Dreiundzwanzig

Ich war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Jetzt taumelte ich ins Bett.

Meist konnte ich tagsüber nicht schlafen, aber heute wollte ich nicht mehr wach sein. Die Betäubung des Schlafs schien mir der einzige Ausweg. Mir tat alles weh, und wenn ich mich nicht um meinen Onkel sorgte, dann dachte ich ständig an Lucian Kiggs.

Als der Nachmittag schon fast vorüber war, weckte mich ein ungeduldiges Klopfen an der Tür.

Ich war in meinen Kleidern eingeschlafen, deshalb wälzte ich mich aus dem Bett und torkelte zur Tür, kaum dass ich die Augen geöffnet hatte. Ein funkelndes Etwas, perlengeschmückt und schillernd, drängte sich gebieterisch an mir vorbei. Prinzessin Glisselda. Ein zweites, etwas freundlicheres Wesen, Millie, führte mich zu einem Stuhl.

Die Hände in die Hüften gestemmt, beugte sich Glisselda über mich und fragte: »Was hast du mit Lucian angestellt?«

Ich schaffte es nicht, richtig wach zu werden. Verständnislos starrte ich die Prinzessin an. Was sollte ich ihr antworten? Etwa, dass ich ihm das Leben gerettet hatte und er mich jetzt deswegen hasste? Dass ich etwas gefühlt hatte, was ich nicht hätte fühlen dürfen, und dass es mir leid tat?

»Der Rat macht gerade eine Pause«, erklärte sie und lief zum Kamin und wieder zurück. »Lucian hat uns alles erzählt – wie ihr dem abtrünnigen Drachen draußen auf dem Land begegnet seid, wie du mit deiner Tapferkeit das Biest überredet hast, euch nicht zu töten. Ich muss schon sagen, ihr seid mir schöne Schnüffler.«

»Was hat der Rat beschlossen?«, fragte ich heiser. Müde rieb ich mir die Augen.

»Wir werden eine kleine Gruppe von Drachen – wir nennen sie die Kleine Arde – über Land schicken. Eskar wird sie anführen.« Sie spielte mit ihrer langen Perlenkette und verknotete sie. »Sie werden in ihren Saarantrai bleiben, solange kein Notfall eintritt. Die Suche wird bei der Säule der Krähen beginnen, weil Imlann dort vor Kurzem gewesen ist. Von da aus wollen sie seine Witterung aufnehmen. Da gibt es aber etwas, was mich allerdings sehr verwundert.« Sie warf mir einen düsteren Blick zu und ließ die verknotete Kette vor meiner Nase baumeln. »Du warst so hilfreich und klug, man müsste doch meinen, dass Lucian voll des Lobes für dich ist. Aber nein, weit gefehlt. Ich weiß, dass er dich wegen einer Kleinigkeit verhaften ließ. Er ist offensichtlich fürchterlich wütend, will mir jedoch nicht verraten, warum. Wie soll ich den Streit zwischen euch schlichten, wenn ich nicht einmal weiß, was vorgefallen ist? Ich möchte nicht, dass ihr miteinander hadert!«

Ich musste wohl vor Erschöpfung geschwankt haben, denn Glisselda fuhr Millie herrisch an: »Mach dieser armen Frau eine Tasse Tee!«

Der Tee half mir, aber er trieb mir auch das Wasser in die Augen. »Meine Augen tränen«, stellte ich das Offensichtliche fest.

»Schon gut«, sagte Glisselda. »Ich würde auch weinen, wenn Lucian so ärgerlich auf mich wäre.«

Ich wusste nicht, was ich ihr erwidern sollte. So etwas war mir noch nie passiert. Sonst wusste ich immer, was ich sagen konnte und was ich besser verschwieg, und auch wenn ich Lügen verabscheute, so hatte ich sie bisher noch nie als unerträgliche Bürde empfunden. Ich versuchte mich an meine eigenen Grundsätze zu erinnern: das Einfachste ist immer das Beste. Mit bebender Stimme sagte ich: »Er ist wütend auf mich, weil ich ihn angelogen habe.«

