Vierundzwanzig

Aber wem sollte ich davon erzählen?

Kiggs war wütend auf mich. Glisselda würde sich fragen, woher ich das wusste und weshalb ich es nicht früher bekannt hatte. Vermutlich könnte ich lügen und behaupten, Orma hätte es mir soeben erst erzählt, aber schon der Gedanke an Orma machte mir das Herz schwer.

Ich musste mit ihm darüber sprechen. Er würde es bestimmt wissen wollen.

Bei Tagesanbruch stand ich auf und setzte mich an das Spinett. Um mich gegen die Morgenkälte zu schützen, schlang ich die Arme um mich. Ich spielte Ormas Akkord und fragte mich, ob er antworten würde oder ob er schon in unbekannte Regionen aufgebrochen war.

Das Kätzchen erwachte zum Leben. »Hier bin ich.«

»Das sind schon dreiundachtzig Prozent dessen, was ich wissen wollte.«

»Und was ist mit den restlichen siebzehn Prozent?«

»Wann gehst du? Ich muss mit dir sprechen.«

Es folgte Stille, die ab und zu von einem dumpfen Poltern unterbrochen wurde, es hörte sich an, als stellte er schwere Bücherstapel auf dem Boden ab. Wenn er alle Bücher einpacken wollte, die er besaß, dann hatte er Glück, wenn er binnen einer Woche abreisen konnte. »Stell dir vor, dieser Schlupfling, den man mir aufgehalst hat, ist immer noch da.«

Bei allen Hunden der Heiligen. »Hat man dich nicht für unwürdig erklärt, ihn zu unterrichten?«

»Entweder stört es niemanden, dass ich ihn zur Abtrünnigkeit verführe – was durchaus möglich wäre, wenn man bedenkt, wie nutzlos er ist –, oder sie meinen, er kann mir beim Packen helfen – was er nicht tut.«

Aus der Katze hörte man ein ärgerliches Brummen, und dann sagte mein Onkel laut und deutlich: »Nein, das tust du nicht.« Ich zwinkerte dem Katzenauge verständnisvoll zu. »Um deine Frage zu beantworten«, sagte er schließlich, »in drei Tagen werde ich nach Hause und zur Exzision aufbrechen, an eurem Neujahrstag, nachdem ich alles hier eingepackt habe. Ich werde genau das tun, was das Gesetz von mir verlangt. Ich bin überführt worden und ich muss bestraft werden, etwas anderes gibt es nicht.«

»Ich muss mit dir unter vier Augen sprechen. Ich möchte dir Auf Wiedersehen sagen, solange du mich noch kennst.«

Es trat eine sehr lange Pause ein und ich fürchtete schon, das Gespräch wäre beendet. Besorgt klopfte ich auf das Katzenauge, aber dann hörte ich seine Stimme, wenn auch sehr leise. »Entschuldigung. Der Kehlkopf in diesem lächerlich anfälligen Körper hat verrückt gespielt, aber jetzt scheint er wieder zu funktionieren. Kommst du morgen mit der Hofgesellschaft in die Stadt, um dir die Goldenen Spiele anzusehen?«

»Ich kann nicht. Morgen ist Generalprobe für das Konzert am Gedenkabend des Friedensabschlusses.«

»Dann weiß ich nicht, wie ein Abschiedsgespräch zustande kommen soll. Ich glaube, an dieser Stelle wäre ein kräftiger Fluch angebracht, nicht wahr?«

»Nur zu«, ermunterte ich ihn, aber diesmal war die Verbindung wirklich unterbrochen.

Während ich meine Schuppen pflegte, mich anzog und Tee trank, rätselte ich über seine merkwürdigen Beteuerungen. Vielleicht hatte ich gerade den Versuch eines Drachen, sarkastisch zu sein, miterlebt. Es war schade, dass ich nicht wusste, wie dieses Gerät im Spinett funktionierte, denn es hätte das, was er gesagt hatte, sicher für kommende Drachengenerationen als lehrhaftes Beispiel aufzeichnen können, nach dem Motto: Knapp daneben ist auch vorbei.

