Zwei
Orma musste keine Glocke tragen, weil er ein Gelehrter war, deshalb ahnte praktisch niemand, dass er ein Drache war. Natürlich legte er deren Eigenheiten an den Tag: Er lachte nie, er verstand nichts von hübscher Kleidung, von gutem Benehmen oder Kunst; er hatte eine Vorliebe für höhere Mathematik und für Stoffe, die nicht kratzten. Ein anderer Saarantras hätte ihn am Geruch erkannt, aber nur sehr wenige Menschen hatten eine so gute Nase, dass sie den Saar eines Drachen wahrnahmen oder überhaupt wussten, wie er roch. Für die meisten Bewohner von Goredd war Orma ein Mann wie jeder andere: groß, schlank, bärtig und mit Brille.
Der Bart war allerdings falsch. Als kleines Kind hatte ich ihn einmal abgerissen. Männliche Saarantrai hatten keinen Bartwuchs. Das war eine der Besonderheiten, die ihnen blieb, wenn sie sich verwandelten, genauso wie ihr silberfarbenes Blut. Orma trug den Bart nicht zur Tarnung, ich glaube, er gefiel sich so einfach besser.
Er winkte mir mit seinem Hut, dabei war er auch so kaum zu übersehen. »Du spielst die Glissandi immer noch zu schnell, aber das Vibrato scheinst du inzwischen zu beherrschen«, sagte er, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten. Drachen verstehen nicht, wozu das gut sein soll.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte ich spitz, bedauerte jedoch sofort meinen Sarkasmus, auch wenn Orma ihn vermutlich gar nicht bemerkte. »Schön, dass es dir gefallen hat.«
Er blinzelte und legte den Kopf schief, so wie er es immer tat, wenn er ahnte, dass er etwas Entscheidendes übersehen hatte, aber nicht wusste, was es war. »Du findest, ich hätte zuerst einen Gruß sagen müssen?«, fragte er aufs Geratewohl.
Ich seufzte. »Ehrlich gesagt bin ich zu müde, um mich darüber zu ärgern, dass meine Spieltechnik nicht vollkommen war.«
»Das ist es, was ich wohl niemals verstehen werde«, sagte er und schlenkerte seinen Filzhut. Anscheinend hatte er vergessen, dass er zum Aufsetzen gedacht war. »Hättest du perfekt gespielt – so perfekt wie nur ein Saarantras es kann –, hättest du deine Zuhörer niemals so bewegt. Die Menschen haben geweint, und das nicht nur, weil du manchmal mitsummst, wenn du spielst.«
»Machst du Witze?«, fragte ich bestürzt.
»Nein, es hörte sich interessant an. Meistens war es harmonisch, mit Quarten und Quinten, aber hin und wieder bist du in eine dissonante Septime verfallen. Warum?«
»Ich war mir nicht bewusst, dass ich das tue.«
Orma blickte plötzlich nach unten. Ein kleines Gassenmädchen, das rührend aussah in seinem Trauermäntelchen, das wohl irgendwann einmal weiß gewesen war, zupfte eifrig am Saum von Ormas kurzem Umhang. »Ich locke Kinder an«, murmelte Orma und drehte dabei den Hut in den Händen. »Tu mir den Gefallen und verscheuch die Kleine.«
»Mein Herr?«, sagte das Mädchen. »Das ist für Euch.« Sie schmiegte ihre kleine Hand in die seine.
Ich sah etwas Goldenes blitzen. Wie seltsam. Eine Bettlerin, die Orma eine Münze schenkte?
Orma starrte auf den Gegenstand in seiner Hand. »Hast du auch eine Botschaft für mich?« Seine Stimme stockte, als er das sagte, und mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Kein Zweifel, er zeigte Gefühl. So etwas hatte ich noch nie bei ihm erlebt.
»Die Münze ist die Botschaft«, sagte das Mädchen, das die Worte wohl auswendig gelernt hatte.
Orma hob den Kopf und sah sich um. Er ließ den Blick vom großen Kirchenportal die Stufen hinab über den gut besuchten Platz zur Kathedralen-Brücke und dann den Fluss entlang schweifen. Ich sah mich ebenfalls um, obwohl ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wonach wir suchten. Die untergehende Sonne funkelte über den Hausdächern; eine Menschenmenge lief auf der Brücke zusammen; die grellbunte Comonot-Uhr auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes zeigte noch zehn Tage an; kahle Bäume am Flussufer schwankten im Wind. Mehr war nicht zu sehen.