»Was das betrifft, ist Lucian sehr empfindlich«, sagte Glisselda wissend. »Weshalb hast du ihn angelogen?«

Das war, als wollte sie von mir wissen, weshalb ich atmete. Ich konnte ihr ja schlecht erklären, dass die Lüge nicht so sehr darin lag, was ich sagte, sondern was ich war. Oder hätte ich ihr etwa erklären sollen, dass ich nicht wollte, dass Kiggs sich vor mir fürchtete? Weil ich nämlich dort draußen im Schneetreiben und mitten im Ascheregen begriffen hatte, dass ich ihn …

Im Angesicht seiner Verlobten, die mir gegenübersaß, durfte ich dieses Wort nicht einmal denken, und das war schon die nächste Lüge.

Es schien nie enden zu wollen.

»Wir … wir waren so verstört nach der Begegnung mit Imlann«, stotterte ich. »Ich habe geredet, ohne nachzudenken, ich wollte ihn nur beruhigen. Ehrlich gesagt, hatte ich ganz vergessen, wen ich vor mir hatte …«

»Ich sehe dir an, dass du die Wahrheit sprichst. Sag ihm genau das, dann wird alles wieder gut.«

Natürlich hatte ich ihm das schon gesagt, mehr oder weniger, aber alles war dadurch nur noch schlimmer geworden. Prinzessin Glisselda ging zur Tür und Millie folgte ihr wie ein Schatten. »Ihr beide werdet euch aussprechen und alles ins Reine bringen. Lass mich nur machen.«

Ich stand auf und knickste. Glisselda drehte sich noch einmal um. »Ach ja, noch etwas. Graf Josef war gestern den ganzen Tag über nicht im Palast. Lucian hat mir von deinem Verdacht berichtet, und ich habe ihm aufgetragen, sich umzuhören. Apsig behauptet, er sei in der Stadt bei seiner Mätresse gewesen, aber er will ihren Namen nicht nennen.« Sie sah mich halb um Entschuldigung bittend an. »Ich muss gestehen, ich habe ihm auf dem Ball von euren Plänen erzählt. Er wollte von mir wissen, was Lucian mit dir zu schaffen hat. Das war vielleicht nicht sehr klug von mir, aber«, fügte sie hinzu, »von nun an haben wir ein wachsames Auge auf ihn.«

An der Tür blieb Glisselda stehen und drohte mir spielerisch mit dem Finger. »Ich kann es nicht leiden, wenn Lucian und du streitet! Ich brauche euch beide!«

Als die beiden gegangen waren, taumelte ich in mein Schlafzimmer und warf mich aufs Bett. Ich beneidete Glisselda um ihre Zuversicht, aber ich fragte mich, ob sie auch dann Frieden stiften wollte, wenn sie wüsste, was ich unausgesprochen im Herzen trug.

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Mitten in der Nacht erwachte ich voller Angst, denn irgendwo brannte ein Feuer.

Ruckartig setzte ich mich auf, besser gesagt, ich versuchte es, versank jedoch in einem Sumpf aus Federn. Ich hatte das Gefühl, als wolle mich meine Matratze verschlingen. Ich war in Schweiß gebadet. Die Vorhänge vor meinem Bett wehten sachte im Schein des friedlich glimmenden Kaminfeuers. Hatte ich nur geträumt? Ich erinnerte mich an keinen Traum, nein, ich wusste, dass das Feuer … immer noch loderte. Ich konnte den Rauch beinahe riechen, ich spürte die Hitze in meinem Kopf. Passierte gerade etwas im Garten meiner Grotesken?

Bei allen Hunden der Heiligen. Wenn dergleichen Dinge ständig in meinem Kopf abliefen, würde ich irgendwann noch verrückt werden.

Ich legte mich wieder hin, schloss die Augen und betrat meinen Garten. In der Ferne stieg Rauch auf. Ich rannte, bis ich am Rande von Pandowdys Sumpf stand. Zum Glück war er unter Wasser und schlief, sodass ich unbemerkt daran vorbeigehen konnte. Das schneckengleiche Wesen sah von allen meinen Grotesken einem Menschen am wenigsten ähnlich. Ich empfand Mitleid und Abscheu zugleich, aber er war genauso meine Kreatur wie Lars.

