Einundzwanzig

Der Spekulus-Tag war für uns Goreddis ein Tag, an dem man über die eigenen Sünden und Verfehlungen nachdenken soll. Der Jahreswechsel ging über in die längste Nacht des Jahres, die uns an die lange Finsternis des Todes erinnern soll, in die jene Seelen verfallen, die das himmlische Licht scheuen.

Ganz sicher war es die längste Nacht, die ich je erlebt hatte.

Kiggs hatte natürlich sein Schwert wieder gezogen, hielt es jedoch kraftlos in der Hand. Es hatte schon gegen einen Drachen nichts genützt, gegen zwei taugte es nur als Symbol des Widerstands.

»Wir sind nicht in Gefahr«, sagte ich, um ihn zu beruhigen. Meine Worte waren so nutzlos wie sein Schwert. »Das ist Orma, und hinter ihm ist Basind. Ich habe Basind nicht gerufen.«

»Aber du hast Orma gerufen? Mit dem Ding, das du angeblich gar nicht besitzt?«

»Ich habe kein Gerät, wie ich es Imlann weisgemacht habe – ich habe mir das ganz spontan ausgedacht –, und ich wollte Euch erst einmal beruhigen und dann … dann habe ich vergessen, Euch von dem Ohrring zu erzählen.«

»Verstehe. Also hat dir Orma dieses Ding gegeben, und wenn du ihn rufst, kommt er unverzüglich wie ein braves Schoßhündchen an, und das, obwohl er – wie hast du dich ausgedrückt – rein gar nichts für dich empfindet?«

»Wir sind nicht … nein. Es ist alles ganz anders.«

»Wie ist es denn?«, schrie er mich wütend an. »Bist du seine Gehilfin oder ist er dein Spießgeselle? Da ist etwas zwischen euch beiden, hinter dieser Fassade von Lehrer und Schülerin, etwas, auf das sich Drachen und Menschen niemals einlassen sollten. Es ist abnorm, so viel steht fest. Ich weiß zwar nicht genau, was es ist, aber ich habe das Rätselraten satt!«

»Kiggs …« Ich fand keine Worte.

»Prinz Lucian, wenn es dir nichts ausmacht«, erwiderte er kühl. »Sag ihnen, sie sollen ihre menschliche Gestalt annehmen.«

Orma kam mit unterwürfig gesenktem Kopf herbei. Anscheinend hatte er Basind befohlen, sich flach in den Schnee zu legen, denn Basind gab das vollkommene Bild einer Echse ab, die von einem Karren überfahren wurde – wenngleich es sich dabei um eine riesige Echse und einen ebenso riesigen Karren handelte.

»Ihr werdet alle eingesperrt«, sagte Kiggs laut und deutlich »Ihr beiden, weil ihr euch unerlaubt verwandelt habt, und Maid Dombegh, weil sie mit zwei vertragsbrüchigen Drachen unter einer Decke steckt …«

»Der Umgang mit Drachen ist nicht verboten«, protestierte ich.

»Aber ein Übermittlungsgerät der Quigutl zu besitzen sehr wohl. Drachen zu helfen und zu begünstigen ebenfalls. Ich könnte noch mehr aufzählen.« Er wandte sich wieder an die Drachen und sagte: »Ihr werdet sofort wieder in eure Saarantrai zurückkehren.«

Orma rief: »Serafina, wenn ich mich für nichts und wieder nichts verwandelt habe, dann hast du mich in entsetzliche Schwierigkeiten gebracht. Sag mir einen Grund, warum ich dir nicht den Kopf abbeißen sollte. Verschlimmern könnte ich meine Lage damit auch nicht mehr.«

Ich übersetzte das für Kiggs wie folgt: »Ihr habt von uns nichts zu befürchten, Prinz, und wir werden Eurer wohlbegründeten Bitte Folge leisten, aber wir können uns nicht verwandeln, denn Ihr habt keine Kleidung für uns und wir würden erfrieren.«

»Bist du in Prinz Lucian verliebt?«, schrie mein Onkel. »Was habt ihr gemacht, als ich ankam? Ihr wolltet euch doch nicht etwa hier, mitten im Schnee, einander hingeben?«

Ich musste einen Moment warten, bis ich meine Stimme wieder in der Gewalt hatte, dann sagte ich: »Die Drachen schlagen vor, dass sie vorausgehen. Mit ihrem scharfen Blick erkennen sie die Straße viel besser als wir. Sie werden nicht fliehen.«

