatte. »Du bist alles, was ich noch von Linn habe. Nicht einmal ihre eigenen Angehörigen sprechen ihren Namen aus. Ich … ich möchte, dass du weiterlebst.«

Ich brachte keinen Ton heraus, seine Worte hatten mir das Herz durchbohrt.

Wie üblich verließ er mich, ohne sich zu verabschieden. Ich blieb allein zurück. Die Last, die mich niederdrückte, in dieser längsten Nacht des Jahres, war so schwer, dass ich noch sehr, sehr lange dastand und gedankenverloren vor mich hin starrte.