Zehn
Ich schlenderte zur Kathedrale, wie Orma vorgeschlagen hatte, denn mich zog es noch nicht wieder in den Palast zurück. Die Wolken hatten einen dünnen weißen Schleier über die Sonne gelegt und der Wind frischte auf. Vielleicht schneite es bald. Es waren noch fünf Tage bis Spekulus, der längsten Nacht des Jahres. Und das Sprichwort besagte: Ist Spekulus hell und klar, deutet’s auf ein kaltes Jahr.
Die Comonot-Uhr auf dem Kathedralenvorplatz, die die Stunden bis zur Ankunft des Ardmagar rückwärts zählte, war immer in meinem Blickfeld. Der Wechsel der verbleibenden Tage vollzog sich mitten am Vormittag, genau um die Zeit, zu der wir den Ardmagar in der Stadt erwarteten. Mir gefiel diese Genauigkeit, und ich sah zu, wie die mechanischen Figuren aus kleinen Türchen im Zifferblatt hervorkamen. Ein leuchtend grüner Drache und eine ganz in Purpur gekleidete Königin traten vor, verbeugten sich, jagten einander abwechselnd und hielten dann einen Stoff zwischen sich, was, wie ich vermutete, den Vertrag symbolisieren sollte. Es knirschte und knackte, und der wuchtige Uhrzeiger wanderte zur Drei.
Noch drei Tage. Ich fragte mich, ob die Söhne Ogdos ebenfalls unter Zeitdruck standen. Machte es ihnen Mühe, Aufruhr zu entzünden? Hatten sie genügend Fackeln und schwarze Federn? Genug fanatische Schwätzer?
Ich wandte mich wieder der Sankt-Gobnait-Kathedrale zu, getrieben von der Neugier auf Viridius’ Lieblingsschüler. Die Uhr, die er geschaffen hatte, war ohne Zweifel sehr beeindruckend.
Ich fühlte das Megaharmonium, noch ehe ich es hörte, durch meine Schuhsohlen hindurch, auf der Straße, ich nahm es nicht als Klang wahr, sondern als ein Vibrieren, als ob die Luft besonders stark auf mir lastete. Als ich näher zur Kathedrale kam, wurde mir klar, dass da tatsächlich ein Ton war, aber dass es mir schwerfiel, ihn zu bestimmen. Ich stand in der Vorhalle des nördlichen Seitenschiffs, die Hand an eine Säule gestützt, und spürte das Megaharmonium bis ins Mark.
Es war laut. Mehr konnte ich beim besten Willen nicht darüber sagen.
Ich öffnete die Tür und ging in das nördliche Seitenschiff. Der Klang blies mich fast wieder hinaus. Die ganze Kathedrale, jeder Winkel war davon erfüllt, die Töne ballten sich zusammen wie zu einem festen Körper, der alle Luft verdrängte und selbst undurchdringlich war. Ich musste warten, bis sich meine Ohren daran gewöhnt hatten, was aber überraschend schnell geschah.
Als ich den anfänglichen Schrecken überwunden hatte, war ich zutiefst beeindruckt. Meine armselige Flöte hatte das Gebäude schon zum Klingen gebracht, aber ihr zarter Ton war wie Kerzenrauch emporgestiegen, dies hier war eine Feuersbrunst.
Ich ging bis zum Goldenen Haus in der Vierung und bog dann in das südliche Querschiff. Jetzt erkannte ich, dass das Instrument vier Manuale hatte, die wie weiße Zahnreihen strahlten, und ein großes Pedal. Über, um und neben dem Instrument waren ganz akkurat die verschiedenen Pfeifen aufgereiht, es sah aus wie eine mit Palisaden umgebene Festung. Nein, es sah aus wie eine bizarre Kreuzung zwischen einem Dudelsack und … und einem Drachen.
Ein großer schwarz gekleideter Mann thronte auf der Sitzbank, seine Füße tanzten den Grundbass und seine breiten Schultern erlaubten es ihm, mit den Händen so weit auszugreifen wie ein Berggorilla aus Ziziba. Ich war zwar auch nicht gerade klein, aber ich hätte mich unmöglich so verrenken können, ohne mir die Arme auszukugeln.