»Ich habe dir befohlen, Imlann nicht zu verfolgen«, schrie mein Onkel. »Ich weiß, dass er hier war. Ich kann ihn riechen. Warum hast du ihn nicht zurückgehalten, damit ich ihn endlich erledigen kann?«

Das war zu viel. Ich rief: »Du kannst nicht alles zugleich haben, Orma!«

»Steig auf«, befahl Kiggs, der die Pferde beieinandergehalten hatte. In Gegenwart zweier ausgewachsener Drachen waren sie nervös, deshalb brauchte ich einige Zeit, um aufzusitzen. Kiggs hielt das Zaumzeug meines Reittiers, aber er sah mich nicht an.

Die Drachen hatten fügsam die Köpfe gesenkt und trotteten voran. Wo sie gingen, hinterließen sie im Schneematsch riesige Fußstapfen. Der Prinz und ich folgten ihnen in quälender Stille.

Dabei hatte ich genügend Zeit zum Nachdenken. Wie hatte Imlann uns gefunden? Hatte er uns schon seit dem Niederwald verfolgt oder hatte er darauf gewartet, dass wir denselben Rückweg nahmen? Woher wusste er überhaupt, dass wir umkehren würden?

»Prinz Lucian«, setzte ich an und lenkte mein Pferd neben ihn.

»Maid Dombegh, es wäre mir lieber, du würdest schweigen«, sagte er und ließ die beiden Saar nicht aus den Augen.

Das tat weh, aber ich blieb stur. »Ich vermute, Imlann wusste genau, wohin wir reiten wollten und dass wir wieder zurückkehren würden. Vielleicht hat jemand im Palast es ihm gesagt oder vielleicht wohnt er, in der Tarnung seines Saarantras, selbst im Palast. Wer wusste, wohin wir heute gehen?«

»Meine Großmutter«, antwortete er knapp. »Und Glisselda. Keiner von beiden ist ein Drache.«

Ich wagte es kaum, die Vermutung auszusprechen, aber ich musste es tun. »Könnte Graf von Apsig es rein zufällig von Glisselda erfahren haben?«

Er sah mich von der Seite an. »Selbst wenn sie davon gesprochen hat – was ich nicht glaube –, was willst du damit andeuten? Dass er ein Verräter ist oder ein Drache?«

»Er ist vor zwei Jahren wie aus heiterem Himmel hier aufgetaucht – das habt Ihr selbst gesagt. Er trinkt keinen Wein und hat blondes Haar und blaue Augen.« Mein Saargeruch war ihm nicht verborgen geblieben, aber das konnte ich ja nicht ins Feld führen. »Er war auf der letzten Jagd Eures Onkels dabei«, fügte ich hinzu. Das war allerdings kein Beweis, sondern allenfalls ein Begleitumstand.

»Aber du übersiehst sehr vieles, was dagegen spricht«, erwiderte der Prinz, der sich nun doch auf das Gespräch einließ, und sei es auch nur, um mich zu widerlegen. »Ich dachte, wir wären uns einig, dass er Lars’ Halbbruder ist.«

»Ihr habt gesagt, das sei ein Gerücht. Es könnte genauso gut auch falsch sein.« Ich wagte nicht, auszusprechen, woran ich jetzt dachte: Wenn Josef eine Drache war, könnte er Lars’ Vater sein.

»Er spielt die Gambe wie ein Engel. Und er sagt, dass er Drachen hasst.«

»Imlann verstellt sich vielleicht mit Absicht, um jeden Verdacht zu zerstreuen.« Ich konnte auf die musikalischen Künste nicht eingehen, ohne gleichzeitig meine Mutter ins Spiel zu bringen, deren Flötenmusik einen Schmelz hatte, wie ihn sonst nur Menschen hervorbringen können, wenn man Orma glauben durfte.

Der Prinz sah mich spöttisch an und ich beeilte mich hinzuzufügen: »Ich bitte Euch ja nur, diese Möglichkeit nicht gleich von der Hand zu weisen. Forscht nach, ob irgendjemand Josef heute am Hofe gesehen hat.«

»Ist das alles, Maid Dombegh?«

Meine Zähne klapperten vor Kälte und Aufregung. »Nicht ganz. Ich möchte Euch noch etwas über Orma sagen.«

»Ich will es nicht hören«, sagte er und trieb sein Pferd an.