Dann sah ich es. Mitten im Sumpf saß Flederchen und brannte.

Genauer gesagt schlugen die Flammen aus der Schatulle der Erinnerungen, die er fest an sich drückte und mit seinem ganzen Körper abschirmte.

Sein leises Wimmern riss mich endlich aus meiner Schreckstarre.

Ich lief zu ihm, packte das Ding, wobei ich mir die Finger versengte, und schleuderte es ins schwarze Wasser. Es zischte und eine Wolke aus übel riechendem Dampf stieg auf. Ich kniete mich neben Flederchen – der Ärmste, er war doch noch ein Kind! – und untersuchte seinen nackten Bauch, seine Arme, sein Gesicht. Ich konnte nirgendwo Brandblasen sehen, aber seine Haut war so dunkel, dass ich nicht wusste, ob ich Verbrennungen überhaupt erkennen würde. Ich fragte ihn: »Bist du verletzt?«

»Nein«, sagte er und piekste sich selbst mit seinen Fingerspitzen.

Bei Sankt Mashas Stein, er sprach mit mir! Ich kämpfte meine Angst nieder und sagte: »Was hast du gemacht? Wolltest du die Schatulle mit meinen Geheimnissen aufbrechen?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Schachtel hat plötzlich zu brennen begonnen.«

»Weil du versucht hast hineinzuschauen?«

»Nie im Leben, Madamina.« Er überkreuzte die Daumen und legte die Hände zusammen, dass sie aussahen wie ein Vogel, eine Geste, mit der man in Porphyrien um etwas bat. »Ich weiß, was Dein und Mein ist. Sie ist in der vergangenen Nacht in Flammen aufgegangen. Ich warf mich auf sie, um dich zu schützen. Habe ich das recht gemacht?«

Ich drehte mich zum Wasser; die Blechschatulle schaukelte obenauf, das Feuer brannte immer noch. Jetzt, wo Flederchen sie nicht mehr mit seinem Körper erstickte, spürte ich die Flammen am eigenen Leib.

Ich hätte nicht genau sagen können, wieso, aber ich wusste, dass sie genau in dem Moment in Brand geraten war, als Imlann auf dem verschneiten Felsen landete. So etwas Ähnliches war schon eimal passiert, damals, als ich plötzlich Comonot gegenüberstand und die Schatulle übergelaufen war. Was für ein Glück, dass sich Flederchen so beherzt auf sie gestürzt hatte. Wenn mich bei meiner Begegnung mit Imlann die Erinnerungen in ihren Bann gezogen hätten, wäre wohl mehr als nur die Schatulle in Flammen aufgegangen.

Ich wandte mich wieder dem Jungen zu. Das Weiße in seinen Augen stach von seinem dunklen Gesicht ab. »Wie … wie heißt du? Wie ist dein richtiger Name?«, fragte ich.

»Abdo«, antwortete er. Der Name brachte etwas in mir zum Klingen, ich hatte ihn schon einmal gehört, aber ich wusste nicht wann und wo.

»Und wo wohnst du, Abdo?«

»Ich wohne mit meiner Familie in einem Gasthaus. Ich habe Kopfschmerzen bekommen, weil ich die Schachtel festgehalten habe. Ich lag den ganzen Tag im Bett. Mein Großvater macht sich große Sorgen, aber jetzt kann ich schlafen, dann wird ihm wieder leichter ums Herz.«

Die brennende Schatulle hatte ihm Schmerzen bereitet, aber er hatte sie mehr als einen Tag lang festgehalten. »Woher wusstest du, wie du mir helfen konntest?«, fragte ich.

»In dieser Welt gibt es zwei geheiligte Beweggründe allen Tuns: Glück und Notwendigkeit. Zum Glück war ich da, um dir die notwendige Hilfe zu leisten.«

Er war ein kleiner Philosoph. Aber vielleicht waren das alle in dem Land, aus dem er kam. Ich wollte ihn weiter befragen, aber er legte seine Hand auf meine Wange und sah mich ernst an. »Ich habe dich gehört, ich habe dich gesucht und ich habe dich gefunden. Ich habe die Hand nach dir ausgestreckt durch Raum und Zeit und über alle Naturgesetze hinweg. Wie ich das gemacht habe, weiß ich selbst nicht.«

»Sprichst du so auch mit anderen? Sprechen andere auch so mit dir?« Meine Furcht schmolz dahin. Er war so unschuldig.

