Achtundzwanzig
Besser gesagt, jemand wollte mir in den Rücken stechen.
Mit einem Aufschrei ließ der Angreifer mich los. Sein Dolch hatte nicht einmal einen Kratzer auf meiner schuppigen Taille hinterlassen. Die Waffe fiel klirrend auf den Marmorboden. Comonot drehte sich um und zog ein Schwert, das er unter seiner Kleidung versteckt hatte. Ohne lange zu überlegen, duckte ich mich. Der Ardmagar schlug schneller zu, als ich es bei einem Mann seiner Größe und seines Umfangs erwartet hätte – aber er war ja auch kein gewöhnlicher Mann. Als ich meinen Kopf wieder hob, lag ein toter Priester in der Apsis, seine Kleider waren ein wirrer schwarzer Haufen und sein Leben entströmte wie ein roter Quell vor dem Bischofsthron. In der kalten Luft dampfte sein Blut.
Um den Hals trug er eine Kette mit bernsteinfarbenen Gebetskugeln. Es war der Priester, der mit Josef gesprochen hatte. Ich drehte ihn um und schrie entsetzt auf.
Vor mir lag der Tuchhändler, der mich bedroht hatte. Thomas Broadwick.
Comonots Nasenflügel bebten. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ein Saarantras, der den Tod roch. Ich hörte Stimmen und schlurfende Schritte, die sich der Apsis näherten. Der Lärm, den unser kurzer Kampf verursacht hatte, war nicht unbemerkt geblieben. Starr vor Angst überlegte ich, ob ich den Ardmagar auffordern sollte wegzulaufen oder ob ich ihn ausliefern sollte.
Er hatte mir das Leben gerettet – oder ich das seine. Nicht einmal das war klar.
Drei Mönche kamen angerannt. Sie blieben abrupt stehen, als sie das entsetzliche Bild sahen, das sich ihnen bot. Ich blickte Hilfe suchend zu Comonot, aber er wirkte verstört und war sehr bleich. Er sah mich wortlos an und schüttelte den Kopf. Ich holte tief Luft und sagte: »Das war ein Mordversuch.«
Comonot und ich wurden offiziell nicht festgenommen, wir zogen uns »freiwillig« in das Arbeitszimmer des Bischofs zurück, bis die Königliche Garde eintraf. Der Bischof hatte gutes Essen und besten Wein aus der Küche des Priesterseminars bringen lassen und lud uns ein, seine Bibliothek zu benutzen.
Unter anderen Umständen hätte ich mich darüber gefreut, nach Herzenslust in den Büchern stöbern zu dürfen. Aber Comonot lief unruhig auf und ab, und jedes Mal, wenn ich mich regte, zuckte er nervös zusammen, als hätte er Angst, ich würde ihm auf den Leib rücken. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn hinter dem Lesepult in die Ecke drängen können.
Schließlich platzte es aus ihm heraus: »Erkläre mir diesen Körper!«
Da fragte er die Richtige. Ich hatte Orma schon an die zwanzig Mal ähnliche Fragen beantwortet. »Was beunruhigt Euch im Besonderen, Ardmagar?«
Er setzte sich mir gegenüber und blickte mich zum ersten Mal direkt an. Sein Gesicht war fahl, Haare und Stirn waren schweißverklebt. »Warum habe ich das getan?«, fragte er. »Warum habe ich den Mann aus einem Gefühl heraus getötet?«
»Selbsterhaltungstrieb. Er hat auf mich eingestochen, ihr wärt der Nächste gewesen.«
»Nein.« Er schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Hamsterbacken schwabbelten. »Mag sein, dass er mich angegriffen hätte, aber das war nicht der wahre Grund. Ich habe dich geschützt.«
Ich wollte ihm danken, aber die ganze Angelegenheit schien ihn so mitgenommen zu haben, dass ich zögerte. »Warum bedauert Ihr es, mich beschützt zu haben? Weil ich so bin, wie ich bin?«
Er fand ein wenig zu seinem alten Hochmut zurück. Er spitzte die Lippen und senkte die schweren Augenlider. »Jeder Zoll von dir widert mich an, daran hat sich nichts geändert.« Ich goss ihm ein großes Glas Wein ein. »Aber ich stehe in deiner Schuld. Ohne dich wäre ich jetzt vielleicht tot.«
