Vierzehn
Am nächsten Morgen – es war der Vortag von Comonots Besuch und Viridius war fest entschlossen, mit uns bis zum Umfallen zu üben – stand ich zeitig auf, um zuerst mit Orma zu sprechen und dann sofort Kiggs Bescheid zu geben. Ich spielte unseren Akkord auf dem Spinett und wartete, verbrannte mir die Zunge am heißen Tee und überlegte bereits, wo sich Kiggs um diese Tageszeit aufhalten würde. Er hatte eine Amtsstube in der Nähe der Hauptwache, das wusste ich, aber er verbrachte auch viel Zeit in der Stadt.
Als das Spinettkätzchen sich schließlich zu Wort meldete, erschrak ich so sehr, dass ich fast meine Teetasse fallen ließ.
»Kann jetzt nicht reden«, dröhnte Ormas Stimme. »Ich spiele den Aufpasser für Basind.«
Den Schlupfling hatte ich glatt vergessen. »Und wann kannst du reden?«
»Abendessen? In der Flutschigen Flunder? Um sechs?«
»Einverstanden, aber lieber wäre mir um sieben. Viridius wird uns heute schinden, bis uns die Finger bluten.«
»Also bis später. Nicht herunterschlucken!«
Ich sah verwundert auf meine Tasse Tee. »Wieso nicht?«
»Nicht du, sondern Basind.« Das Kätzchen knisterte und dann war alles still.
Seufzend wandte ich mich ab und hörte im selben Moment, wie die große Uhr im Palasthof schlug. Ich hatte noch mehr als genug Zeit für meine morgendlichen Gepflogenheiten und das Frühstück. Früh dran zu sein, hatte auch sein Gutes; auf diese Weise hatte Viridius heute gewiss nichts zu bemängeln.
Ich betrat die große Halle von Schloss Orison überpünktlich und hellwach. Eine Schar Zimmerleute bevölkerte die Bühne, was nicht unbedingt ein gutes Zeichen war, aber von dem gichtkranken alten Mann mit dem schütteren Haar war keine Spur zu sehen. Die Musiker wimmelten wie emsige Ameisen durch die Halle, einzig Viridius war nirgendwo zu entdecken. Nach einer Weile tauchte sein träger Diener Marius auf und verkündete das Offensichtliche: »Der Meister ist nicht da.«
»Was soll das heißen, er ist nicht da? Heute ist die Generalprobe.«
Marius räusperte sich. »Der Meister hat mir Folgendes aufgetragen: Sag Serafina, dass ich alles in ihre äußerst geschickten Hände lege. Sie soll insbesondere die Einsätze und Schlussakkorde üben.«
Ich biss mir auf die Lippe, um nicht mit dem Erstbesten rauszuplatzen, was mir in den Sinn kam, und auch mit dem Zweitbesten nicht, dann sagte ich: »Wo steckt er denn?«
Der grauhaarige Mann zog den Kopf ein, offenbar war mein Ton etwas zu scharf gewesen. »In der Kathedrale. Sein Schützling hat irgendwelche Schwierigkeiten …«
»Lars?«, fragte ich und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie jemand mit etwas zu neugierigen Ohren hinter mir stehen blieb. »Was genau ist passiert?«
Der Diener zuckte die Schultern. »Das wollte der Meister mir nicht sagen.«
»Das Übliche, was sonst«, höhnte Graf Josef, der heimliche Zuhörer. »Der Kerl krakeelt herum, bringt seine schmutzigen Radtgrauser mit in die Kathedrale, betrinkt sich und demoliert diesen merkwürdigen Apparat.«
Wenn ich ihn recht verstand, sprach er von »roten Frauen«.
»In Goredd tragen sie schwarze und gelbe Streifen«, versuchte ich meinen Ärger mit einem Scherz zu überspielen. »Aber ich nehme an, das wisst Ihr aus erster Hand.«
Der Graf fuhr mit der Zunge über seine makellosen Zähne und zupfte an seinen Ärmelrüschen. »Normalerweise würde ich mich nicht darum scheren, aber ich mag dich, Grausleine. Also halte dich von Lars fern. Er ist ein Daaniter und ein Lügner und Unruhestifter obendrein. Er ist im Grunde gar kein Mensch.«
»Viridius vertraut ihm«, entgegnete ich.