Ich versuchte zu lachen, aber es klang hohl. Orma ging weg und ich wusste nicht, wann oder wohin oder für wie lange. Wenn er vor den Zensoren fliehen wollte, dann konnte er es nicht wagen, in meiner Nähe zu bleiben. Vielleicht verließ er mich für immer. Und vielleicht würde ich mich nicht einmal verabschieden können.

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Irgendetwas hatte sich verändert an diesem Tag, den ich im Bett verbracht hatte. In den Gängen vernahm man keine Stimmen mehr, alle gingen mit grimmigen und ängstlichen Mienen ihren Geschäften nach. Dass sich Drachen frei durchs Land bewegten, schien allen Sorgen zu bereiten. Als ich zum Frühstücken ging, bemerkte ich Menschen, die sich in Seitenzimmer verdrückten, sobald ich näher kam. Sie würdigten mich keines Blickes, und wenn sie im Gang an mir vorübergehen mussten, grüßten sie nicht.

Sie gaben doch nicht etwa mir die Schuld? Wir hatten Imlann zwar gefunden, aber ich hatte nicht die Kleine Arde nach ihm ausgesandt. Das hatten die Königin und der Rat getan. Ich redete mir ein, dass ich mir das alles nur einbildete, bis ich den Speiseraum des Nordturms betrat und der ganze Saal verstummte.

Auf der Bank zwischen Guntard und dem dürren Trompeter war noch ein Platz frei, wenn beide ein Stückchen zur Seite rückten. »Könntet ihr so freundlich sein«, bat ich, aber sie taten, als hörten sie mich nicht. »Ich würde mich gerne hierher setzen«, sagte ich, aber jeder von ihnen hatte eine derart interessante Schale mit Grütze vor sich stehen, dass sie nicht aufblicken konnten. Ich hob meine Röcke ganz undamenhaft hoch und stieg über die Bank. Jetzt konnten sie gar nicht schnell genug wegrücken. Der Trompeter beschloss, dass sein Frühstück so interessant nun auch wieder nicht war, und ließ es stehen.

Auch der Speisenträger wich meinem Blick aus, keiner am Tisch grüßte mich. Ich begriff es nicht. Diese Burschen waren, wenn schon nicht meine Freunde, so doch Kollegen und nicht zuletzt die Erfinder meines Loblieds. Das war doch etwas. »Raus mit der Sprache«, sagte ich. »Was habe ich getan, dass ihr mich so anschweigt?«

Sie sahen einander an, warfen sich von der Seite verlegene Blicke zu. Niemand wollte als Erster das Wort ergreifen. Schließlich fragte Guntard: »Wo warst du gestern Abend?«

»Im Bett. Ich habe den Schlaf nachgeholt, der mir in der Nacht zuvor gefehlt hat.«

»Ach ja, diese heldenhafte Suche nach dem abtrünnigen Drachen«, sagte ein Krummhornist und stocherte mit einer Gräte zwischen den Zähnen. »Damit hast du nicht nur den Drachen einen Vorwand verschafft, sich frei und ungeniert in Goredd herumzutreiben, sondern Prinzessin Glisselda einen Grund dafür geliefert, uns alle zu stechen!«

»Zu stechen?« Alle am Tisch, es waren durchweg Musiker, hielten einen verbundenen Finger hoch. Einige taten das auf eine sehr unflätige Weise. Ich versuchte, es nicht persönlich zu nehmen, was nicht so leicht war.

»Die sogenannte Maßnahme zur Artenfeststellung, die Prinzessin Glisselda ergriffen hat«, brummte Guntard.

Es gab nur einen zweifelsfreien Nachweis, wie man einen Saarantras von einem Menschen unterscheiden konnte: das silberne Blut. Glisseldas Absicht war klar: Sie wollte Imlann aufstöbern, falls er sich am Hof versteckt hielte.