Ich blickte Orma fragend an, der nun wieder nach unten sah, als ob er etwas verloren hätte. Ich nahm an, dass er die Münze suchte, doch nein. »Wo ist sie hin?«, fragte er.
Das Mädchen war verschwunden.
»Was hat sie dir gegeben?«, fragte ich zurück.
Er antwortete nicht, sondern verstaute das Geldstück sorgfältig in seinem wollenen Trauerwams. Dabei erhaschte ich einen Blick auf das Seidenhemd, das er darunter trug.
»Schön«, brummte ich. »Dann sag es mir nicht.«
Er blickte mich erstaunt an. »Ich hatte nie die Absicht.«
Ich seufzte und versuchte, ihm nicht böse zu sein.
In diesem Moment brach ein Tumult auf der Kathedralen-Brücke aus. Ich schaute hinüber und mir stockte der Atem: Sechs Schläger, die sich schwarze Federn an die Kappen geheftet hatten – was sie als Söhne von Sankt Ogdo auswies –, hatten sich auf einer Seite der Brücke im Halbkreis um irgendeinen armen Kerl geschart. Der Lärm zog Menschen von allen Seiten an.
»Gehen wir in die Kathedrale, bis das vorüber ist«, sagte ich und wollte Orma am Ärmel packen, aber es war schon zu spät. Er hatte bemerkt, was vor sich ging, und eilte die Stufen hinunter auf den Pöbel zu.
Der Bursche, den sie gegen das Brückengeländer gedrängt hatten, war ein Drache. Ich konnte das Funkeln seiner Silberglocke sogar hier auf den Stufen von Sankt Gobnait sehen. Orma drängelte sich durch die Menge. Ich versuchte dicht hinter ihm zu bleiben, aber jemand versetzte mir einen Stoß und ich stolperte auf den freien Platz, wo Ogdos Söhne mit Knüppeln auf den sich krümmenden Saarantras einhieben. Dazu riefen sie im Chor den Fluch, den Sankt Ogdo einst gegen das Untier ausgestoßen hatte: »Verflucht seien deine Augen, Wurm! Verflucht seien deine Hände, dein Herz, deine Abkömmlinge bis zum Ende aller Tage! Alle Heiligen mögen dich verfluchen, das Himmlische Auge möge dich verfluchen, jeder deiner hinterhältigen Gedanken komme als Fluch über dich!«
Jetzt, da ich sein Gesicht sah, hatte ich Mitleid mit dem Drachen. Er war ein noch unfertiger Schlupfling, dürr und ungepflegt, mit verdrehten Gliedmaßen und Glupschaugen. Direkt unter seinem fahlen Wangenknochen bildete sich bereits eine große Beule.
Hinter meinem Rücken grölten die Leute; sie waren wie ein Wolfsrudel, das sich auf jeden blutigen Knochen gestürzt hätte, den die Söhne ihm zuwarfen. Zwei von ihnen hatten ihre Messer gezückt, ein Dritter holte eine Kette unter seiner ledernen Joppe hervor und zog sie drohend hinter sich her wie einen Schwanz. Sie polterte unheilvoll auf den Pflastersteinen der Brücke.
Orma stellte sich so, dass der Saarantras ihn nicht übersehen konnte, und zeigte auf dessen Ohrringe, um seinen Kameraden daran zu erinnern, was er tun sollte. Aber der Schlupfling rührte sich nicht. Orma berührte einen seiner eigenen Ohrringe und setzte ihn in Gang.
Drachen-Ohrringe waren ganz erstaunliche kleine Geräte. Man konnte damit sehen, hören und sich über große Entfernungen hinweg unterhalten. Ein Saarantras konnte damit Hilfe herbeirufen, aber auch von seinen Vorgesetzten überwacht werden. Orma hatte einmal seine Ohrringe abgenommen, um sie mir zu zeigen; es waren technische Apparate, aber die meisten Menschen hielten sie für Teufelszeug.
Einer der Söhne, der vor lauter Gebrüll schon ganz rot angelaufen war, schnauzte den Schlupfling an: »Dir wird es noch leid tun, dass du dich jemals aus deiner Höllengrotte hervorgewagt hast, du schmieriger Quig.«
»Ich bin kein Quigutl, ich bin ein Saar«, sagte der Schlupfling mit einer Stimme, die wie eine verrostete Türangel klang.