»Meister Viridius hat eine gefährliche Schwäche für ihn entwickelt«, sagte der Graf. »Ihr beide scheint nicht zu begreifen, mit wem ihr es zu tun habt. Ich bete jeden Tag, dass Sankt Ogdo ihn zermalmen möge.«
Wie gerne hätte ich erwidert, dass ich sehr wohl wusste, mit wem ich es zu tun hatte, und mich das ganz und gar nicht störte, aber alles, was ich herausbrachte, war: »Eure Meinung kümmert mich nicht. Er ist mein Freund. Ich werde mir diese Verleumdungen nicht länger anhören.«
Ohne Vorwarnung schlang er den Arm um meine Taille. Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, aber seine Hände umklammerten mich wie Hummerscheren. »Du bist die süßeste und unschuldigste Grausleine, die man sich nur vorstellen kann«, murmelte er. »Aber es gibt Menschen auf dieser Welt, die entsetzliche und allen Gesetzen der Natur zuwiderlaufende Dinge tun. Dinge, die ein so leichtgläubiges Kind wie du sich nicht ausmalen kann. Mit ihm ist dein schrecklichster Albtraum wahr geworden. Hör auf meine Warnung und halte dich von ihm fern. Ansonsten fürchte ich das Schlimmste für dich.«
Er beugte sich vor und küsste mein Ohr, wie um eine geheime Absprache zu besiegeln. Plötzlich wich er zurück. »Was für ein seltsames Parfüm benutzt du da?«
»Lasst mich los«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Josef schnaubte, gab mich jedoch frei. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stolzierte er davon.
Ich kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Er hatte meinen Duft gerochen. Hatte er ihn auch als Saar identifiziert?
Mit dem letzten Rest Würde, der mir nach dieser Erniedrigung geblieben war, ging ich zu den versammelten Musikern, entschlossen, dem gestrengen Viridius in nichts nachzustehen. Vermutlich erwarteten sie auch gar nichts anderes von mir.
Die Bühne war sehr eindrucksvoll, aber wie sich herausstellte, auch sehr gefährlich, was fünf Bassisten leidvoll am eigenen Leibe erfuhren, als sie plötzlich durch eine Falltür stürzten. Ich schrie die Zimmerleute an und wich mit dem Chor auf die andere Seite der Halle aus, während die Handwerker erneut ans Werk gingen. Wenig später stellte sich heraus, dass der Vorhangmechanismus nicht funktionierte, überdies rutschte das Kostüm des Stelzenläufers mitten in seiner Darbietung herunter – unter anderen Umständen ein Anlass zu allgemeiner Heiterkeit –, und auch Josefs Gambensolo ließ einiges zu wünschen übrig.
Letzteres erfüllte mich nicht mit Genugtuung, denn ich hatte den Verdacht, dass er damit nur meine Aufmerksamkeit erregen wollte. Ich blickte stur in die andere Richtung.
Für eine Generalprobe waren die Pannen zwar nichts Ungewöhnliches, aber meine Stimmung besserte sich dadurch auch nicht. Ich knurrte jeden bärbeißig an, egal ob er es verdiente oder nicht. Die Wandermusikanten reagierten verunsichert, die Palastmusiker erheitert. Ich gab bestenfalls eine schlechte Kopie von Viridius ab, egal wie launenhaft ich auch war. Im Vorbeigehen hörte ich immer wieder Teile meines Loblieds, und das machte es schwierig, den Missmut aufrechtzuerhalten.
Irgendwann war es Abend und meine Musiker beschlossen, sie hätten nun genug geschuftet. Was aber nur bedeutete, dass sie in einer Ecke der Halle nur so zum Spaß weitermusizierten. Musik bedeutete nur Arbeit, wenn sie auf Geheiß eines anderen stattfand. Ich hätte mich gerne zu ihnen gesellt, was ich, wie ich fand, auch redlich verdient hatte, aber Orma wartete auf mich. Also packte ich meine Sachen und eilte in die Stadt.