Auf dem Notenpult lagen keine Noten, gewiss hatte noch niemand etwas für dieses Ungetüm komponiert. War dieses Durcheinander an Tönen sein eigenes Werk? Vermutlich. Es war großartig, wie ein Gewitter über der Moorlandschaft oder ein reißender Fluss großartig ist, soweit man einer Naturgewalt Genie zusprechen konnte.
Aber ich hatte vorschnell geurteilt. Je länger ich zuhörte, desto klarer wurde mir die Struktur des Stücks. Die Lautstärke und die Wucht des Klangs hatten mich von der Melodie abgelenkt, die zart, beinahe schüchtern war. Das bombastische Getöse täuschte den Hörer.
Der Musiker entließ den letzten Akkord wie einen Felsbrocken von einer Wurfmaschine. Eine Schar Mönche, die sich wie verschreckte Mäuse in einer Seitenkapelle versammelt hatte, huschte herbei und umringte den Spieler. Sie flüsterten: Wunderschön. Wir sind froh, dass es funktioniert. Genug der Proben, wir wollen jetzt Gottesdienst feiern.
»Aber ick könnte dok während Gottesdienst spielen?«, sagte der große Mann in seinem schweren samsamesischen Akzent und nickte eifrig. Er hatte blonde, sehr kurz geschnittene Haare.
Nein, nein, nein. Die Ablehnung hallte durchs ganze Seitenschiff. Der Hüne ließ die Schultern hängen; sogar von hinten sah man, wie enttäuscht er war. Zu meiner eigenen Verblüffung verspürte ich Mitleid mit ihm.
Bestimmt war er Lars, Viridius’ Liebling. Er hatte eine beeindruckende Maschine gebaut, die mit ihren Pfeifen und Röhren und Bälgern die Seitenkapelle ausfüllte. Ich fragte mich, welchen Heiligen man daraus verbannt hatte, um Platz zu schaffen.
Ich musste ihn begrüßen. Ich hatte das Gefühl, in seinem Spiel etwas von seiner menschlichen Wärme, ein Stückchen seines Herzens erkannt zu haben. Wir waren seelenverwandt, nur wusste er das noch nicht. Ich trat zu ihm und räusperte mich leise. Er drehte sich zu mir um.
Er hatte ein unauffälliges Kinn, runde Wangen, graue Augen – und doch machte mich sein Anblick sprachlos. Denn es war niemand anderer als der Laute Lauser, der in meinem Gedankengarten pfiff, jodelte und Lauben baute.
»Ich grüße dich«, sagte ich leise. Mein Puls raste vor Aufregung und vor blankem Entsetzen. Würden womöglich alle meine Grotesken, die ganze Außenseiterschar an Halbdrachen, nach und nach in mein Leben treten? Würde ich Gargoyella eines Tages an einer Straßenecke begegnen und Finch in der Palastküche Bratenspieße drehen sehen? Vielleicht musste ich dann gar nicht mehr zu ihnen in den Garten gehen.
Der Laute Lauser verbeugte sich knapp, wie man es in Samsam tat, und sagte: »Man hat uns nok nikt bekanntgemacht, Grausleine.«
Ich schüttelte seine riesige Pranke. »Ich bin Serafina, die neue Musikmamsell von Meister Viridius.«
Er nickte eifrig. »Ik weiß, ik heiße Lurss.«
Lars. Er sprach Goreddi, als wäre sein Mund voller Kieselsteine.
Er erhob sich von der Bank; er war größer als Orma und mindestens zweieinhalb mal so schwer. Er schien zugleich stark und zerbrechlich zu sein, so als wäre er nur durch schieren Zufall ein solches Muskelpaket geworden und würde sich nicht weiter darum scheren. Seine Nase war wie eine Kompassnadel – er benutzte sie als Richtungsweiser. Er zeigte mit ihr auf den Chorraum, wo die Mönche gerade fröhliche Lobgesänge auf Sankt Gobnait und ihre heiligen Bienen anstimmten. »Sie haben Gottesdienst. Vielleikt können wir …« Er zeigte am Goldenen Haus vorbei zum nördlichen Seitenschiff. Ich folgte ihm nach draußen in das milchige Licht des Nachmittags.