»Ihr hättet nicht alleine hierherkommen dürfen. Wie konntet Ihr Euch unbemerkt davonstehlen?«
Er nahm ein paar kräftige Schlucke und starrte in die Luft. »Ich war nicht in meiner Kutsche. Ich hatte nie die Absicht, die Goldenen Spiele anzuschauen. Mich interessiert eure komische Religion nicht und auch nicht die Schauspiele, die sie hervorbringt.«
»Was habt Ihr in der Kathedrale gemacht? Der Wunsch nach religiöser Erbauung war ja wohl nicht der Grund.«
»Das geht dich nichts an.« Er nippte an seinem Wein und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wie nennt ihr es, wenn jemand etwas ohne ersichtlichen Grund für jemand anderen tut? Selbstlosigkeit?«
»Hm. Ihr sprecht davon, dass Ihr mich verteidigt habt?«
»Natürlich, was denn sonst?«
»Ihr hattet durchaus einen Grund. Ihr wart dankbar, dass ich Euer Leben gerettet habe.«
»Nein!«, schrie er so laut, dass ich zusammenzuckte. »Das fiel mir erst wieder ein, als die Tat bereits vollbracht war. Ich habe dich verteidigt, ohne nachzudenken. Einen Moment lang habe ich …«, er hielt inne, sein Atem ging schwer und seine Augen blitzten vor Entsetzen, » … habe ich an dich gedacht und was dir gerade passiert. Es hat mir etwas ausgemacht. Die Vorstellung, dass man dich verletzen könnte, hat mich … verletzt!«
»Ich würde es Mitgefühl nennen«, sagte ich ohne jedes Mitgefühl für ihn, den allein schon der Gedanke daran anwiderte.
»Aber das war nicht ich, verstehst du?«, jammerte er. Der Wein machte ihn allmählich weinerlich. »Es ist dieser höllische Körper. Die Gefühle überschwemmen ihn, ehe man überhaupt zum Nachdenken kommt. Vielleicht ist es ja der Arterhaltungstrieb, aus dem heraus man die Jungen und Wehrlosen verteidigt, aber ich empfinde gar nichts für dich. Dieser Körper will Dinge tun, die ich selbst niemals gewollt hätte.«
Ausgerechnet in diesem Moment trat Hauptmann Kiggs zur Tür herein.
Er wirkte verlegen. Vermutlich erging es ihm nicht viel anders als mir. Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte er mich festnehmen lassen. »Ardmagar. Maid Dombegh«, sagte er nickend. »Ihr habt ein ziemliches Durcheinander beim Bienenkorb hinterlassen. Hätte jemand die Güte mir zu sagen, was passiert ist?«
Comonot übernahm es zu antworten. Seiner Darstellung nach waren wir beide in die Apsis gegangen, um ungstört miteinander zu reden. Ich hielt den Atem an, aber Comonot verlor weder ein Wort über meine Herkunft noch über die Erinnerungen meiner Mutter. Er behauptete einfach, ich hätte ihm etwas Vertrauliches mitteilen wollen.
»Worum ging es?«, fragte Kiggs.
»Das geht Euch nichts an«, knurrte der Ardmagar. Er hatte inzwischen so viel Wein in sich hineingeschüttet, dass er die Tür zu dem geistigen Raum nicht mehr fand, in dem er seine Gefühle wegschließen konnte. Falls es einen solchen Raum überhaupt jemals gegeben hatte.
Kiggs zuckte die Schultern und Comonot berichtete nun in allen Einzelheiten von dem kurzen und blutigen Kampf. Kiggs zog Thomas’ Dolch aus seinem Gürtel und drehte ihn zwischen den Fingern. Die Spitze war verbogen. »Könnt Ihr mir sagen, wie das passiert ist?«
Comonot runzelte die Stirn. »Vielleicht ist er so ungünstig auf den Fußboden gefallen, dass –«
»Unwahrscheinlich. Es sei denn, der Mann hat die Klinge direkt in den Steinboden gerammt«, widersprach Kiggs und sah mich dabei zum ersten Mal seit Langem an. »Serafina?«
Das quälend unangebrachte Gefühl kam wieder in mir hoch, als er mich mit meinem Vornamen ansprach. »Er hat auf mich eingestochen«, sagte ich und starrte auf meine Hände.