Abdo zuckte die Schultern. »Ich kenne nur drei andere Ityasaari in Porphyrien. Du kennst sie auch, sie sind hier. Du hast ihnen die Namen Molch, Miserere und Pelikanmann gegeben. Keiner von ihnen spricht mit seinen Gedanken zu mir, allerdings hat mich auch keiner von ihnen jemals gerufen. Nur du hast das.«

»Wann habe ich dich gerufen?«

»Ich habe deine Flöte gehört.«

Genau wie Lars.

»Madamina«, sagte er. »Ich muss jetzt schlafen. Mein Großvater macht sich Sorgen.«

Er ließ mich los und verbeugte sich. Ich verbeugte mich ebenfalls, wenn auch ein wenig unsicher, und wandte dann meine Aufmerksamkeit der brennenden Schatulle zu. Pandowdy blubberte unter Wasser und schlug gereizt mit seinem Schwanz, sodass sie auf mich zugeschaukelt kam. Meine Kopfschmerzen wurden immer heftiger. Ich konnte es nicht mehr länger aufschieben, ich musste mich schleunigst um die Schatulle kümmern. Die Erinnerungen würden mich sonst gegen meinen Willen gefangen nehmen, so wie schon einmal. Ich blickte zu Abdo, aber er hatte sich auf die Seite gerollt und schlief unter einem großen Stinkkohl. Mit einem dicken Sumpfgraskolben bugsierte ich die Schatulle an Land.

Als ich sie berührte, explodierte sie wie ein schriller Feuerwerkskörper. Ich fing an zu husten vor lauter Qualm, und zugleich wunderte ich mich, wie es möglich war, dass ich Wut schmecken und den Geruch von Grün auf meiner Haut spüren konnte.

Ich schwinge mich von der Bergspitze auf und fliege der Sonne entgegen. Mit einem einzigen Schwanzschlag begrabe ich den felsigen Ausgang unter einer Schneelawine. Aber die vereinten Kräfte der zwölf alten Generäle werden die eisige Barriere sehr bald sprengen; ich habe mir nur einen kurzen Aufschub verschafft und darf keine Zeit vergeuden. Ich fliege nach Osten, mit dem Wind, gleite durch ausgedehnte Föhnwolken in einen Gebirgskessel aus Eis.

Unter dem Gletscher ist eine Höhle, bis dorthin muss ich es schaffen. Ich schwebe viel zu dicht über dem weiß schäumenden Schmelzwasser. Die Kälte verbrüht meinen Bauch. Ich fliege von der Moräne hoch und wirble einen Steinregen auf, schwinge mich schnell auf, damit ich den scharfen Eisnadeln entgehe, die spitz genug sind, mir die Eingeweide aufzureißen.

Hinter mir, hoch oben auf dem Berg, höre ich ein Röhren und Dröhnen. Die Generäle und mein Vater sind frei, aber ich bin schnell genug geflogen. Zu schnell: Ich krache gegen den Rand des Eiskraters, Schiefergestein poltert den Hang hinunter. Es ist zu befürchten, dass die Generäle die Stelle mit dem ausgerissenen Moos entdecken werden. Ich zwänge mich in die Höhle, das blaue Eis schmilzt, wenn ich es berühre, aber auf diese Weise komme ich leichter voran.

Ich höre, wie sie durch den Himmel pflügen, höre ihr Schreien über das Tosen des Eisbachs hinweg. Ich krieche tiefer in die Höhle, damit der Dampf, den ich ausstoße, mich nicht verrät.

Das Eis kühlt meine Gedanken und bündelt meine Vernunft. Ich habe gesehen und gehört, was ich nicht hätte sehen und hören dürfen: wie mein Vater und elf andere Generäle über seinen Schatz gesprochen haben. Worte über einen Schatz muss man hüten wie den Schatz selbst, sagt ein uraltes Sprichwort. Weil ich sie belauscht habe, könnten sie mich töten.