Ein Lautenspieler fuchtelte gefährlich mit seiner Fischgabel herum. »Seht sie euch an, sie hat garantiert nicht vor, sich stechen zu lassen!«

Drachen werden nicht rot, sie werden blass. Meine hochroten Wangen hätten also jegliche Befürchtungen zerstreuen müssen, aber natürlich taten sie das nicht. Ich sagte: »Selbstverständlich lasse ich mich stechen. Ich habe nur soeben erst davon gehört, das ist alles.«

»Ich hab’s euch doch gesagt, ihr Ochsen«, rief Guntard und legte mir kameradschaftlich den Arm um die Schulter; plötzlich war er wieder mein Fürsprecher. »Mir sind die Gerüchte egal, unsere Fina ist kein Drache!«

Mein Magen sackte mir bis in die Kniekehlen. Puh, bei der lieben Sankt Prue. Zwischen den beiden Sätzen Sie will sich nicht stechen lassen und Sie ist angeblich ein verkleideter Drache lag ein riesiger Unterschied. Ich versuchte ruhig zu klingen, aber es hörte sich ziemlich piepsig an, als ich fragte: »Welche Gerüchte sind denn das?«

Keiner wusste, wer sie in Umlauf gebracht hatte, aber sie hatten sich tags zuvor wie ein Lauffeuer im ganzen Palast verbreitet. Serafina war angeblich ein Drache. Ich war nicht weggegangen, um den abtrünnigen Drachen zu stellen, sondern um ihn zu warnen. Ich sprach Mootya. Ich hatte Apparate. Ich hatte den Prinzen absichtlich in Gefahr gebracht.

Wie benommen saß ich da und versuchte herauszufinden, wer das alles über mich gesagt haben könnte. Vielleicht Kiggs? Ich wollte den Gedanken nicht zulassen, dass er tatsächlich so gehässig sein könnte. Nein, ich wollte den Gedanken nicht nur nicht zulassen, es war schlicht unmöglich. Skepsis gegenüber den Heiligen war mir schon in der Kindheit eingepflanzt worden, aber wenn ich an etwas glaubte, dann an Kiggs’ Ehrenhaftigkeit, sogar wenn er auf mich wütend war. Oder erst recht, wenn er wütend war, denn ich hielt ihn für jemanden, der umso entschiedener an seinen Prinzipien festhielt, je mehr er unter Druck stand.

Aber wer dann?

»Ich bin kein Drache«, sagte ich matt.

»Machen wir die Probe aufs Exempel«, rief Guntard und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Dann sind alle zufrieden und jeder hat seinen Spaß.«

Ich wich zurück, in der Annahme, er wolle mich stechen – aber womit denn, etwa mit seiner Gabel? –, aber Guntard stand auf und packte meinen linken Arm. Ich riss mich los, mit einem Lächeln starr wie Glas. Doch dann erhob ich mich freiwillig, um zu verhindern, dass er ein zweites Mal nach mir griff. Von allen Tischen aus sah man uns interessiert zu.

Wir durchquerten den gespenstisch stillen Saal und blieben vor dem Tisch der Drachen stehen. Heute Morgen saßen nur zwei von ihnen da, ein käsiger Drachenmann und eine Drachenfrau mit kurzen Haaren – unbedeutende Schreiberlinge, die man nicht auf die Jagd nach Imlann mitgenommen, sondern zurückgelassen hatte, damit sie sich um die Geschäfte in der Botschaft kümmerten. Sie saßen wie versteinert da, hatten ihr Brötchen fast bis zum Mund geführt und glotzten Guntard an, als wäre er eine sprechende Rübe, die ihnen aufgelauert hatte.

»Entschuldigt, Saarantrai«, rief Guntard so laut, dass man ihn im ganzen Saal hörte, an allen Tischen, an allen Fenstern, ja selbst bei der Küchendienerschaft. »Ihr könnt euresgleichen am Geruch erkennen, stimmt’s?«

Die Saarantrai tauschten einen argwöhnischen Blick aus. »Das Wort eines Saarantras gilt vor Gericht nichts, wenn es um bestimmte Angelegenheiten geht. Und dies ist eine solche Angelegenheit«, sagte der Drachenmann und wischte sich umständlich die Finger am Tischtuch ab. »Wenn du hoffst, so der Artenfeststellung zu entgehen, dann können wir dir leider nicht helfen –«