»Was sagst du da? Davon weiß ich ja gar nichts! Wo hat er dich verletzt?« Er klang so erschrocken, dass ich aufschaute und sofort wünschte, ich hätte es nicht getan; es tat weh, zu sehen, wie er sich um mich sorgte.
Ich tastete meine rechte Nierengegend ab. Der Einstich ging, was nicht weiter verwunderte, durch meinen Umhang und durch sämtliche Kleidungsstücke hindurch. Vielleicht konnte ich meinen Gürtel fest genug ziehen, damit man die Einstichstelle nicht sah? Ich hob den Kopf. Kiggs sah mich ungläubig an. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Eigentlich müsste ich jetzt tot sein.
»Hat Glisselda es Euch nicht gesagt? Ich habe ein Gelübde abgelegt und trage einen silbernen Gürtel, der mich davor bewahren soll, eine Häretikerin zu werden.«
Kiggs schüttelte den Kopf. »Du hältst immer eine Überraschung bereit, nicht wahr? Wenn du meinen Rat hören willst: Ein so heftiger Stoß …«, er hielt den verbogenen Dolch hoch, »verursacht eine schmerzhafte Prellung, wenn nicht gar eine Platzwunde. Die Palastärzte sollten sich die Stelle besser ansehen.«
»Ich werde es mir überlegen«, sagte ich. Mein Rücken tat weh, und ich stellte mir vor, wie meine geprellten Schuppen wohl aussahen.
»Ardmagar, die Stadt ist wieder gesichert«, sagte Kiggs. »Eine Abteilung der Garde ist hier, um Euch nach Schloss Orison zurückzubegleiten. Ich erwarte, dass Ihr für den Rest Eures Aufenthalts dort bleibt.«
Comonot nickte; wenn er jemals am Sinn seiner Bewachung gezweifelt haben sollte, dann jetzt nicht mehr.
»Warum seid Ihr hierhergekommen?«, fragte Kiggs. Comonot gab ihm die gleiche Antwort wie zuvor mir, allerdings war die Schilderung nun viel ausufernder. Kiggs runzelte die Stirn. »Denkt über Eure Antwort noch einmal nach. Jemand wusste, dass Ihr hier sein würdet. Ihr verheimlicht mir etwas in dieser Angelegenheit. Wir haben Gesetze, die solche Dinge regeln. Ich bin sicher, meine Großmutter wird sie Euch gerne heute beim Abendessen erläutern.«
Der Ardmagar plusterte sich auf wie ein gereizter Igel, aber Kiggs hielt die Tür auf, gab seinen Männern ein Zeichen und Minuten später war der alte Saar mit ihnen verschwunden. Dann schloss Kiggs die Tür und sah mich an.
Ich starrte auf den schmuckvollen porphyrischen Bischofsteppich, nervös und auch ein wenig ängstlich.
»Ich nehme an, du warst dem Ardmagar nicht dabei behilflich, seiner Eskorte zu entwischen?«
»Nein«, antwortete ich.
»Weshalb warst du mit ihm beim Bienenkorb?«
Ich schüttelte stumm den Kopf und wagte nicht hochzuschauen.
Die Hände in die Hüften gestemmt ging Kiggs im Zimmer auf und ab und tat so, als betrachtete er den Segensspruch Sankt Gobnaits, der gerahmt und in Schönschrift zwischen den Buchregalen hing. »Nun ja, wenigstens wissen wir, wer der verhinderte Attentäter war.«
»Ja«, sagte ich.