Die Wärme in der Gaststube der Flutschigen Flunder war sehr angenehm, auch wenn ich mich in der Gesellschaft von Fremden und umgeben von Rauch, Geplauder und Wirtshauslärm nicht sonderlich wohlfühlte. Das Kaminfeuer und die Lampen spendeten nur ungenügend Licht. Es dauerte eine Weile, bis ich alle Tische gemustert und festgestellt hatte, dass Orma noch nicht da war. Ich suchte mir einen Platz in der Nähe des Kamins, bestellte bei der mich spöttisch belächelnden Wirtsmagd ein Gerstenwasser und wartete.
Es passte nicht zu Orma, unpünktlich zu sein. Ich nippte an meinem Getränk und hielt eisern den Blick gesenkt, bis ein kleiner Tumult an der Eingangstür meiner Neugier doch noch zum Sieg verhalf.
»Ihr könnt den da nicht einfach so anschleppen«, schnarrte der Schankwirt, der hinter der Theke hervorgekommen war und einen kräftig aussehenden Koch als Unterstützung dabeihatte. Ich drehte mich um; Orma stand draußen im Flur und löste gerade die Schnalle seines Umhangs. Hinter ihm verharrte Basind, sein Glöckchen bimmelte leise. Einige Gäste nahe der Tür schlugen rasch das Sankt-Ogdo-Zeichen oder drückten Duftsäckchen an die Nasen, als müssten sie sich gegen eine ansteckende Krankheit schützen.
Der Schankwirt verschränkte die Arme über seiner schmuddeligen Schürze. »Das hier ist ein ehrenwertes Haus. Bei uns haben schon Baronet Meadowburn und Gräfin Paraday verkehrt.«
»Tatsächlich?«, sagte Orma gebührend beeindruckt. Der Schankwirt fasste dies als Verhöhnung auf und warf sich in die Brust; der Koch tastete nach seinem Hackmesser.
Doch da war ich längst aufgesprungen und hatte eine Münze auf den Tisch geschleudert. »Lass uns rausgehen!«, sagte ich.
Die frische Nachtluft war angenehm, der Anblick des geduckten Basind allerdings nicht.
»Wieso hast du ihn mitgebracht?«, fragte ich ungehalten, als wir hinaus auf die menschenleere Straße traten. »Du hättest doch wissen müssen, dass man ihn nicht bedienen würde.«
Orma öffnete den Mund, aber Basind kam ihm zuvor und verkündete: »Wo mein Lehrmeister hingeht, da gehe auch ich hin.«
Orma zuckte die Schultern. »Es gibt andere Gasthäuser, wo wir etwas zu essen bekommen.«
Die gab es tatsächlich, aber alle befanden sich in einem ganz bestimmten Viertel der Stadt.
Quighole war nach Sonnenuntergang mehr oder weniger ein verlassener Ort. Lediglich zwei Straßen führten dorthin, wo einst der Sankt-Jobertus-Platz gewesen war, und der Zugang zu beiden war mit einem hohen schmiedeeisernen Tor versperrt, das die Königliche Garde allabendlich mit großem Zeremoniell verriegelte. Natürlich hatten die Gebäude, die sich um den Platz reihten, allesamt Hintertüren, und man musste nur durch einen Laden, ein Wirtshaus oder ein Wohnhaus der Quigs gehen, um ungehindert dorthin zu gelangen, von dem Zugang über diverse unterirdische Tunnel, die sich seit altersher unter der ganzen Stadt und der Palastanlage hinzogen, ganz zu schweigen. Missmutige Saarantrai beschrieben Quighole als Kerker. Wenn das stimmte, dann war es allerdings ein sehr durchlässiges Gefängnis.
Früher war das alte Sankt Jobertus eine Kirche gewesen, aber als die Gemeinde immer weiter wuchs, errichtete man ein neues Sankt Jobertus auf der anderen Seite des Flusses, das sehr viel mehr Platz bot. Nach dem Friedensschluss äußerten einige Drachen den Wunsch, ein kleines Kolleg zu führen, um den von Comonot angeregten kulturellen Austausch zu fördern. Das alte Sankt Jobertus stand leer und bot sich für diese Zwecke an. Neben den vom Glockenzwang befreiten Drachenstudenten, wie zum Beispiel Orma, die möglichst unauffällig die seltsamen Menschensitten erforschten, gab es natürlich auch Gelehrte mit Diplom, die Glöckchen trugen und nach Sankt Bert gekommen waren (wie es jetzt genannt wurde), um ihre hoch entwickelten Wissenschaften den rückständigen Menschenwesen zu vermitteln.