»Nicht mir. Serafina, unserer Musikmamsell. Sie wird sich stechen lassen wie wir alle, aber es kursieren einige sehr hässliche Gerüchte, und ich möchte sie ein für alle Mal aus der Welt schaffen.« Guntard legte theatralisch eine Hand auf die Brust, die andere streckte er in die Luft wie ein Schmierenkomödiant. »Sie ist meine Freundin, kein ekelhafter und hinterlistiger Drache! Riecht an ihr und sagt uns, dass es wahr ist.«

Ich stand da, die Arme um mich geschlungen, so als könnte dies mich davor bewahren, in Flammen aufzugehen wie die Schatulle der Erinnerung. Die Saarantrai mussten aufstehen und zu mir herkommen, damit sie überhaupt etwas riechen konnten. Die Drachenfrau schob mein Haar wie einen dunklen Vorhang zur Seite und schnüffelte hinter meinem Ohr. Der Mann beugte sich über meine linke Hand. Er würde etwas von meinem Geruch aufschnappen. Ich hatte den Verband, mit dem ich die mir selbst zugefügte Wunde abgedeckt hatte, heute Morgen gewechselt, aber er würde es zweifellos riechen. Vielleicht roch es für ihn nach etwas Essbarem; mein Blut war so rot wie das eines jeden Bewohners von Goredd.

Ich biss die Zähne aufeinander und machte mich auf den Paukenschlag gefasst.

Die Saarantrai drehten sich um und setzten sich wortlos wieder auf ihren Platz.

»Nun?«, fragte Guntard. Der ganze Saal hielt den Atem an.

Jetzt kam es. Ich sprach ein kurzes Gebet.

Die Drachenfrau sagte: »Eure Musikmamsell ist kein Drache.«

Guntard begann zu klatschen, es klang, als ob eine Handvoll Kies einen Berghang hinunterrieselte. Dann fiel eine Hand nach der anderen ein, bis eine Woge von Beifall über mir zusammenschlug.

Ich sah die Saarantrai ungläubig an. Zweifellos hatten sie meinen Drachengeruch wahrgenommen. Hielten sie mich für eine Gelehrte, die kein Glöckchen tragen musste, und hatten aus Respekt vor der Wissenschaft geschwiegen? Denkbar wäre es.

»Ihr solltet euch alle schämen, solchen Gerüchten Glauben zu schenken!«, schimpfte Guntard. »Serafina ist ehrbar, hübsch und liebenswürdig, eine verlässliche Freundin und eine hervorragende Musikerin …«

Der männliche Saar blinzelte ganz langsam wie ein Frosch, der sein Fressen verschlingt, der weibliche zeigte dezent, aber vielsagend zum Himmel. Kein Zweifel, sie hatten mich gerochen. Und sie hatten gelogen. Vielleicht hofften sie sogar, dass ich ein Drache war, der sich hier unerlaubt herumtrieb, schon allein um Guntard und all die anderen zu ärgern, die selbstgefällig meine edlen, sittsamen und ganz und gar nicht drachenhaften Eigenschaften rühmten.

Ich hatte die Kluft zwischen unseren beiden Völkern noch nie so deutlich gespürt wie in diesem Moment. Die beiden Saarantrai würden für die Menschen in diesem Saal keinen Finger rühren, und ob sie sich gegen Imlann stellen würden, war noch die Frage. Wie viele Drachen würden seine Partei ergreifen, wenn sie zwischen Gesetzesbruch und der Scheinheiligkeit in Goredd wählen müssten?

Guntard klopfte mir immer noch auf die Schulter und hob meine menschlichen Tugenden hervor. Ich drehte mich um und ging hinaus, ohne gefrühstückt zu haben. Im Geiste stellte ich mir vor, dass Guntard meine Abwesenheit noch gar nicht bemerkt hatte und weiter ins Leere klopfte.

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»Ich möchte, dass du dir morgen freinimmst. Schau dir die Goldenen Spiele an, besuche deine Familie, trink etwas, mach, was du willst«, sagte Viridius, als wir nach der Chorprobe in seiner Wohnung waren. Er hatte mir gerade eine Komposition diktiert, und seine unerwartete Aufforderung überrumpelte mich derart, dass ich den Federkiel unabsichtlich auf ein unbeschriebenes Pergamentblatt stieß, wo er einen riesigen Tintenklecks hinterließ.