Er drehte sich betont langsam zu mir um, und da begriff ich, dass mit »wir« nicht er und ich gemeint waren. Er hatte von sich und der Garde gesprochen. »Du hast ihn also gekannt«, stellte er wie beiläufig fest. »Das lässt die Sache natürlich in einem anderen Licht erscheinen. Kannst du dir vorstellen, weshalb er dich töten wollte?«
Mit zitternden Händen durchwühlte ich meine Tasche, suchte unter dem roten Kleid und dem Geschenk meines Vaters, bis ich meine Geldbörse gefunden hatte. Ich leerte die Börse auf dem Stuhl vor dem Lesepult des Bischofs, dem erstbesten geeigneten Platz. Ein Schatten fiel auf meine Hand; Kiggs hatte sich hinter mich gestellt, um einen Blick darauf zu werfen. Ich fischte die Eidechse aus den Münzen und reichte sie wortlos dem Prinzen.
»Ein kleines Quigutlfigürchen«, sagte er und drehte es, damit er das Gesicht genauer betrachten konnte. Er lächelte, also ging er nicht davon aus, dass es schon wieder ein verbotener Apparat war. »Es gibt bestimmt eine Geschichte dazu.«
»Ich habe einem Bettler aus Quigutl eine Münze geschenkt, und er gab mir dies dafür.«
Der Prinz nickte wissend. »Und jetzt denkt der Quig, dass dies eine besonders ertragreiche Straßenecke ist. Die Nachbarn werden sich aufregen, und man wird uns zweimal in der Woche rufen, damit wir ihn wieder nach Quighole zurückschaffen. Aber was hat das mit dem toten Tuchhändler zu tun?«
Ah, jetzt musste ich anfangen zu lügen. Den Zusammenbruch und die Vision und die dazugehörige Scham und Angst konnte ich ihm nicht offenbaren. Ich antwortete: »Er beobachtete den Tausch und hat mich fürchterlich beschimpft.«
»Und doch hat er dich anschließend zum Palast zurückgebracht?«, fragte Kiggs leise.
Ich blickte auf, verblüfft darüber, dass er Bescheid wusste. Aber natürlich machten die Wachen am Turm Aufzeichnungen und erstatteten ihm Bericht. Seine Augen waren sanft, aber es war die Ruhe eines bewölkten Sommerhimmels. Ohne Vorwarnung konnte ein Sturm losbrechen. Ich musste auf der Hut sein. »Sein Bruder Silas hat darauf bestanden, mich zum Schloss zu bringen, als Wiedergutmachung, weil sein Bruder so ungehobelt gewesen war.«
»Dann muss er außerordentlich ungehobelt gewesen sein.«
Ich steckte die Geldbörse zurück in die Tasche: »Er hat mir vorgeworfen, ich sei eine Quig-Braut, die Ungeheuer liebt. Seiner Meinung nach sollte man Frauen wie mich in einen Sack stecken und in den Fluss werfen.«
Kiggs schwieg so lange, dass ich den Kopf hob und ihn ansah. Sein Blick war eine Mischung aus Abscheu, Besorgnis und Verärgerung. Er wandte den Blick als Erster ab. Kopfschüttelnd sagte er: »Wie schade, dass der Ardmagar ihn getötet hat; ich hätte mich gern mit ihm über die Frauen in Säcken unterhalten. Das hättest du mir sagen müssen. Mir oder deinem Vater.«
»Ihr habt recht … das hätte ich tun sollen«, stammelte ich. Mein Drang, alles, was mich anging, zu verbergen, hinderte mich auf eine fatale Weise daran, das Richtige zu tun.
Kiggs wandte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Figürchen in seiner Hand. »Und was kann dieses Ding?«
»Was es kann?« Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.
Er nahm meine Frage als Beweis für meine Ahnungslosigkeit. »Wir beschlagnahmen jede Woche solche teuflischen Apparate«, erklärte er mir. »Sie alle haben irgendeinen Mechanismus, selbst diejenigen, die nicht verboten sind.«
Er drehte die Figur in den Händen hin und her und betastete sie neugierig. Wir standen über das kleine Ding gebeugt da wie zwei kleine Kinder, die eine Grille gefangen haben. Wie zwei Freunde. Ich zeigte auf eine Nahtstelle am Halsansatz der Figur. Kiggs verstand sofort, worauf ich hinauswollte. Er zog am Kopf. Nichts. Er drehte ihn.