Schlimmer noch: sie haben von Verrat gesprochen. Und dieses Wort kann ich nicht wie einen Schatz hüten.

Die Höhle macht mir Angst. Wie können die Quigutl so lange in Abgründen hausen, ohne verrückt zu werden? Aber vielleicht tun sie das ja gar nicht. Ich lenke mich ab und denke an meinen kleinen Bruder, der in Ninys studiert und dort in Sicherheit ist, ich denke an den schnellsten Weg zurück nach Goredd und an meinen geliebten Claude. Wenn ich meine natürliche Gestalt angenommen habe, verspüre ich keine Liebe, aber ich erinnere mich an das Gefühl und sehne mich danach zurück. Der große, leere Fleck, an dem sich dieses Gefühl befunden hat, quält mich, sodass ich mich am liebsten hin und her winden will.

Ach, Orma. Du wirst nicht verstehen, was mit mir geschehen ist.

Die Nacht bricht herein. Die leuchtend blaue Farbe des Eises verdüstert sich zu Schwarz. Die Höhle ist so eng, dass man sich nicht drehen und wenden kann – ich bin nicht so schlank und schlangenhaft wie andere –, also verlasse ich die Höhle rückwärts, Schritt für Schritt, den rutschigen Weg hinauf. Meine Schwanzspitze befindet sich schon in der kühlen Nachtluft.

Ich rieche ihn zu spät. Mein Vater beißt mir in den Schwanz, unter dem Vorwand, mich herauszuziehen, dann beißt er mich in den Nacken, zur Strafe.

»General, bringt mich wieder in Ard«, sage ich und lasse mich noch dreimal beißen.

»Was hast du gehört?«, faucht er mich an.

Es hat keinen Sinn, sich zu verstellen. Er hat mich nicht zu einem törichten Dummkopf erzogen, und mein Geruch in der Höhle hat ihm ohnehin längst verraten, wie lange ich gelauscht habe. »Dass General Akara sich unter die Ritter von Goredd gemischt hat und dafür gesorgt hat, dass sie verbannt wurden wegen ihrer Taten.« Das ist noch das Geringste von allem. Mein eigener Vater ist Teil eines mörderischen Komplotts, er will die Dracomachie schwächen, den Ardmagar töten und den Friedensschluss brechen. Aber das will ich nicht laut aussprechen.

Er spuckt Feuer auf den Gletscher und bringt den Eingang der Höhle zum Einsturz. »Ich hätte dich dort lebendig begraben können. Habe es aber nicht getan. Weißt du, warum?«

Es ist schwer, sich unterwürfig zu geben, aber mein Vater duldet bei seinen Kindern keine andere Haltung, außerdem ist er doppelt so groß und stark wie ich. Aber der Tag wird kommen, an dem die Stärke unseres Geistes mehr zählt als körperliche Kraft. Das ist Comonots Traum, und daran glaube ich. Einstweilen beuge ich den Kopf. Drachen ändern sich nur langsam.

»Ich erlaube dir zu leben, weil ich weiß, dass du dem Ardmagar nicht sagen wirst, was du gehört hast«, faucht er. »Du wirst es niemandem erzählen.«

»Weshalb glaubst du das?« Ich ducke mich noch mehr, um zu zeigen, wie harmlos ich bin.

»Deine Ergebenheit und die Ehre deiner Familie sollten für dich Grund genug sein«, zischt er. »Aber du gibst ja selbst zu, dass du beides nicht hast.«

»Und wenn ich dem Ardmagar ergeben bin?« Oder wenigstens seinen Ideen anhänge.