»Habe ich etwas falsch gemacht, Meister?«, fragte ich und wischte mit einem Lappen über den Flecken.

Er lehnte sich in sein Samtkissen zurück und blickte durchs Fenster zum bedeckten Himmel und in den verschneiten Schlosshof. »Ganz im Gegenteil. Alles, was du in die Hand nimmst, gelingt. Ich finde, du hast dir einen Tag Erholung redlich verdient.«

»Ich hatte doch gerade einen freien Tag, zwei sogar, wenn ich den mitzähle, an dem mich der Drache heimgesucht hat.«

Er biss sich auf die Unterlippe. »Der Rat hat letzte Nacht einen Entschluss gefasst –«

»Über die Maßnahmen zur Artenfeststellung? Guntard hat mir davon erzählt.«

Er musterte mich. »Ich hielt es für ratsam, dass du währenddessen woanders bist.«

Meine Hände waren feucht geworden, ich trocknete sie an meinem Kleid ab. »Sir, wenn Ihr ein Gerücht meint, das über mich kursiert und das Unbekannte in Umlauf gebracht haben, dann kann ich Euch versichern –«

Er legte seine gichtkrummen Finger auf meinen Unterarm und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen«, sagte er. »Ich weiß, ich bin nicht gerade ein liebenswürdiger alter Kauz, und es ist nicht immer einfach, mit mir auszukommen, aber du hast gute Arbeit geleistet. Auch wenn ich es nicht sehr oft sage, so heißt das nicht, dass ich es nicht bemerke. Du bist das begabteste Geschöpf, seit Tertius von uns gegangen ist, möge er mit allen Heiligen zu Tisch sitzen.«

»Ein gutes Wort für mich einlegen – warum

Seine wulstigen Lippen zitterten. »Serafina, ich habe deine Mutter gekannt.«

»Ihr müsst Euch irren, Sir«, stieß ich hervor. Die Luft im Zimmer schien plötzlich nicht mehr auszureichen.

»Ich hörte sie in Schloss Rodolphi in Samsam spielen, vor ungefähr zwanzig Jahren, als ich mit Tertius – möge er am Herzen aller Heiligen ruhen – durchs Land reiste. Sie war bezaubernd. Als Tertius mir sagte, dass sie ein Saar ist, glaubte ich ihm anfangs nicht.«

Viridius zeigte auf den Wasserkrug. Ich goss ihm einen Becher Wasser ein, aber als ich es ihm hinhielt, sagte er: »Nein, das ist für dich. Du bist ganz grün im Gesicht. Beruhige dich, Kind. Ich weiß es schon lange und habe es stets für mich behalten, hörst du?«

Ich nickte zitternd. Der Becher schlug beim Trinken gegen meine Zähne.

Viridius klopfte mit seinem Stock leicht auf den Fußboden und gab mir Zeit, mich zu fassen. Als er meinte, ich könne ihm wieder zuhören, sagte er: »Ich habe Linn gebeten, am Sankt-Ida-Konservatorium zu unterrichten, das ich seinerzeit leitete. Sie sagte, das ginge nicht. Sie würde selbst noch lernen und wolle ihre Forschungen abschließen. Ich unterstützte ihren Antrag, sie vom Tragen der Glocke freizustellen, damit sie studieren konnte, ohne die Bibliothekare in Angst und Schrecken zu versetzen – oder ihre Studenten, denn ich hoffte immer noch, sie zum Unterrichten zu bewegen. Es schien mir eine gute Idee zu sein.«

In diesem Moment hätte ich ihn am liebsten geschlagen, als wäre er der Schuldige, der mir alles eingebrockt hatte. »Nein, das war es nicht.«

»Alles in allem betrachtet vielleicht nicht. Aber deine Mutter konnte sich wirklich in der Gesellschaft bewegen, sie war außergewöhnlich. Weder verwöhnt noch schüchtern noch albern, sondern stark und zupackend, und sie ließ sich von anderen nichts gefallen. Wenn ich mich für Frauen interessiert hätte, wäre sogar ich in Versuchung geraten, mich in sie zu verlieben. Aber das ist nur eine hypothetische Frage, etwa so wie die, ob man die Welt mit einem Hebel aus den Angeln heben könnte. Man könnte es und kann es doch nicht. Mach deinen Mund wieder zu, Kindchen.«