Sssluuu-sssluuu-sssluuuuu!
Die Stimme war so laut, dass Kiggs das Figürchen fallen ließ. Es zerbrach nicht, sondern kullerte unter das Lesepult, wo es weiter vor sich hin brabbelte. Kiggs bückte sich und tastete mit den Händen danach. »Das ist Quigutl-Mootya, nicht wahr? Verstehst du es?«
Ich lauschte. »Es scheint eine Schimpftirade auf Drachen zu sein, die sich in Saarantrai verwandeln: Ich durchschaue dich, du Schwindler. Du glaubst, du hättest sie überlistet, weil du in der Menge unerkannt geblieben bist, aber dein Ellbogen steht so komisch ab und du stinkst. Du bist ein Betrüger. Wenigstens wir Quigutl sind noch anständig. Und so weiter und so fort.«
Kiggs schnitt eine Grimasse. »Ich wusste ja gar nicht, dass Quigs ihre Verwandten derart verachten.«
»Ich bezweifle, dass das für alle gilt«, sagte ich, aber im Grunde wusste ich es nicht genau. Ich fürchtete mich zwar etwas weniger vor den Quigs als die meisten anderen Menschen, trotzdem hatte ich mir nie die Mühe gemacht herauszufinden, was sie eigentlich dachten.
Kiggs drehte den Kopf des Figürchens wieder zurück und der zischende Wortschwall brach ab. »Damit könnte man manch üblen Streich spielen«, überlegte der Prinz laut. »Stell dir vor, so ein Ding würde mitten im Blauen Salon losplärren …«
»Die Hälfte der Gäste würde auf die Möbel springen und kreischen, die andere Hälfte würde den Dolch ziehen«, antwortete ich lachend. »Und um den Spaß noch zu vergrößern, könnte man Wetten abschließen, wer sich für welche der beiden Möglichkeiten entscheidet.«
»Und was würdest du tun?«, fragte er plötzlich ernst. »Ich schätze, keines von beiden. Du würdest mucksmäuschenstill stehen bleiben und aufmerksam zuhören. Du würdest nicht wollen, dass irgendjemand zu Schaden kommt, jedenfalls nicht, wenn du es verhindern kannst.«
Er machte einen Schritt auf mich zu. Seine Nähe jagte mir einen Schauer durch die Glieder. »Du bist gut darin, andere Menschen in die Irre zu führen, aber du kannst nicht gegen alles gewappnet sein«, sagte er leise. »Früher oder später trifft dich etwas völlig unvorbereitet, und dann reagierst du unverstellt und bist ertappt.«
Verstört wich ich zurück. Wie kam es, dass aus unserem Gespräch plötzlich eine Vernehmung geworden war? »Meint Ihr etwas Bestimmtes?«, fragte ich.
»Ich versuche nur dahinterzukommen, was du mit Ardmagar Comonot gemacht hast und warum man auf dich eingestochen hat. Das hier erklärt den Vorfall jedenfalls nicht.« Er hielt mein Figürchen und drückte es leicht zwischen Daumen und Zeigefinger. »Es war kein unüberlegtes Verbrechen. Der Mann hat sich als Priester verkleidet. Wer hat ihm gesagt, dass Comonot in die Kathedrale gehen würde? Dachte er, Comonot würde jemanden treffen – jemanden, den er ebenfalls töten wollte –, oder warst du nur zur falschen Zeit am falschen Ort?«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an.
»Nun gut«, sagte Kiggs, ohne eine Miene zu verziehen. »Besser du schweigst, als dass du lügst.«
»Ich habe Euch niemals anlügen wollen!«, rief ich.