»Warst du es, der Prinz Rufus den Kopf abgebissen hat, du elender Wurm?«, fragte ein muskelbepackter Bootsmann, der ebenfalls zu den Söhnen Sankt Ogdos zählte. Er packte den dürren Arm des Umzingelten so fest, als wollte er ihn entzweibrechen.
Der Saarantras zappelte wild, wie um sich aus seiner schlecht sitzenden Kleidung herauszuwinden. Die Söhne wichen vor ihm zurück; sie dachten wohl, ihm würden jeden Moment Flügel, Hörner und ein Schwanz wachsen. Er strich sich das dünne Haar aus dem Gesicht und sagte: »Der Vertrag verbietet es uns, Menschen die Köpfe abzubeißen, aber ich will nicht vorgeben, dass ich vergessen hätte, wie sie schmecken.«
Die Söhne hätten sich über jeden Vorwand gefreut, um ihn zu verprügeln, aber was er ihnen soeben geliefert hatte, war so entsetzlich, dass sie einen Herzschlag lang wie gelähmt dastanden.
Plötzlich erwachte der Mob mit tierischem Gebrüll zum Leben. Die Söhne bedrängten den Schlupfling und stießen ihn erneut gegen das Geländer. Ich sah eine Schramme auf seiner Stirn, ein Rinnsal silbernen Blutes lief ihm über das Gesicht, dann hatte mich die Menge ganz eingeschlossen und mir die Sicht genommen.
Ich drängelte mich durch die Schaulustigen und suchte einen Blick auf Ormas strubbeliges schwarzes Haar und seine Adlernase zu erhaschen. Eine aufgesprungene Lippe und sein silbernes Blut, das daraus hervorquoll – mehr hätte der Pöbel nicht gebraucht, um sich auch auf ihn zu stürzen. Ich rief seinen Namen, schrie ihn hinaus, aber in dem Tumult konnte er mich unmöglich hören.
Plötzlich erschollen laute Rufe und vom Vorplatz der Kathedrale kamen Pferde herangaloppiert. Endlich zogen die Wachen mit dröhnenden Dudelsäcken auf. Sankt Ogdos Söhne warfen ihre Hüte in die Luft und tauchten in der Menge unter. Zwei sprangen über das Geländer der Brücke, aber ich hörte nur einen ins Wasser platschen.
Orma hatte sich neben den zusammengekrümmten Schlupfling gekniet. Ich eilte zu ihm, vorbei an den vor der Garde fliehenden Leuten. Ich wagte es nicht, Orma zu umarmen, aber ich war so erleichtert, dass ich mich ebenfalls hinkniete und seine Hand nahm. »Allen Heiligen sei Dank!«
Orma wehrte mich ab. »Hilf mir, ihn auf die Beine zu bringen, Serafina.«
Ich ging um den Verletzten herum und nahm ihn beim Arm. Er starrte mich dümmlich an. Sein Kopf rollte auf meine Schulter und sein silbernes Blut befleckte meinen Mantel. Ich kämpfte einen Anflug von Übelkeit nieder. Wir halfen dem verletzten Saar wieder auf die Füße und stützten ihn, aber er wies unsere Hilfe ab und blieb alleine stehen, schwankend in dem beißend kalten Wind.
Der Hauptmann der Garde, Prinz Lucian Kiggs, kam auf uns zu und die Menschenmenge wich vor ihm zurück wie das Wasser vor der Heiligen Fionnuala. Er trug noch seine Trauerkleidung, einen kurzen weißen Überrock mit langen Flügelärmeln, aber sein tiefer Kummer war deutlicher Verärgerung gewichen.
Ich zog Orma am Ärmel. »Lass uns gehen.«
»Ich kann nicht. Durch meinen Ohrring weiß die Botschaft, dass ich hier bin. Ich muss bei dem Schlupfling bleiben.«
Ich hatte den Prinzen schon mehrfach bei Hofe gesehen, aber stets aus der Ferne und in den von Menschen wimmelnden Hallen. Als mich Viridius der Königin vorstellte, war er nicht dabei gewesen. Er galt als schlauer und gerissener Ermittler, der seine Pflichten sehr ernst nahm, aber viel verschlossener war als sein Onkel. Auch mit dessen gutem Aussehen konnte er nicht mithalten – er hatte nicht einmal einen Bart –, aber als ich ihn nun aus der Nähe sah, fand ich, dass seine klugen Augen dies mehr als wettmachten.
Ich blickte weg. Bei den Heiligen Hunden, überall auf meiner Schulter war Drachenblut.