Mein Herz hämmerte so wild, dass es wehtat. »Ihr habt gewusst, dass sie ein Saar und mein Vater ein Mensch ist, und habt es niemandem gesagt?«

Er stand mühsam auf und humpelte zum Fenster. »Ich bin ein Daaniter. Ich gehe nicht umher und kritisiere die Liebschaften anderer Leute.«

»Als ihr Förderer, hättet Ihr sie da nicht der Botschaft melden müssen, um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen?«, fragte ich ihn mit tränenerstickter Stimme. »Hättet Ihr meinen Vater nicht wenigstens warnen können?«

»Im Nachhinein scheint, es wäre das Natürlichste auf der Welt gewesen«, sagte er leise und betrachtete einen Fleck auf seinem weiten Leinenhemd. »Damals habe ich mich einfach nur für sie gefreut.«

Schluchzend holte ich Luft. »Warum erzählt Ihr mir das jetzt? Ihr habt doch nicht die Absicht –«

»Meine unvergleichliche Gehilfin wegzuschicken? Hältst du mich für verrückt, Mädchen? Weshalb, denkst du, warne ich dich vor dem Bluttest? Wir werden dich irgendwohin wegzaubern oder suchen eine hochgestellte Persönlichkeit, die vertrauenswürdig ist und ein Geheimnis für sich behalten kann. Der Prinz –«

»Nein«, fiel ich ihm sofort ins Wort. »Das ist nicht nötig. Mein Blut ist genauso rot wie das Eure.«

Er seufzte. »Da habe ich dir also völlig umsonst offenbart, wie sehr ich deine Arbeit schätze. Jetzt glaubst du wahrscheinlich, du könntest dich selbstzufrieden auf die faule Haut legen.«

»Nein, Viridius«, sagte ich und ging zu ihm. Gerührt drückte ich ihm einen Kuss auf sein schütteres Haar. »Ich weiß wohl, dass das allein Euer Vorrecht ist.«

»Damit hast du verdammt recht«, brummte er. »Und ich habe es auch verdient.«

Ich half ihm zu seinem Gichtsofa zurück, und er diktierte mir das Hauptthema und die beiden Nebenthemen seiner Komposition zu Ende, dazu skizzierte er noch den Übergang des einen Themas in das andere mit einem ganz besonderen Tonartwechsel. Anfangs schrieb ich alles mechanisch auf, ich brauchte erst noch Zeit, um mich zu beruhigen, nachdem mir Viridius sein Wissen um das Wesen meiner Mutter offenbart hatte. Aber schließlich tat die Musik ihre besänftigende Wirkung und zugleich setzte sie mich in Erstaunen. Ich kam mir vor wie ein Bauernmädchen, das zum ersten Mal in seinem Leben eine Kathedrale betritt. Hier gab es auch so etwas wie frei schwebende Stützpfeiler und Rosettenfenster der Musik, es erhoben sich Säulen und Bögen und dazwischen beinahe schlicht anmutende Abschnitte der Komposition. Und alles diente einem einzigen Zweck: den majestätischen Klangraum noch prächtiger und vollkommener erscheinen zu lassen, damit das Werk sich bis zum Himmel aufschwang und Ehrfurcht gebot wie die Architektur aus Stein und Licht.

»Ich glaube, du nimmst mich nicht ernst«, grummelte Viridius, als ich zum Abschluss meine Feder säuberte.

»Sir?«, fragte ich bestürzt. Die vergangene Stunde hatte ich seine Kunst aufrichtig bewundert. Nach meinem Dafürhalten war das sehr wohl ein Zeichen, dass ich ihn ernst nahm.