Es fanden sich allerdings nur wenige Studenten ein, und noch weniger gaben auch zu, solche zu sein. Zwar bildete Sankt Bert die besten Ärzte aus, aber die meisten Leute wollten sich nicht von jemandem behandeln lassen, der irgendwelche geheimnisvolle Saar-Medizin anwendete. Der jüngste Skandal, bei dem es um das Sezieren menschlicher Leichname gegangen war, hatte dieses Misstrauen weiter geschürt. Die Proteste überall in der Stadt hatten beinahe zu einem Blutbad geführt; man verlangte Sühne von den Saarantrai und ihren Studenten, die es gewagt hatten, in den sterblichen Überresten von Menschen zu wühlen. Es war sogar zu einer Gerichtsverhandlung gekommen, in der mein Vater wieder einmal eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Sezieren war strengstens verboten, weshalb auch mehrere Drachen nach Tanamoot zurückgeschickt worden waren. Das hielt die Ärzte jedoch nicht davon ab, im Geheimen ihre Arbeit fortzusetzen.
Ich war erst ein einziges Mal in Quighole gewesen. Damals hatte Orma mich dorthin mitgenommen, um eine Salbe gegen das Jucken zu kaufen. Es war kein passender Ort für ehrbare junge Mädchen, und mein Vater hatte mir eingeschärft, mich tunlichst davon fernzuhalten. So oft ich auch seine Verbote und Einwände missachtete, in diesem Fall fügte ich mich willig drein.
Orma führte uns in eine Gasse zu einem Haus, beugte sich über das Hoftor, entriegelte es und betrat mit uns einen ungepflegten Küchengarten. Unter unseren Füßen knackten alte Kürbisranken, hinter einem Gatter grunzte ein Schwein und in einem Verschlag lagerte faulendes Gemüse. Es stand zu befürchten, dass jeden Augenblick der Bewohner des Hauses auftauchen und uns mit einer Mistgabel bedrohen würde.
Aber Orma ging schnurstracks zur Tür und klopfte drei Mal. Nichts rührte sich. Er klopfte wieder und kratzte mit den Fingernägeln über den abblätternden Farbanstrich.
Eine kleine Fensterluke ging auf. »Wer da?«, fragte eine Stimme.
»Der Iltis«, sagte Orma. »Ich bin gekommen, um dem Nerz eins auszuwischen.«
Eine alte Frau mit zahnlosem Grinsen ließ uns hinein. Ich folgte Orma mehrere Stufen hinunter in ein muffiges Halbdunkel. Wir gelangten in einen feuchten, stinkenden Keller, der von einem großen Kaminfeuer und kleinen Laternen erhellt wurde, nicht zu vergessen von einer Leuchterfigur in Gestalt einer schwebenden Meerjungfrau mit Geweih und ungeniert dargebotenen nackten Brüsten, die zwei Kerzen wie Schwerter in Händen hielt. Beim Anblick ihrer hervorquellenden Augen fragte ich mich unwillkürlich, ob sie in mir womöglich ein schwesterliches Ungeheuer wiedererkannte.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an das flackernde Licht. Wir befanden uns in einem illegalen Wirtshauskeller. An klapprigen Tischen tummelte sich eine bunte Gästeschar – Menschen, Saarantrai und Quigutl. Die Menschen und Saarantrai saßen gemeinsam an den Tischen, Studenten diskutierten tief in Gedanken versunken mit ihren Lehrern. Ein Saar war gerade dabei, die Prinzipien der Oberflächenspannung zu demonstrieren – fast so wie damals Zeyd, ehe sie mir auf ihre ganz spezielle Art eine Lektion zur Schwerkraft erteilt hatte -, indem er ein Glas Wasser verkehrt herum hielt und nur ein Pergamentblatt das Wasser daran hinderte, sich über die staunenden Studenten zu ergießen. In einer anderen Ecke war man dabei, ein kleines Säugetier zu sezieren, oder war es nur das Essen, oder beides?