Prinz Lucian beachtete weder mich noch Orma, sondern wandte sich stirnrunzelnd an den Schlupfling. »Bei Sankt Mashas Stein, du blutest ja!«
Der Geschundene blickte hoch. »Sieht schlimmer aus, als es ist, Euer Gnaden. In Menschenköpfen sind eben viele Blutgefäße, die leicht durchtrennt werden können von –«
»Schon gut, schon gut.« Der Prinz war beim Anblick der Wunde zurückgezuckt, gab jedoch einem seiner Männer ein Zeichen, woraufhin dieser mit einem Tuch und einer Feldflasche herbeigelaufen kam. Der Schlupfling öffnete die Flasche und goss sich das Wasser über den Kopf, sodass es nutzlos in kleinen Bächlein von ihm abperlte und nur seinen Wams nass machte.
Heilige im Himmel, er würde an Ort und Stelle erfrieren, und die Vornehmsten von Goredd standen da und sahen zu. Kurz entschlossen nahm ich ihm das Tuch und die Flasche aus der Hand, was er auch widerstandslos geschehen ließ, benetzte den Stoff und zeigte ihm, wie er sein Gesicht damit abtupfen sollte. Dann machte er es selbst und ich trat zurück. Prinz Lucian nickte mir dankbar zu.
»Du bist anscheinend ziemlich neu, Saar«, sagte der Prinz. »Wie heißt du?«
»Basind.«
Das klang eher wie ein Bellen und nicht wie ein Name. Ich bemerkte die unvermeidliche Mischung aus Bedauern und Abscheu in den dunklen Augen des Prinzen. »Wie hat es angefangen?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete Basind. »Ich ging gerade vom Fischmarkt nach Hause –«
»Jemand, der so neu hier ist wie du, sollte nicht auf eigene Faust durch die Stadt laufen«, fuhr ihn der Prinz barsch an. »In der Drachenbotschaft hat man dir das doch sicher hinreichend klargemacht?«
Jetzt erst nahm ich Basind genauer in Augenschein: Wams, Pluderhose und seine Abzeichen wiesen ihn eindeutig als Angehörigen der Botschaft aus.
»Hast du dich verlaufen?«, hakte Prinz Lucian nun freundlicher nach. »Sind sie dir gefolgt?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe mir überlegt, wie man Schollen zubereitet.« Er fuchtelte mit einem durchweichten Päckchen vor dem Gesicht des Prinzen herum. »Sie haben mich umringt.«
Prinz Lucian wich dem nach Fisch riechenden Paket aus, ließ sich aber nicht ablenken. »Wie viele waren es?«
»Zweihundertneunzehn. Vielleicht auch noch ein paar mehr, die ich nur nicht gesehen habe.«
Dem Prinzen blieb der Mund offen stehen. Er war es anscheinend nicht gewohnt, Drachen zu befragen. Ich beschloss, ihm aus der Patsche zu helfen. »Wie viele hatten schwarze Federn an ihren Mützen, Saar Basind?«
»Sechs«, antwortete Basind und blinzelte wie jemand, der nicht gewohnt ist, nur zwei Augenlider zu haben.
»Hast du sie gesehen, Serafina?«, fragte der Prinz, sichtlich froh darüber, dass ich mich eingemischt hatte.
Ein leichter Schreck durchfuhr mich, als der Prinz mich beim Namen nannte. Ich nickte stumm. Woher um alles in der Welt kannte er den, ich war doch nur ein Niemand unter all den Bewohnern des Palasts?
»Meine Leute werden alle herbeischaffen, die sie geschnappt haben«, fuhr der Prinz fort. »Du, Schlupfling, und dein Freund hier«, er zeigte auf Orma, »solltet sie euch ansehen und wenn möglich jene beschreiben, die uns entwischt sind.«
Der Prinz gab seinen Männern ein Zeichen, die Gefangenen vorzuführen, dann beugte er sich zu mir und beantwortete die Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. »Cousine Glisselda redet ständig von dir. Sie wollte schon mit dem Musizieren aufhören. Zum Glück bist dann du gekommen.«
»Viridius war zu streng mit ihr«, murmelte ich verlegen.