»Du bist noch so neu am Hofe, dass du wahrscheinlich nicht weißt, welchen Schaden dir solche Gerüchte zufügen können. Geh weg von hier, Mädchen. Es ist nichts Ehrenrühriges dabei, wenn du dich mit Bedacht etwas zurückziehst und abwartest, bis der Skandal, dieser verdammte Basilisk, seinen lüsternen Blick auf jemand anderen richtet, besonders wenn man, wie in deinem Fall, tatsächlich etwas zu verbergen hat.«

»Ich werde mir das durch den Kopf gehen lassen«, sagte ich und knickste.

»Nein, das wirst du nicht«, knurrte er. »Du ähnelst deiner Mutter viel zu sehr.«

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Es wurde schon sehr früh dunkel, was auch an der düsteren Wolkendecke lag, und die Luft roch nach noch mehr Schnee. Nach einem langen Tag, an dem ich viele Aufträge und Aufgaben zu erledigen hatte, musste ich nun noch der Prinzessin Cembalounterricht geben. Sie hatte ebenfalls einen anstrengenden Tag gehabt, der Rat hatte sie ganz in Beschlag genommen. Fünfmal hatte sie mir einen Boten gesandt und jedes Mal darum gebeten, den Unterricht weiter zu verschieben, und nun war es schon fast Abendessenszeit. Auf meinem Weg zum Südflügel suchte mich nun erneut ein Bote auf. Gut möglich, dass ich ihn mit einer etwas allzu säuerlichen Miene empfing, denn der Bursche streckte mir zum Abschied die Zunge heraus, ehe er durch die Halle davoneilte.

Augenscheinlich hatte sie die Mitteilung nicht selbst geschrieben, sondern diktiert. Sie lautete: Die Prinzessin erwartet dich unten in der zweiten Wäscherei. Es ist dringend. Komm sofort.

Ich blinzelte verwirrt. Warum wollte Glisselda mich an einem so merkwürdigen Ort treffen? Hatte sie Angst, dass uns jemand belauschte?

Ich stieg eine schmale Dienstbotentreppe hinunter, die zum Versorgungstrakt im Keller führte. Die Decke war so niedrig, dass ich mich ducken musste. Ich ging unter dem großen Saal und den Staatsgemächern hindurch, vorbei an Lagerräumen, Dienstbotenquartieren und dem verriegelten düsteren Eingang zum Hauptturm.

Ich kam zu einer Wäscherei, aus der heißer Dampf drang, aber es war offenkundig die falsche, denn von Prinzessin Glisselda war weit und breit nichts zu sehen. Ich befragte eine Wäscherin, die mich weiter den Korridor entlang schickte, dorthin, wo er besonders dunkel war.

Der Gang führte zu dem riesigen Heizkessel, von dem aus das Bad der Königin erwärmt wurde. Drei grimmig dreinschauende Männer schaufelten Kohle in das aufgerissene Kesselmaul, was in mir unangenehme Erinnerungen an Imlann weckte.

Die Männer glotzten anzüglich, stützten sich auf ihre Schaufeln und grinsten mich aus ihren zahnlosen Mündern an.

Ich blieb stehen, der Gestank der Kohle reizte meine Nase. Hatte ich die Wäscherin richtig verstanden? Niemand würde Kleider anziehen wollen, die so nahe beim Kohlenfeuer gewaschen wurden.

Ich überlegte, ob ich die Heizer nach dem Weg fragen sollte, aber in ihren Gesichtern lag etwas Unheilvolles. Stumm sah ich ihnen beim Schaufeln zu, ich konnte mich nicht von dem Anblick losreißen. Sogar aus dieser Entfernung brachte die Hitze mein Gesicht zum Glühen. Die Umrisse der Männer wirkten in dem teuflischen Widerschein wie schwarze, ausgefranste Löcher. Beißender Qualm erfüllte den Raum, meine Augen tränten und meine Lunge stach.

Hier war es wie im Inferno; ich sah die Qualen, die auf jene Seelen warteten, die das Licht des Himmels scheuten. Und doch dachten die meisten Menschen, ewige Qualen auszustehen, sei immer noch besser, als gar keine Seele zu haben. Ich fragte mich, wieso.

Ich wandte dem Abbild der Hölle den Rücken zu und wollte gehen, als eine dunkle, gehörnte Gestalt mir den Weg versperrte.

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