Niemand ging aus freien Stücken nach Quighole. Ich hatte engere persönliche Beziehungen zu Saarantrai als die meisten anderen Menschen, aber selbst ich war erst ein einziges Mal hier gewesen. Noch nie zuvor hatte ich meine beiden … Familienzweige auf so engem Raum beieinander gesehen, und der Anblick brachte mich ein wenig aus der Fassung.
Die Menschenstudenten gaben sich zwar nicht sonderlich mit den Quigutl ab, dennoch war es bemerkenswert, wie wenig Aufhebens sie um die Kreaturen machten. Niemand lehnte Essen ab, nur weil Quigs es berührt hatten – die Mahlzeiten wurden nämlich von ihnen serviert –, und niemand kreischte auf, wenn er einen von ihnen unter dem Tisch entdeckte. Einige Quigutl klebten an den Vorhängen und an den Wänden, einige saßen gemeinsam mit Saarantrai an Tischen. Der Gestank in der Luft stammte zweifellos von schlechtem Quig-Atem, aber unsere Nasen gewöhnten sich zum Glück recht bald daran. Als wir endlich an einem Tisch saßen, fiel mir der üble Geruch schon nicht mehr auf.
Orma ging, um die Bestellung aufzugeben, und ich blieb mit Basind allein zurück. Unser Tisch war mit lauter Rechnungen vollgekritzelt. Ich gab vor, sie eingehend zu studieren, tatsächlich jedoch musterte ich mein Gegenüber. Basind glotzte ausdruckslos zum Nebentisch, an dem lauter Quigs saßen.
In seiner Gegenwart konnte ich kaum offen mit Orma reden, und doch würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben.
Ich folgte Basinds Blick und hielt überrascht den Atem an. Die Quigs am Nebentisch ließen ihre Zungen schnalzen und sprühten Funken. Ich konnte es nicht so genau erkennen, aber es hatte den Anschein, als würden sie die Gestalt einer Flasche verändern, indem sie mit ihrem heißen Atem das Glas schmolzen und es dann formten wie weichen Karamell. Den langen, geschickten Fingern an den rutenförmigen Rückenarmen – sie hatten Gliedmaßen dort, wo sich bei den Drachen die Flügel befanden – schien die Hitze nichts auszumachen. Sie zogen das Glas so dünn wie Draht, erhitzten es erneut und fertigten daraus hauchzarte Gebilde.
Orma kehrte an den Tisch zurück und stellte die Getränke ab. Er folgte meinem Blick. Aus grünen Glasfäden zwirbelten die Quigutl ein eiförmiges Geflecht von der Größe eines Korbs.
»Warum nehmen die Glasbläser sie nicht in ihre Dienste?«, fragte ich ihn.
»Aus demselben Grund, aus dem die Goldschmiede es nicht tun«, erwiderte er und reichte Basind eine Tasse Gerstenwasser. »Unter anderem deshalb, weil sie nur widerwillig den Anweisungen anderer folgen.«
»Wieso verstehen Saar nichts von Kunst?«, fragte ich und bewunderte die schimmernde Glaskreation. »Die Quigs tun es ja auch.«
»Das hat nichts mit Kunst zu tun«, sagte Orma knapp.
»Wie willst ausgerechnet du das beurteilen?«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Wir schätzen Kunst nicht auf die gleiche Weise, wie Menschen es tun. Im Grunde hat sie keinerlei Bedeutung für uns.«
Einer der Quigs kletterte auf den Tisch und setzte sich auf das gläserne Ei. Es zersplitterte in tausend Scherben.
»Hab ich’s nicht gesagt?«, murmelte Orma.
Ich dachte an die Echse mit Menschengesicht in meiner Börse; die kleine Figur rührte mich auf seltsame Weise an. Vielleicht hatte Orma trotz allem unrecht.
Der Schankwirt kam herbeigeeilt. Er fuchtelte mit einem Besen herum und polterte los, woraufhin die Quigs die Flucht ergriffen. Einige krochen unter den Tisch, andere huschten die Wand hinauf. »Fegt sofort die Scherben auf!«, rief er. »Ihr könnt hier nicht einfach herumhüpfen wie die Affen.«
Die Quigs zischten Beleidigungen, kamen jedoch zurück und machten den Tisch sauber. Mit den Haftklauen ihrer Arme am Bauch sammelten sie die Scherben ein, steckten sie in den Mund, kauten und spukten sie dann als geschmolzene Kugeln in ein Glas Bier.