»Er hat mir das Leben gerettet!«, rief ich ihm nach. Ich war entschlossen, weiterzusprechen, ob er es nun hören wollte oder nicht. »Orma war mein Lehrer, als ich noch klein war. Ihr wisst doch, seine Familie steht unter genauer Beobachtung. Die Zensoren fürchteten, dass er seinen Schülern zu sehr zugetan sein könnte, denn er unterrichtete gerne und war ein guter Lehrer. Sie schickten einen Drachen namens Zeyd, der ihm auf den Zahn fühlen sollte. Zeyd lockte mich unter einem Vorwand auf den Glockenturm von Sankt Gobnait und tat so, als wolle sie mir ein Leid antun. Ihr Plan war einfach. Wenn Orma mich zu retten versuchte, würde er sich verdächtig machen. Es wäre der Beweis gewesen, dass er mir freundliche Gefühle entgegenbrachte.«

Ich schluckte. Mein Mund wurde trocken, wenn ich daran dachte, wie meine Schuhe in die Tiefe gefallen waren, wie der Wind getost und die Welt um mich herum geschwankt hatte.

Gegen seinen Willen hörte Kiggs mir zu; mein Pferd trottete neben seinem her. »Orma kam«, sagte ich, »und mein erster Gedanke war: Hurra! Er wird mich retten. Aber er lehnte sich gegen die Brüstung, kümmerte sich nicht im Mindesten um mein Wohlergehen und versuchte Zeyd davon zu überzeugen, dass es das Ende ihrer Karriere wäre – ganz zu schweigen davon, dass es auch das Ende des Friedens bedeuten würde –, wenn sie mich fallen ließe. Sie schüttelte mich hin und her, ließ mich sogar für einen Moment los, aber er verzog keine Miene. Ich war ihm völlig egal, er wollte nur seine Artgenossin vor einem Fehler bewahren.« Der Gedanke daran tat mir immer noch weh.

»Schließlich hat Zeyd mich wieder abgesetzt. Orma nahm sie am Arm und sie gingen beide weg und ließen mich allein zurück, weinend und barfuß. Ich stieg die Stufen hinab, alle vierhundertzwanzig, und als ich es schließlich bis nach Hause geschafft hatte, schimpfte Orma mit mir, weil ich einem Drachen vertraut hatte, und schalt mich eine Närrin.«

»Aber er ist selbst ein Drache«, warf Kiggs ein und machte sich an dem Zaumzeug seines Pferds zu schaffen.

Verdammt. Aber im Grunde genommen spielte es keine Rolle, wenn ich ihm dieses kleine Geheimnis verriet. »Ja, doch das wusste ich damals noch nicht.«

Er sah mich forschend an, aber ich wich seinem Blick aus. »Warum erzählst du mir das alles?«

Weil ich dir die Wahrheit sagen will und dies so nahe an der Wahrheit ist wie nur möglich. Weil ich glaube, dass du die Geschichte irgendwie verstehen wirst. Weil ich möchte, dass du sie verstehst.

Ich sagte: »Ich möchte, dass Ihr versteht, warum ich ihm helfen muss.«

»Und warum musst du das? Weil er so abweisend zu dir war?«, fragte Kiggs. »Weil er dich allein nach Hause gehen ließ und dich eine Närrin nannte?«

»Weil … weil er mir das Leben gerettet hat«, stammelte ich schon ganz verwirrt.

»Man sollte meinen, ich als Hauptmann der Königlichen Garde müsste von dieser Geschichte wissen. Es ist schließlich keine Kleinigkeit, wenn ein Drache beinahe jemanden umbringt. Und doch hat dein Vater allem Anschein nach nichts unternommen, damit Zeyd bestraft wird?«

Mein Magen verkrampfte sich. »Nein.«

Kiggs’ Miene wurde hart. »Ich wünschte, ich wüsste, wie viel von dieser Geschichte wahr ist.«

Er trieb sein Pferd an und ließ mich zurück.

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Im Schneckentempo näherten wir uns der Stadt. Zu Fuß waren Drachen viel langsamer als ein Pferd, und diese beiden schienen es so gar nicht eilig zu haben. Als wir den Stall am Fuße des Hügels erreicht hatten, war Mitternacht schon lange vorbei.