Er betrachtete mit seinen dunklen Augen Orma, der sich nach etwaigen Saarantrai aus der Botschaft umsah. »Wie heißt dein hochgewachsener Freund? Er ist ein Drache, nicht wahr?«
Für meinen Geschmack war dieser Prinz eindeutig zu schlau. »Was bringt Euch auf diesen Gedanken?«
»Nur so eine Vermutung. Ich habe also recht, nicht wahr?«
Trotz der Kälte begann ich zu schwitzen. »Sein Name ist Orma. Er ist mein Lehrer.«
Lucian Kiggs blickte mich prüfend an. »Schön und gut. Aber ich möchte die Bestätigung sehen, dass er vom Glockenzwang befreit ist. Ich habe dieses Amt eben erst angetreten und kenne noch nicht alle unsere Tarnkappenlehrer, wie Onkel Rufus sie immer genannt hat.« Seine grauen Augen verdüsterten sich, aber dann fasste der Prinz sich wieder. »Ich nehme an, Orma hat die Botschaft bereits verständigt?«
»Ja.«
»Tja, dann bringen wir das am besten schnell hinter uns, ehe ich mich deren Vorwürfen ausgesetzt sehe.«
Einer seiner Leute ließ die Gefangenen vor uns antreten; sie hatten nur zwei erwischt. Ich hatte angenommen, dass man die beiden, die in den Fluss gesprungen waren, leicht ausfindig machen könnte, wenn sie klatschnass und zitternd aus dem Wasser kamen, aber vielleicht hatten die Wachen das gar nicht mitbekommen.
»Zwei von ihnen sind über das Brückengeländer gesprungen, aber ich habe nur ein Platschen gehört …«, begann ich.
Prinz Lucian verstand sofort, was ich meinte. Mit flinken Handbewegungen schickte er seine Soldaten an beide Enden der Brücke. Nachdem sie leise bis drei gezählt hatten, schwangen sie sich über die Brüstung, und tatsächlich, einer der Söhne war noch da. Er hatte sich an den Balken festgeklammert. Sie zerrten ihn wie ein Rebhuhn hervor, aber im Gegensatz zu einem Rebhuhn konnte er kein bisschen fliegen. Er plumpste ins Wasser und zwei der Wachen sprangen ihm nach.
Der Prinz warf mir einen anerkennenden Blick zu. »Du bist sehr wachsam.«
»Manchmal«, antwortete ich und wich seinem Blick aus.
»Hauptmann Kiggs«, sagte eine leise Frauenstimme hinter mir.
»Jetzt geht’s los«, brummte er und ging um mich herum.
Ich wandte den Kopf und sah, wie eine Saarantras mit kurzen schwarzen Haaren vom Pferd sprang. Sie ritt wie ein Mann, trug Hosen aus Porphyrien und einen geschlitzten Kaftan aus Ziziba. Eine silberne Glocke, groß wie ein Apfel, war demonstrativ an ihrer Mantelschnalle befestigt. Die drei Saarantrai hinter ihr blieben auf ihren Pferden sitzen und hielten ihre unruhigen Rösser im Zaum. Ihre Glöckchen bimmelten seltsam fröhlich im Wind.
»Staatssekretärin Eskar.« Der Prinz ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Sie ergriff sie nicht, sondern wandte sich sofort an Basind.
»Berichte«, forderte sie ihn auf.
Basind salutierte, wie es bei den Saar üblich war, indem er zum Himmel zeigte. »Keine Sorge, alles in Ard. Die Garde erschien in vertretbarer Zeit, Staatssekretärin. Hauptmann Kiggs kam sogar direkt vom Grab seines Onkels.«
»Die Kathedrale ist nur zwei Minuten zu Fuß von hier entfernt«, erwiderte Eskar. »Aber die Zeit, die zwischen deinem ersten Signal und dem zweiten verstrichen ist, betrug fast dreizehn Minuten. Wenn die Wachen unverzüglich gekommen wären, hättest du kein zweites Signal geben müssen.«
Prinz Lucian richtete sich zur vollen Größe auf, seine Miene sprach Bände. »Also war das alles nur ein Test?«
»So ist es«, entgegnete Eskar ungerührt. »Wir betrachten die Sicherheitsmaßnahmen als unzureichend, Hauptmann Kiggs. Das ist der dritte Angriff in zwei Wochen und der zweite, bei dem ein Saar verletzt worden ist.«
»Angriffe, die Ihr inszeniert habt, zählen nicht. Ihr wisst selbst, dass dies nicht die Regel ist. Die Menschen sind sehr nervös. General Comonot kommt in zehn Tagen …«
»Und genau deshalb müsst Ihr Euch mehr Mühe geben«, entgegnete sie kühl.
»… und Prinz Rufus wurde eben erst auf eine Art und Weise ermordet, die auf Drachen als Täter hinweist.«
»Es gibt keinerlei Beweis dafür, dass Drachen daran beteiligt waren«, widersprach sie.