Auch an unserem Tisch stand ein Glas Bier, Orma hatte es für sich bestellt. Basind beugte sich neugierig darüber und schnüffelte daran. Als er sich zurücklehnte, hatte er einen Tropfen Schaum an der Nase. »Das ist ein Rauschmittel. Ich müsste es melden.«
»Wie lautet Anmerkung 9 der Ausnahmeregelungen?«, fragte Orma kalt.
»Ein Gelehrter, der inkognito unterwegs ist, darf vom Standardprotokoll Nr. 22 und Nr. 27 abweichen wie auch von jeder anderen Bestimmung, um gegebenenfalls seine Tarnung nicht zu gefährden.«
»So ist es.«
»Zusatz Nummer 9a«, fuhr Basind ungerührt fort. »Besagter Gelehrter muss in Formular 89XQ sämtliche Regelverletzungen auflisten und sich auf Nachfrage einer psychologischen Befragung unterziehen und/oder die Unumgänglichkeit seiner Handlungsweise vor der Zensurbehörde darlegen.«
»Das reicht, Basind«, knurrte Orma. Wie der Schutzpatron der Komödie es wollte, brachte just in diesem Moment ein Quigutl unser Abendessen: in Öl gedünstetes Lamm für mich, Lauch und Rüben für Basind und für meinen Onkel eine fette gegarte Wurst.
»Wie ist das eigentlich? Muss man für jedes Vergehen ein separates Formular ausfüllen oder kann man Wurst und Bier zusammen angeben?«, fragte Basind überraschend spitzfindig.
»Auf getrennten Formularen, wenn ich mal wieder mit einer Anhörung dran bin«, erwiderte Orma trocken. Er nahm einen Schluck. »Du kannst mir später beim Ausfüllen helfen.«
»Eskar sagt, dass es nicht ohne guten Grund solche Regeln gibt«, brabbelte Basind. »Ich muss zum Beispiel Kleidung tragen, damit ich die Leute nicht verschrecke. Ich darf keine Butter auf meine juckende Haut schmieren, weil sich sonst meine Zimmerwirtin aufregt. Und wir dürfen kein Fleisch von Tieren essen, weil es unseren Hunger nach menschlichem Fleisch und Blut anregt.« Er sah mich aus seinen scheußlichen Glupschaugen an.
»Das ist in etwa der Grundgedanke«, bestätigte Orma. »Aber ich bin niemals in Versuchung geraten, zumindest nicht bei Würstchen, denn mit Fleisch hat dieses Gericht nicht mehr allzu viel zu tun.«
Basind sah sich in dem dämmrigen Kellerraum um. Er ließ den Blick über die anderen Saarantrai schweifen und murmelte: »Ich müsste alle hier im Raum melden.«
Orma beachtete ihn nicht weiter, sondern holte einige Münzen aus einer versteckten Wamstasche hervor, ließ die Hand unter dem Tisch verschwinden und klimperte mit den Geldstücken. Blitzschnell huschten die Quigs unter den Tisch und ringelten sich wie Schlangen um unsere Füße. Das war selbst mir ein bisschen zu viel.
Orma streute die Münzen aus, als würde er Hühner füttern. Die Quigs balgten sich um die Geldstücke, hielten einen Augenblick inne und scharten sich dann erwartungsvoll um Basind.