Erst in Sichtweite des Stalls nahmen die beiden Drachen ihre Saarantrai an. Sie kühlten sich ab, schrumpften und verwandelten sich in zwei nackte Männer, die mir und den Pferden in den Stall hinein folgten. Dort hüllten sie sich vorerst in zwei Satteldecken, während Kiggs nachsehen ging, ob John Ostler, der Pferdeknecht, ein paar Kleider für sie übrig hatte. Orma trug seinen falschen Bart nicht mehr; hoffentlich hatte er wenigstens die Brille an einem sicheren Ort verwahrt, ehe er Drachengestalt angenommen hatte.

»Ich bin erstaunt, dass du unverletzt geblieben bist«, sagte er zähneklappernd, jetzt, da er wieder in Menschengestalt war, mit etwas mehr Mitgefühl als zuvor. »Wie hast du es angestellt, dass er dich nicht an Ort und Stelle tötete?«

Ich nahm ihn beiseite, zog ihn weg von Basind und erzählte ihm, wie ich Imlann getäuscht hatte. Orma kniff erstaunt die Augen zusammen. »Zum Glück hielt er dich für einen Saar. Ich hätte nie geglaubt, dass deine Besonderheit dir noch einmal so nützlich sein würde.«

»Ich glaube nicht, dass ihm die Wahrheit auch nur eine Sekunde lang in den Sinn gekommen ist.«

»Die Wahrheit?« Kiggs stand plötzlich mit einem Stapel Hosen und Tuniken auf dem Arm hinter uns. »Erzähl mir nicht, ich hätte sie ausgerechnet jetzt verpasst«, sagte er und gab die Kleider den Saarantrai.

Ich brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Er schnaubte zornig.

Basind war der Einzige, der sich dank seiner Einfältigkeit zu amüsieren schien. Während des langen Rückwegs hatte er Orma mit Fragen gelöchert, was als Nächstes passieren würde und wann wir endlich zu Hause wären. Jetzt, wieder in seinem Saarantras, krächzte er: »Werden sie uns ins Gefängnis werfen?« Diese Aussicht schien ihn beinahe zu freuen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Kiggs. Seine hängenden Schultern verrieten, wie niedergeschlagen er war. In der Nacht zuvor hatte er nur vier Stunden geschlafen und langsam merkte man ihm die Erschöpfung an. »Ich werde euch der Königin und dem Ardmagar übergeben. Sie sollen darüber befinden, was mit euch geschieht.«

Wir nahmen frische Pferde und machten uns erneut auf den Weg, diesmal Richtung Stadttor. Kiggs wollte nicht, dass Drachen von dem Geheimgang wussten. Die Wachen hielten uns schroff an, ließen uns jedoch sofort passieren, als sie den Prinzen erkannten. Durch den unberührten Schnee der schlafenden Stadt ritten wir hinauf zum Schloss.

Natürlich waren weder die Königin noch der Ardmagar um diese Zeit zu sprechen, was Kiggs zum Anlass nahm, uns in der Zwischenzeit genau im Auge zu behalten. Er sperrte uns im Vorzimmer der Königin ein und ließ uns von drei seiner Gardisten bewachen. Basind, den mein Onkel auf ein elegantes rotes Sofa gesetzt hatte, nickte mit dem Kopf an Ormas Schulter gelehnt ein. Kiggs marschierte unruhig auf und ab. Sein Kinn war stoppelig, seine Augen glänzten vor nervöser, fiebriger Energie, ein Zeichen äußerster Erschöpfung. Er konnte seinen Blick nicht ruhig halten; er sah überall hin, nur nicht zu mir.

Aber ich konnte nicht anders, ich musste ihn anschauen, auch wenn dabei jedes Mal etwas Schreckliches in mir hochstieg. Ich war voller Unruhe, mein linker Unterarm begann zu jucken. Ich musste von hier weg, und dazu fiel mir nur eine einzige Möglichkeit ein.

Ich stand auf. Sofort nahmen die drei Wachen Habtachtstellung ein. Jetzt blieb Kiggs nichts anderes übrig als mich anzusehen. Ich sagte: »Prinz, ich möchte keine Umstände machen, aber ich muss in den Waschraum.«

Er starrte mich verständislos an. Sagte man in der vornehmen Gesellschaft etwa nicht Waschraum? Wie würde es Lady Corongi ausdrücken? Kammer der misslichen Notwendigkeiten? Der Drang, von hier wegzukommen, ließ meine Stimme unnatürlich hoch klingen. »Ich bin kein Drache. Ich kann mich nicht einfach in eine Grube kauern oder Schwefel in den Schnee pinkeln.« Letzteres bezog sich auf Basind, der dies auf dem Nachhauseweg getan hatte.