Mein Vater spuckt Feuer auf meine Zehen. Ich weiche zurück, aber ich rieche trotzdem versengte Krallen. »Ich warne dich, Linn. Meine Verbündeten unter den Zensoren haben mir gesagt, dass du in Schwierigkeiten steckst.«

Offiziell habe ich davon noch gar nichts gehört, aber ich habe damit gerechnet. Trotzdem blähe ich die Nüstern und stelle die Stacheln an meinem Kopf aufrecht, als wäre ich entsetzt über diese Neuigkeit. »Haben sie gesagt, weshalb?«

»Sie sammeln Hinweise, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Du stehst auf ihrer Liste, das allein zählt. Wenn du enthüllst, was soben im Anblick meines Schatzes gesprochen wurde – oder wen du gesehen hast oder wie viele es waren –, wird dein Wort gegen meines stehen. Dann werde ich sagen, dass du zu den gefährlichen Abweichlern gehörst.«

Ich bin tatsächlich eine gefährliche Abweichlerin, aber bis zu diesem Augenblick war ich eine gefährliche Abweichlerin, die mit sich kämpfte, ob sie wieder nach Goredd zurückgehen sollte oder nicht. Jetzt kämpfe ich nicht mehr.

Mein Vater klettert auf den Gipfel des Gletschers, damit er sich leichter in die Luft schwingen kann. Das Eis ist dünn von der heftigen Sommerschmelze, Brocken, so groß wie mein Kopf, brechen unter seinen Krallen ab, fallen zu mir herunter und zerbersten. Der Einsturz der Höhle gefährdet den Gletscher, schon geht ein tiefer Riss durchs Eis.

»Komm herauf, Küken«, schreit mein Vater. »Ich werde dich zu deiner Mutter begleiten. Du wirst nicht wieder in den Süden gehen; ich werde dafür sorgen, dass der Ker deine Aufenthaltserlaubnis zurücknimmt.«

»General, ihr seid klug«, sage ich mit hoher Stimme und ahme den Tonfall einer Frischgeschlüpften nach. Aber ich steige nicht hinauf, ich rechne gerade etwas aus. Ich muss ihn hinhalten. »Bring mich wieder in Ard. Wenn ich nicht in den Süden gehe, ist es dann nicht an der Zeit, mich zu vermählen?«

Jetzt ist er ganz oben auf dem eisigen Hang angelangt. Er reckt den Hals, seine Muskeln spielen. Hinter ihm ist der Mond aufgegangen und lässt ihn in einem schrecklichen Glanz erstrahlen. Er ist wirklich Furcht einflößend. Fast ist meine Demutsgeste ernst gemeint. Ich muss noch ein paar Vektoren berücksichtigen und die Reibung. Wird sie mir nützen oder schaden? Unauffällig breite ich einen Flügel aus und versuche, die Temperatur noch genauer abzuschätzen.

»Du bist Imlanns Tochter!«, kreischt er. »Du könntest jeden dieser Generäle haben, die du heute gesehen hast. Du könntest sie alle haben, in welcher Reihenfolge du willst.«

Es ist nicht einfach, ihn am Reden zu halten, während ich leise vor mich hin rechne. Mit gespieltem Entsetzen weiche ich zurück, viel zu theatralisch für einen Drachen, aber mein Vater sieht darin die Geste der Ehrerbietung, die ich ihm schulde.

»Ich werde mich der Sache annehmen«, sagt er. »Du bist zwar nicht das mächtigste Weibchen, aber du kannst gut fliegen und hast gute Zähne. Sie werden sich geehrt fühlen, ihre Familien mit der unseren zu verbinden. Versprich mir nur, alle schwächlichen Eier zu zerstören, bevor die Jungen schlüpfen, so wie ich Ormas Ei hätte zerbrechen sollen.«

Ah, Orma. Du wirst der Einzige sein, der mir fehlen wird.

Ich stoße einen kleinen wohlberechneten Feuerball aus, ziele auf einen schmalen Eispfeiler der Gletscherwand. Wenn er einstürzt, kommt alles ins Rutschen. Hinter meinem Vater reißt ein Spalt auf, das Eis kreischt, als der Gletscher auseinanderbricht. Ich springe zurück, weiche den Eissplittern aus und rutsche die Moräne hinab, hüpfe über Felsbrocken, bis ich mich in die Luft schwingen kann. Ich fliege gegen den Wind aus dem einstürzenden Gletscher und schraube mich in die Höhe. Ich sollte so schnell wie möglich fliehen, aber ich bringe es nicht fertig. Ich muss sehen, was ich getan habe. Es sind meine Schmerzen, ich habe sie mir verdient und ich werde sie für den Rest meiner Tage tragen.