»Weg da!«, sagte Basind verdattert. »Lasst mich in Ruhe!«
Ich begriff zuerst nicht, dass Orma uns mit seinem kleinen Trick eine kurze Verschnaufpause verschafft hatte, damit wir in Ruhe reden konnten, bis er meinen Arm packte, mich vom Tisch wegzog und raunte: »Ich kenne die Handzeichen der Quigs, ich habe ihnen zu verstehen gegeben, dass Basind zu Hause einen Schatz hortet. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann schieß los.«
»Ich habe Kiggs die Goldmünze gezeigt und ihm von deinem Verdacht erzählt.«
»Und?«
»Ein abtrünniger Drache wurde auf freiem Feld gesichtet. Zwei Ritter wollen ihn mit eigenen Augen gesehen haben. Ich habe mit den beiden gesprochen. Sie behaupten, sein linker Flügel sei durchlöchert; Form und Umriss erinnere an eine Ratte. Hat dein Vater so eine Verletzung?«
»Er hat eine Verletzung, die von Eissplittern herrührt, aber sie dürfte inzwischen längst verheilt sein. Was nicht heißt, dass nicht neue Schrammen hinzugekommen sind.«
»Mit anderen Worten, es kann sich um Imlann handeln oder auch nicht«, seufzte ich enttäuscht. »Was kannst du mir über seine natürliche Gestalt sagen? Woran könnte Kiggs ihn erkennen?«
Orma hatte den Saarantras seines Vaters so vage beschrieben, dass ich mit der nun folgenden Genauigkeit gar nicht gerechnet hatte: der besondere Schimmer von Imlanns Haut (der im Mondlicht variierte), die außerordentliche Schärfe seiner Krallen, die genaue Form und Farbe seiner Augen (die sich veränderte, sobald er sein drittes Augenlid schloss), die Krümmung seines Horns und wie er seine Flügel faltete (mit geradezu mathematischer Präzision), sein streng riechender, schwefeliger Atem, seine Neigung, links anzutäuschen, um dann rechts anzugreifen, die Beschaffenheit seiner Fußsehnen.
Orma erinnerte sich so klar und deutlich an die Drachengestalt seines Vaters, als handele es sich dabei um eine besondere Kostbarkeit. Es hörte sich an, als würde er einen Münzschatz anpreisen, den ich auf den ersten Blick von allen anderen unterscheiden könnte. Es hatte keinen Zweck, genauer nachzufragen. Ob Drachen die Beschreibungen von Menschen ebenso verwirrend fanden? Brauchte es Zeit und Erfahrung, bis man uns auseinanderhalten konnte?
»Ich merke schon, du hörst mir nicht richtig zu«, sagte Orma. »Du hast diesen leeren Blick, der früher deinem Geschichtslehrer vorbehalten war. Du könntest nach Imlann Ausschau halten –«
»Aber du hast es mir doch ausdrücklich verboten!«, unterbrach ich ihn.
»Lass mich ausreden. Du könntest in deinem Kopf nach ihm Ausschau halten, in den Erinnerungen deiner Mutter. Bestimmt hat Linn dir ein Bild von unserem Vater hinterlassen.«
Ich machte den Mund auf und gleich wieder zu. Ich hatte keine Lust, in dieser Schatulle zu wühlen, nicht wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
Die Ritter hatten einen gewissen Sir James erwähnt, der als Drachenspezialist galt. Mit ihm musste ich sprechen, besser gesagt, Kiggs musste das. Bis dahin konnte ich nur hoffen, dass Kiggs, in Erwartung brauchbarer Hinweise, nicht gänzlich auf ein Gespräch mit Eskar verzichtet hatte.
Inzwischen war Basind mit Hilfe des Schankwirts und seines Besens die Quigs losgeworden, unsere Zeit war also um.
»Dreh dich mit dem Rücken zu Basind«, flüsterte Orma. »Ich möchte nicht, dass er sieht, was ich dir jetzt gebe.«
Ich fand, es war ein bisschen spät, so zu tun, als wäre Orma ein gesetzestreuer Saar. »Wovon sprichst du?«
Orma gab vor, sich am Kopf zu kratzen, ließ den Schlupfling jedoch keine Sekunde aus den Augen. Als er den Arm sinken ließ, legte er unauffällig einen kalten Metallgegenstand in meine Hand. Es war einer seiner Ohrringe. Ich hielt erschrocken den Atem an und wollte Orma den Schmuck sofort wieder zurückgeben, aber Orma sagte leise: »Die Zensoren sehen das nicht. Ein Quig hat daran herumgebastelt, sodass sie mich nicht mehr beobachten können.«
»Irgendwann merken die Zensoren, dass du sie ausgetrickst hast.«
»Ich nehme an, das haben sie bereits. Bald werden sie mir ein neues Paar verpassen, es wäre nicht das erste Mal. Schalte ihn ein, wenn du in Schwierigkeiten bist, dann komme ich so schnell ich kann zu dir.«
»Ich habe versprochen, nicht auf eigene Faust nach Imlann zu suchen.«
»Das brauchst du womöglich gar nicht«, sagte er. »So oder so habe ich ein persönliches Interesse an der Sache.«
Ich steckte den Ohrring in mein Mieder und wir kehrten an den Tisch zurück. Auf Basinds Tunika waren verschmierte Handabdrücke und sein Essen war verschwunden, was allerdings nicht unbedingt hieß, dass er es auch gegessen hatte. Er blickte verwirrt drein und machte einen seltsam verlorenen Eindruck.