»Hm, das ist bestimmt ein elendes Leben, wenn man lügen muss und es gar nicht will.«
»Ja, das ist es!« Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Ich schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
Kiggs stand etwas ratlos neben mir und überließ mich meiner Tränenflut. »Das war nicht so grob gemeint, Fina«, sagte er und klang ziemlich unglücklich. »Es tut mir leid, aber dies ist der zweite Tag in Folge, an dem jemand mit dem Messer auf dich losgeht.« Ich hob ruckartig den Kopf und Kiggs beantwortete die unausgesprochene Frage in meinem Blick. »Ja, Tante Dionne hat es mir gestanden. Besser gesagt hat sie sich bei jedem, der es hören wollte, über Lady Corongis falsche Hinweise beklagt. Selda war tieftraurig, als sie hörte, dass ihre eigene Mutter dir das angetan hat.«
Er kam noch ein bisschen näher. Ich richtete den Blick eisern auf die Goldknöpfe seines Wamses. »Serafina, wenn du in Schwierigkeiten steckst, wenn du Schutz brauchst, dann lass mich dir helfen. Aber wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich das nicht.«
»Ich kann Euch nichts darüber sagen«, stieß ich mit bebendem Kinn hervor. »Ich möchte Euch nicht anlügen, also muss ich schweigen. Mir sind die Hände gebunden.«
Er gab mir sein Taschentuch. Ich warf einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht; er sah sehr bekümmert aus. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen, so als wäre er derjenige, der Trost bräuchte.
Mir fielen die Worte ein, die mein Vater in der Nacht zu mir gesagt hatte. Wenn er nun recht hätte? Was – und wäre die Chance auch noch so klein –, wenn Kiggs mich nicht verachten würde, selbst wenn er die Wahrheit wüsste? Wenn die Chance dafür eins zu einer Million stünde, wäre es immer noch besser, als gar keine Chance zu haben. Bei dem Gedanken daran wurde mir schwindelig. Ich fühlte mich wieder wie das Kind, das über der Brüstung des Glockenturms hing und zusah, wie sein Schuh ins Leere trudelte.
Es waren nicht nur meine Schuppen, die uns im Weg standen. Er hatte Pflichten und musste Rücksichten nehmen, aber vor allem wollte er stets das Richtige tun. So wie die Dinge lagen, konnte mich der Kiggs, den ich liebte, nicht lieben, sonst wäre er nicht der Kiggs gewesen, den ich liebte. Ich hatte schon einmal versucht, die Schranke niederzureißen, und er war überrumpelt genug gewesen, mich gewähren zu lassen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es ein zweites Mal geschehen ließe.
Kiggs räusperte sich. »Selda war heute Morgen ganz außer sich vor Sorge. Ich habe ihr erklärt, dass du zurückkommen würdest und Tante Dionne dich nicht ein für alle Mal verjagt hätte. Und ich hoffe sehr, dass das auch stimmt.«
Ich nickte unsicher. Er hielt mir die Tür auf, aber als ich an ihm vorbeiging, fasste er mich am Arm. »Auch für Tante Dionne gelten die Gesetze, ob sie nun Erste Thronerbin ist oder nicht. Wenn du Gerechtigkeit verlangst, werden Selda und ich dir beistehen.«
Ich holte tief Luft. »Ich werde es mir überlegen. Vielen Dank.«
Er machte immer noch einen unglücklichen Eindruck. Etwas Wichtiges war bisher nicht zur Sprache gekommen. »Ich bin wütend auf dich gewesen, Fina, aber ich habe mir auch Sorgen gemacht.«
»Verzeiht mir, Prinz …«
»Kiggs, bitte«, sagte er. »Ich war auch auf mich selbst wütend. Ich habe mich nach unserer Begegnung mit Imlann ziemlich dumm benommen. Als ob ich leichtsinnig meine Verpflichtungen über Bord werfen könnte und –«
»Nein.« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Ganz und gar nicht. Die Menschen tun manchmal seltsame Dinge, wenn sie Angst haben. Ich habe es längst vergessen.«
»Ah. Ich bin froh, dass du das sagst«, seufzte Kiggs, aber er wirkte nicht im Geringsten erleichtert. »Ich betrachte mich als deinen Freund, ungeachtet aller Hürden, die wir überwinden mussten. Du hast ein gutes Herz und gehst den Dingen ebenso klug wie furchtlos auf den Grund. Und du bist eine gute Lehrerin, wie man mir sagt. Glisselda schwört, sie braucht dich. Wir wollen, dass du bleibst.«
Er hatte immer noch meinen Arm umfasst. Ich machte mich sachte los und ließ mich von ihm nach Hause bringen.