Das zumindest bin ich uns beiden schuldig.

Wie vorausberechnet, war das Eis unter seinem Wärme verströmenden Körper zu weich und zu rutschig, um mit den Krallen einen guten Halt darauf zu finden. Er konnte sich nicht rechtzeitig in die Luft schwingen und ist rückwärts in die Gletscherspalte gestürzt. Eine dicke Eisnadel von weiter oben – von einer Stelle, die ich in meinen Berechnungen gar nicht berücksichtigt habe – ist auf ihn gefallen und hat seinen Flügel unter sich begraben. Ihn vielleicht sogar durchstochen. Ich drehe Kreise, um herauszufinden, ob ich ihn getötet habe. Ich rieche sein Blut, es riecht wie Schwefel und Rosenduft, aber er schnaubt und schlägt um sich. Kein Zweifel, er ist noch am Leben. Ich schalte alle Quigutl-Apparate ein, die ich habe, und werfe sie auf ihn. Sie glitzern in der Nacht. Aus der Ferne könnte ihn jemand mit einem Schatz verwechseln. Man wird ihn sicher finden.

Ich drehe noch ein paar Runden am Himmel und verabschiede mich von Tanamoot – von den Bergen, dem Himmel, den Flüssen und Seen, von allen Drachen. Ich habe meine Versprechen gebrochen, habe mit meinem Vater, mit meiner Familie, mit allem gebrochen. Jetzt bin ich die Verräterin.

Ach, Orma, bring dich in Sicherheit vor ihm.

Die Vorhänge vor dem Bett tanzten, von der warmen Luft bewegt, eine geisterhafte Sarabande. Ich starrte sie eine Weile an, aber ich sah nichts, sondern fühlte mich nur ausgelaugt und zerschlagen.

Jede einzelne Erinnerung half mir, besser zu verstehen. Die allererste Erinnerung, vor so langer Zeit, hatte mir mit Gewalt die Schuppen von meinen blinden Augen gerissen und mir den Frieden genommen, und das vielleicht sogar für immer. Nach der zweiten hatte ich meiner Mutter ihren rücksichtslosen Egoismus übel genommen, zumindest das konnte ich mir inzwischen eingestehen. Nach der dritten Erinnerung hatte ich sie beneidet. Doch nun … nun war es anders. Aber nicht sie war anders – sie war ja tot und konnte sich nicht mehr ändern –, sondern ich. Ich hatte mich geändert. Meinen schmerzenden linken Arm fest an die Brust gepresst, empfand ich ein tiefes Einvernehmen mit ihr.

Diesmal hatte ich gespürt, wie sie gekämpft hatte, und darin auch etwas von meinen eigenen Kämpfen wiedererkannt. Sie hatte ihren Vater mehr als die Familie, als ihr Land, als alle anderen Drachen, mehr als alles, was sie seit ihrer Kindheit kannte, geschätzt. Sie hatte sich um Orma gesorgt, soweit ein Drache sich überhaupt um etwas sorgen kann – nicht zuletzt damit hatte sie meine Sympathie erworben. Und was die nagende Leere in ihrem tiefsten Herzen anging, die war mir nur allzu vertraut.

»Ich dachte, ich wäre die Einzige, die diese Leere je gespürt hat, Mutter«, raunte ich in die Bettvorhänge. »Ich dachte, ich wäre allein, und vielleicht auch ein bisschen verrückt.«

Das Federbett wollte mich jetzt nicht mehr verschlingen, es schien nun eine Wolke zu sein, die mich einer strahlenden Erleuchtung entgegentrug. Meine Mutter hatte einen gegen den Ardmagar gerichteten Verschwörerkreis aufgespürt. Wie schwierig dies auch für mich werden würde, wie sehr mich Kiggs auch verachten oder der Ardmagar mich verdammen mochte, dieses Geheimnis konnte ich nicht für mich behalten.