»Wir müssen zurück nach Sankt Ida«, sagte Orma und streckte die Hand aus, um Basind beizubringen, wie Menschen sich verabschieden. Schmunzelnd schüttelte ich sie. Normalerweise hielt Orma solche Umgangsformen für entbehrlich.
Dann war Basind an der Reihe. Er weigerte sich, meine Hand wieder loszulassen. Als ich sie ihm grob entzog, sah er mich mit einem unergründlichen Ausdruck an, über den ich lieber nicht so genau nachdenken wollte. »Noch mal!«, schnarrte er so begierig, dass mir ganz flau wurde.
»Ab nach Hause«, befahl Orma. »Du musst deine Übungen machen, meditieren und dein Gedankengebäude ordnen.«
Basind schniefte enttäuscht und rieb sich die Hände, wie um meine Berührung nachzuahmen, ehe er lammfromm meinem Onkel die Treppe hinauf folgte.
Ich vergewisserte mich noch rasch beim Schankwirt, ob Orma unsere Rechnung bezahlt hatte, da er solche Dinge gelegentlich vergaß. Mit einem letzten Blick auf das etwas wunderliche, streng riechende, lautstarke, aber friedliche Beieinander verschiedener Spezies, dem wahr gewordenen Wunschtraum, wie ihn die Macher des Friedensschlusses nicht kühner hätten ersinnen können, erklomm ich die Stufen.
»Mädchen?«, hörte ich da eine unsichere Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Vor mir stand ein milchgesichtiger junger Student mit Kreidestaub im Haar. In der Hand hielt er einen sehr kurzen Strohhalm. Die jungen Burschen an dem Tisch hinter ihm taten ihr Bestes, möglichst unbeteiligt zu wirken, auch wenn sie alles aufmerksam verfolgten.
»Willst du etwa schon gehen?« Zwar brachte er die Frage, ohne zu stammeln, heraus, aber seine fahrigen Handbewegungen und sein unruhiger Blick verrieten seine Unsicherheit. »Möchtest du dich nicht zu uns gesellen? An unserem Tisch sitzen nur Menschen – na ja, abgesehen von Jim – und wir sind eine ehrbare Runde. Wir müssen ja auch nicht über Mathematik reden. Es ist einfach nur so, dass wir hier kein Mädchen mehr zu Gesicht bekommen haben, seit das Sezieren unter Strafe gestellt wurde.«
Fast alle seine Gefährten brachen in lautes Gelächter aus. Nur der Saarantras in ihrer Mitte fragte leicht verdattert: »Aber es stimmt doch, was er sagt. Was habt ihr denn?«
Ich musste mitlachen; im Grunde genommen fand ich ihr Angebot verlockender als Guntards Einladung in den Albernen Affen. Ich fühlte mich den kreidebestäubten jungen Männern, die eifrig Rechenformeln auf die Tische kritzelten, seltsam nahe. Vielleicht zog das Sankt Bert nur jene Menschen an, die in ihrem Wesen eine Spur von Saar hatten.
Ich legte meine Hand kameradschaftlich auf seine Schulter und sagte: »Glaubt mir, ich würde nur allzu gerne hierbleiben. Nebenbei bemerkt: Unterschätzt nicht den Reiz der Mathematik. Wenn ich jemals wiederkomme, dann nur, wenn ich mit euch zusammen auf Tische kritzeln darf.«
Bei seiner Rückkehr an den Tisch wurde er von seinen Freunden mit lautem Gejohle empfangen und alle ließen ihn ob seines Mutes hochleben. Ich musste lächeln. Zuerst die ältlichen Ritter und jetzt das. Offenbar mauserte ich mich allmählich zum Liebling von Goredd. Bei dem Gedanken musste ich laut auflachen. Und dieses Lachen gab mir den nötigen Mut, mich hinaus in die kühle Nacht zu wagen.