»Sein Kopf ist weg!« Der Prinz zeigte auf seinen eigenen; er war so aufgebracht, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Sein vom Wind zerzaustes Haar ließ ihn seltsam wild erscheinen.
Eskar zog die Augenbrauen hoch. »Ach, und ein Mensch könnte so etwas nicht getan haben?«
Prinz Lucian wandte sich ab und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Er fing an im Kreis herumzugehen. Es empfahl sich nicht, vor den Augen eines Saarantras wütend zu werden. Je größer die eigene Wut, desto kühler wurden sie. Eskar blieb auf eine aufreizende Art unbeteiligt.
Der Prinz unterdrückte seinen Groll und setzte erneut an. »Eskar, bitte versteht doch, so etwas erschreckt die Leute. Das Misstrauen sitzt immer noch tief. Die Söhne von Sankt Ogdo machen sich das zunutze, sie schlagen Kapital aus den Ängsten der Menschen …«
»Vierzig Jahre«, unterbrach ihn Eskar. »Wir hatten vierzig Jahre lang Frieden. Ihr wart noch nicht einmal geboren, als der Vertrag mit Comonot unterzeichnet wurde. Eure eigene Mutter –«
»Möge sie Frieden finden an der himmlischen Feuerstelle«, murmelte ich, als wäre es meine Aufgabe, jede gesellschaftliche Unzulänglichkeit aller Drachen auf der ganzen Welt auszugleichen. Der Prinz warf mir einen dankbaren Blick zu.
»… war noch nicht größer als ein Staubkorn im Bauch der Mutter«, fuhr Eskar ungerührt fort. »Nur die Älteren unter euch erinnern sich noch an den Krieg. Aber es sind nicht die Alten, die sich den Söhnen von Sankt Ogdo anschließen oder auf den Straßen randalieren. Wie kann sich in die Herzen von Menschen, die niemals die Feuerstürme des Kriegs erlebt haben, ein so tief sitzendes Misstrauen eingenistet haben? Mein eigener Vater fiel durch eure Ritter und ihre hinterhältige Kriegskunst, die Dracomachie. Jeder Saarantras erinnert sich noch an jene Zeit, denn wir alle haben jemanden aus der Familie verloren. Wir tragen es euch nicht nach, uns bleibt nichts anderes übrig, um des Friedens willen. Wir hegen keinen Groll gegen euch. Gebt ihr Menschen die Gefühle mit eurem Blut weiter, von Mutter zu Kind, so wie wir Drachen unsere Erinnerungen weitergeben? Vererbt ihr eure Ängste? Nur so lässt sich erklären, dass sie so lange erhalten blieben – oder warum ihr sie nicht schon längst ausgemerzt habt«, sagte Eskar.
»Das hieße uns selbst auszumerzen. Ihr mögt das für eine unserer menschlichen Dummheiten halten«, sagte Prinz Lucian und lächelte grimmig. »Vielleicht können wir unsere Gefühle nicht so mit dem Verstand bezwingen wie ihr, vielleicht brauchen wir mehrere Generationen, bis sich unsere Ängste gelegt haben. Andererseits beurteile ich auch nicht alle Drachen nach den Taten einiger weniger.«
Eskar blieb völlig unbeeindruckt. »Ardagmar Comonot wird meinen Bericht entgegennehmen. Man wird sehen, ob er daraufhin seinen bevorstehenden Besuch absagt.«
Prinz Lucian trug sein Lächeln vor sich her wie ein weiße Flagge. »Wenn er zu Hause bliebe, würde mir das jede Menge Schwierigkeiten ersparen. Wie nett von Euch, dass Ihr an mein Wohlergehen denkt.«
Eskar legte den Kopf schief wie ein Vogel, schien jedoch nicht weiter auf Kiggs’ Bemerkung eingehen zu wollen. Sie befahl ihren Begleitern, Basind einzusammeln, der ans Ende der Brücke davongeschlichen war und sich dort wie eine Katze am Geländer rieb.
Der dumpfe Schmerz zwischen meinen Augen hatte sich zu einem hartnäckigen Pochen gesteigert, als ob jemand beständig von innen an meinen Kopf hämmerte, weil er herauswollte. Das war übel, denn meine Kopfschmerzen wurden üblicherweise von weiteren Unannehmlichkeiten begleitet. Andererseits wollte ich nicht gehen, ohne herauszufinden, was das Gassenmädchen Orma gegeben hatte. Eskar hatte ihn beiseitegenommen, sie steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise.