Kiggs blinzelte heftig, wie um wach zu werden, und machte zwei Handbewegungen. Ehe ich mich versah, zog mich einer der Wachen den Gang entlang. Er schien fest entschlossen zu sein, mir so viele Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten, denn wir gingen an all den einigermaßen warmen Toiletten im inneren Wohnbereich vorbei und überquerten den steinernen Innenhof, stapften durch den Schnee bis zu einem Plumpsklo für die Soldaten an der südlichen Festungsmauer. Wir kamen an den Nachtwachen vorbei, die sich um ein paar Kohlebecken versammelt hatten, ihre Armbrüste reinigten und dröhnend lachten; als mich ihr Kamerad an ihnen vorbeiführte, verstummten sie und glotzten.

Mir war es egal, ich wäre auch den ganzen Weg bis Trowebridge gegangen. Hauptsache weg von Kiggs.

Ich schloss die Tür des kleinen Latrinenhäuschens und verriegelte sie sorgfältig. In dem Abtritt roch es gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Er hatte zwei Sitze, und die Hinterlassenschaften fielen direkt in den Wehrgraben darunter. Durch die Löcher sah ich den verschneiten Boden. Ein eisiger Wind frischte auf, der ausgereicht hätte, selbst dem eisernsten Soldaten den Hintern abzufrieren.

Ich öffnete die Klappe des Fensters, das keine Scheiben hatte, damit etwas Licht hereinfiel. Dann kniete ich mich auf das Holz zwischen den Drachenaugen (wie manche Leute die beiden Löcher bezeichneten), stützte die Ellbogen auf den Fenstersims und den Kopf in die Hände. Ich schloss die Augen und sprach mir immer wieder Mantras vor, die Orma mir beigebracht hatte, damit sich meine Gedanken beruhigten. Aber ein Gedanke schwirrte mir beständig durch den Kopf, stach mich wie eine Hornisse, immer und immer wieder.

Ich liebte Lucian Kiggs.

Ich lachte bitter auf, einen alberneren Platz hätte ich mir für diese Erkenntnis kaum aussuchen können. Dann fing ich an zu weinen. Wie dumm war ich eigentlich, dass ich Gefühle zuließ, die ich gar nicht haben durfte, mir eine Welt erträumte, die es gar nicht gab? Ich war ein schuppiges Ungeheuer; wenn ich den Ärmel hochschob, hatte ich den Beweis. Und daran würde sich auch nie etwas ändern.

Allen Heiligen sei Dank, der Prinz hatte nicht nur eherne Grundsätze, sondern auch eine Verlobte, und beide standen zwischen uns. Und, dem Himmel sei Dank, er war wütend auf mich, weil er mich für eine gewöhnliche Lügnerin hielt. Ich sollte mich eigentlich über diese Dinge freuen, die uns trennten, denn sie bewahrten mich vor einer schlimmen Demütigung.

Dennoch kehrten meine verdrehten Gedanken immer wieder zu dem Moment zurück, nachdem Imlann weggeflogen war. Einen Augenblick lang – ein Augenblick, um den meine störrischen Gedanken immer wieder kreisten – hatte Kiggs mich geliebt. Ich war mir ganz sicher. Ein flüchtiger Augenblick war weit mehr, als ich mir je zu erhoffen gewagt hatte, und viel zu wenig, als dass ich mich damit begnügen konnte. Ich hätte niemals so weit gehen dürfen. Zu wissen, was ich nie bekommen würde, machte alles nur noch schlimmer.

Ich schlug die Augen auf. Die Wolken waren aufgerissen, der Mond funkelte über den verschneiten Dächern der Stadt. Der Anblick war wunderschön und vertiefte zugleich meinen Kummer. Wie konnte die Welt so schön sein, wenn ich doch so abstoßend war? Ich schob meinen Ärmel hoch und löste vorsichtig das Band, das den Bund meines Unterhemds zusammenhielt, schob auch diesen Ärmel hoch und streckte meine Schuppen der Nacht entgegen.

Der Mond schien hell genug, sodass ich jede einzelne in dem schmalen, gewundenen Band erkennen konnte. Im Vergleich zu den Schuppen eines richtigen Drachen waren sie klein, jede nur etwa fingernagelgroß mit harten, scharfen Kanten.