»Er ist bestimmt ein ausgezeichneter Lehrer«, sagte Prinz Lucian. Seine Stimme erklang so überraschend und so nahe an meinem Ohr, dass ich zusammenzuckte.
Wortlos machte ich einen kleinen Knicks. Ich durfte anderen nicht zu viel über Orma verraten, am allerwenigsten dem Hauptmann der Königlichen Garde.
»Ja, das ist er ganz gewiss«, sprach der Hauptmann weiter. »Wir waren erstaunt, als Viridius ein Mädchen zu seiner Gehilfin wählte. Womit ich nicht andeuten will, dass ein Mädchen nicht für dieses Amt geeignet wäre. Aber Viridius ist sehr altmodisch. Du musst etwas ganz Außerordentliches an dir haben, dass er auf dich aufmerksam geworden ist.«
Diesmal knickste ich tief, aber er war noch nicht fertig. »Dein Solo war in der Tat sehr bewegend. Das wird dir jeder bestätigen, denn in der Kathedrale blieb kein einziges Auge trocken.«
So wie es aussah, würde ich mich nicht mehr in der Anonymität verstecken können. Das hatte ich nun davon, Vaters Rat in den Wind geschlagen zu haben. »Danke«, antwortete ich. »Entschuldigt mich, Hoheit, ich muss mit meinem Lehrer sprechen wegen meiner, ähm, Triller …«
Ich ließ ihn einfach stehen – der Gipfel an Unhöflichkeit. Er verharrte einen Augenblick unentschlossen, dann ging auch er. Ich drehte mich um. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten sein Trauergewand in ein goldenes Licht. Er befahl einem seiner Untergebenen, ein Pferd herbeizubringen, saß mit fast tänzerischer Leichtigkeit auf und ließ seine Mannschaft Aufstellung nehmen.
Ich erlaubte mir einen kurzen Augenblick des Bedauerns, denn ich wusste, das Umschlagen seiner Freundlichkeit in Geringschätzung wäre unausweichlich, sollte er je erfahren, wie ich wirklich war. Dann schob ich diese trüben Gedanken beiseite und gesellte mich zu Orma und Eskar.
Orma streckte den Arm aus, aber er berührte mich nicht. »Darf ich vorstellen: Serafina«, sagte er.
Staatssekretärin Eskar blickte mich über ihre Adlernase hinweg an und schien nacheinander jedes Detail meiner Person auf einer Liste abzuhaken. Zwei Arme: vorhanden. Zwei Beine: unklar aufgrund der Länge des Überkleids, aber wohl vorhanden. Zwei Augen, rehbraun: vorhanden. Haar von der Farbe schwarzen Tees, schaut unter der Kapuze hervor: vorhanden. Brüste: nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Groß gewachsen, aber noch im üblichen Rahmen. Wangen gerötet, aus Wut oder Verlegenheit: unübersehbar.
»Hm«, sagte sie. »Es ist gar nicht so grässlich, wie ich es mir immer vorgestellt habe.«
Orma, gepriesen sei sein wenig empfindsames Drachengemüt, fühlte sich bemüßigt, Eskar zu verbessern. »Es ist eine Sie.«
»Ist es denn nicht unfruchtbar wie ein Maultier?«
Mein Gesicht lief so heiß an, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn meine Haare in Flammen aufgegangen wären.
»Sie«, bekräftigte Orma. Als habe er am Anfang nicht denselben Fehler gemacht. »Alle Menschen gebrauchen ein persönliches Fürwort, das ihr Geschlecht bezeichnet, ganz gleich, wie fortpflanzungsfähig sie sind.«
»Andernfalls wird es als Beleidigung aufgefasst«, sagte ich mit einem aufgesetzten Lächeln.
Eskar verlor das Interesse an mir und wandte sich ab. Ihre Untergebenen kamen vom anderen Ende der Brücke zurück und führten Saar Basind auf einem widerspenstigen Pferd hinter sich her.
Staatssekretärin Eskar bestieg ihren eigenen Rotbraunen, ließ ihn in einem engen Kreis wenden und gab ihm die Sporen, ohne mich oder Orma noch eines Blickes zu würdigen. Ihre Begleiter beeilten sich, ihr zu folgen.
Als sie an uns vorbeikamen, ruhte Basinds wirrer Blick ungebührlich lange auf mir, was mich mit jähem Widerwillen erfüllte. Orma, Eskar und die anderen hatten gelernt, nicht aufzufallen, er jedoch führte unmissverständlich vor Augen, wie sein wirkliches Wesen war. Sein Blick war alles andere als menschlich.
»Das war sehr erniedrigend«, sagte ich zu Orma, der geistesabwesend vor sich hin starrte.
Meine Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. »Tatsächlich?«
»Was hast du dir dabei gedacht, ihr von mir zu erzählen?«, fragte ich ihn. »Ich bin zwar nicht mehr unter der Fuchtel meines Vaters, aber die alten Regeln gelten immer noch. Wir können nicht wahllos ausplaudern –«
»Ach«, sagte er und hob seine schlanke Hand, um meinen Einwand abzuwehren. »Ich habe ihr nichts gesagt. Eskar wusste es schon immer. Sie war eine der Zensoren.«
Bei seinen Worten drehte sich mir fast der Magen um; die Zensoren gehörten einer Behörde der Drachen an, die niemandem Rechenschaft schuldete als sich selbst. Sie überwachten die Saarantrai auf abartige Verhaltensweisen und unterzogen regelmäßig Drachen einer sogenannten Exzision, sobald sie verdächtigt wurden, Gefühle an den Tag zu legen. Eben jene Gefühle und alle damit verbundenen Erinnerungen wurden dabei getilgt. »Na wunderbar. Und was hast du diesmal gemacht, um die Aufmerksamkeit der Zensoren auf dich zu lenken?«
»Nichts«, beteuerte er eilig. »Sie ist ja auch keine Zensorin mehr.«
»Und ich dachte schon, sie sind hinter dir her, weil du mir eventuell Zuneigung entgegenbringen könntest«, sagte ich und fügte beißend hinzu: »Andererseits hätte ich das ja wohl als Erste bemerken müssen.«
»Ich bringe dir ein gebührendes Interesse entgegen, das sich im Rahmen der allseits anerkannten Gefühlsregungen hält.«
Das wiederum schien mir leicht übertrieben zu sein.
Man musste ihm allerdings zugutehalten, dass er immerhin im Laufe der Jahre bemerkt hatte, wie empfindlich ich auf dieses Thema reagierte. Nicht jeder Saar hätte sich darüber Gedanken gemacht. Er fing an zu zappeln, wie immer, wenn er mit einer Situation überfordert war. »Kommst du diese Woche zum Unterricht?«, fragte er und brachte damit die Sprache wieder auf ein unverfängliches Thema.
Ich seufzte. »Natürlich. Und du sagst mir jetzt, was dieses Kind dir gegeben hat.«
»Du glaubst, da gäbe es etwas zu erzählen«, sagte er ausweichend, fasste sich dabei jedoch an seine Brusttasche, wo er das Goldstück aufbewahrt hatte. Ich machte mir Sorgen, aber ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu drängen. Sollte es etwas zu sagen geben, würde er es mir sagen, wenn er Lust dazu hatte.
Er verbeugte sich, wie immer wenn er sich von mir verabschiedete. Dann drehte er sich wortlos um und schlug den Weg zur Kathedrale ein. Ihre Außenmauern erstrahlten rotgolden in der untergehenden Sonne. Orma warf einen großen dunklen Schatten an die Wand. Ich wartete, bis er hinter dem nördlichen Querschiff verschwunden war, erst dann ergab ich mich der Leere, die er hinterlassen hatte.
Sonst empfand ich meine Einsamkeit kaum noch; ich war immer einsam, notwendigerweise oder gar von Natur aus. Nach den Wirren des heutigen Tages aber bedrückte sie mich mehr als sonst. Orma wusste alles über mich, aber er war ein Drache. An guten Tagen war er auch ein Freund. An schlechten Tagen war sein ungehobeltes Benehmen so, als stolperte man auf einer Treppe. Es tat weh, aber man hatte stets das Gefühl, selbst daran schuld zu sein.
Trotzdem, ich hatte nur ihn.
Der rauschende Fluss unter mir, der Wind in den kahlen Bäumen, eine leise Melodie, die von den Tavernen nahe der Musikschule zu mir herüberwehte, das war alles, was ich hörte. Ich hatte die Arme um mich geschlungen, lauschte und sah zu, wie die Sterne allmählich am Himmel erschienen. Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen – sicher war es der Wind, der sie tränen ließ – und machte mich auf den Heimweg, dachte dabei an Orma und an jene Gefühle, die ich nicht zeigen durfte, an alles, was ich ihm verdankte und ihm niemals vergelten konnte.