Hass fraß an meinen Eingeweiden. Ich wollte die Schuppen nicht mehr spüren. Wie ein Fuchs in der Falle hätte ich mir lieber ein Bein abgebissen, als es noch länger zu ertragen. Ich zog meinen kleinen Dolch aus dem Mantelsaum und stach mir in den Arm.

Der Dolch prallte ab, ritzte nur die zarte Haut unter den Schuppen. Ich presste die Lippen zusammen, um einen Schrei zu ersticken, aber mein stumpfes Messer hatte nicht in die Haut geschnitten. Ich versuchte es erneut, diesmal fuhr ich seitlich mit der Klinge unter die Schuppen, was gar nicht so einfach war, denn die Klinge rutschte ab und schlug Funken. Man hätte ein Feuer damit entzünden können. Ja, ich hätte am liebsten die ganze Welt niedergebrannt.

Nein. Ich würde das Feuer am liebsten löschen. Ich konnte nicht mehr weiterleben, wenn ich mich so sehr hasste.

Eine entsetzliche Idee überzog meine Gedanken wie Eiskristalle eine Fensterscheibe. Ich winkelte meinen Ellbogen ab, damit sich die Schuppen aufstellten. Dann fuhr ich mit der Messerspitze unter eine von ihnen.

Was, wenn ich sie alle wegrisse? Würden sie nachwachsen? Und wenn mein Arm danach vernarbt wäre – könnte das wirklich schlimmer sein als jetzt?

Ich drückte die Schuppe hoch. Sie bewegte sich kaum. Ich schob das Messer langsam tiefer, hin und her, als würde ich eine Zwiebel schälen. Es tat weh, und dennoch … ich spürte, wie eine eiskalte Welle über mein Herz schwappte und die brennende Scham auslöschte. Ich biss die Zähne aufeinander und drückte fester. Eine Ecke ließ sich anheben. Ich krümmte mich vor Schmerz, sog die kalte Luft gierig zwischen den Zähnen ein. Ich spürte die Eiseskälte überall in mir, sie verschaffte mir Erleichterung. Wenn mein Arm so wehtat, dann war ich nicht imstande zu hassen. Ich machte die Augen fest zu und machte einen letzten Ruck.

Mein Schrei hallte in dem winzigen Raum wider. Ich umklammerte meinen Arm und schluchzte. Dunkles Blut quoll aus der Wunde und die Schuppe funkelte auf der Spitze des Messers. Ich schnippte sie in die Abfallgrube. Sie glitzerte noch im Fallen.

Es war unmöglich. An meinem Arm hatte ich fast zweihundert Schuppen. Das brächte ich nie und nimmer fertig. Es war, als risse ich mir die Fingernägel aus.

Orma hatte mir einmal erzählt, dass vor vielen hundert Jahren, als die Drachen gelernt hatten, wie man menschliche Gestalt annimmt, sich einige selbst verletzt hatten, mit den Zähnen ihr eigenes Fleisch aus dem Leibe gerissen hatten, überwältigt von der Wucht menschlicher Gefühle. Sie wollten lieber körperliche Schmerzen ertragen als seelischen Kummer. Dies war einer von vielen Gründen, warum die Drachen seither ihre menschlichen Gefühle zu unterdrücken suchten.

Wenn ich das doch nur auch tun könnte. Bei mir klappte es einfach nicht; ich konnte mir die Gefühle höchstens für später aufsparen.

Als Antwort auf meinen Schrei hämmerten die Soldaten an die Tür. Wie lange war ich schon hier? Die Kälte hatte mich ganz im Griff; zitternd steckte ich das Messer wieder zurück und wischte das Blut mit meinem Unterhemd ab. Ich nahm so gut es ging Haltung an und öffnete die Tür.

Der Wachmann sah mich durch sein Helmvisier finster an. »Königin Lavonda und Ardmagar Comonot sind jetzt wach und erwarten dich«, blaffte er. »Sankt Masha und Sankt Daan, was hast du dort drinnen überhaupt gemacht?«

»Frauensachen«, sagte ich und sah mit grimmiger Befriedigung, wie er zusammenzuckte, weil ich das Unaussprechliche ausgesprochen hatte.

Sogar mit meinen menschlichen Eigenschaften konnte ich andere Menschen entsetzen. Ich hasste es. Schroff drängte ich mich an ihm vorbei. Irgendwo in meinem Herzen loderte die Flamme immer noch.