Wir gingen bis zur Wolfstoot-Brücke, ein verlegenes Schweigen breitete sich zwischen uns aus.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte ich und zeigte auf einige Karren, von denen herab Essen verkauft wurde. Er antwortete nicht, schlug jedoch sofort diese Richtung ein. Ich kaufte Pasteten und Bier für uns und wir nahmen sie mit an das Brückengeländer.
Lars schwang sich erstaunlich geschickt auf die Balustrade und ließ seine langen Beine über dem Fluss baumeln. Wie alle echten Samsamesen war die Farbe seiner Kleidung gedeckt: schwarzes Wams, Joppe und Kniehose. Keine Rüschen oder Bändchen, kein geschlitztes Beinkleid, keine Pluderhose. Seine Stiefel sahen aus, als trüge er sie schon sehr lange und brächte es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen.
Er aß ein Stück Pastete und sagte: »Ik muss mit dir spreken, Grausleine. Ik habe dik beim Begräbnis gehört und ik wusste, du …«
Er verstummte. Ich sah ihn an, sagte jedoch nichts.
Möwen kreisten über uns und warteten gierig auf jedes noch so kleine Krümelchen, das wir ihnen zuwarfen. Sie stürzten sich herab und fingen es im Fluge auf. »Ik fange nochmal an«, sagte Lars. »Ist dir vielleikt schon aufgefallen, dass ein Instrument mankmal wie eine Stimme ist? Dass man allein vom Zuhören, ohne hinzusehen, sagen kann, wer spielt?«
»Wenn ich den Musiker sehr gut kenne, ja«, antwortete ich zögernd, weil ich nicht wusste, worauf er hinauswollte.
Er blies die Wangen auf und blickte zum Himmel. »Halte mik nikt für verrückt, Grausleine. Ik habe dik schon einmal spielen hören, im Traum, hier drin …« Er deutete auf seinen blonden Schopf.
»Ik wusste nikt, was ik da hörte, aber ik habbe daran geglaubt. Es war wie Krümel auf einem Waldweg, sie führten mik hierher, wo ik meine Maschine bauen kann und wo ik nikt mehr der … ähm … Leutsrek bin, Entschuldigung, ik spreke nikt gut Goreddi.«
Er sprach besser Goreddi als ich Samsamesisch, aber das mit dem Leuteschreck begriff ich nur zu gut. Ich wagte es nicht, ihn zu fragen, ob er auch ein Halbdrache war. Sosehr ich auch hoffte, dass eben dieser Umstand mich und meine Grotesken miteinander verband, so hatte ich doch keinerlei Beweis dafür. Ich fragte: »Du bist der Musik gefolgt …?«
»Deiner Musik.«
»… um der Verfolgung zu entgehen?« Ich sprach freundlich zu ihm, versuchte ihm mein Mitleid auszudrücken und zu zeigen, dass ich sehr wohl verstand, wie schwierig es war, ein Zwitterwesen zu sein.
Er nickte energisch. »Ik bin ein Daaniter«, sagte er.
»Oh!«, erwiderte ich. Dass er verfolgt worden war, weil er Männer liebte, hatte ich nicht erwartet. Ich ertappte mich dabei, wie ich im Geiste alles neu überdachte, was Viridius mir mit glänzenden Augen über seinen Schüler erzählt hatte.
Lars starrte auf die Reste seines Mittagessens, die Schüchternheit hatte sich wieder wie ein Schleier über ihn gelegt. Hoffentlich hatte er mein Schweigen nicht als Missbilligung verstanden. Ich musste versuchen, ihn aus dieser Stimmung zu reißen. »Viridius ist mächtig stolz auf dein Megaharmonium.«
Er lächelte, aber er blickte nicht auf.
»Wie hast du die Akustik für diesen Apparat berechnet?«
Er sah mich mit seinen grauen Augen scharf an. »Akustik? Ganz einfach. Aber ik brauke etwas zum Schreiben.«
Ich zog einen kleinen Kohlestift – eine Erfindung der Drachen, nicht leicht zu beschaffen in Goredd, aber überaus nützlich – aus der Tasche meines Umhangs. Lars verzog die Lippen zu einem flüchtigen Lächeln, dann schrieb er neben sich eine Gleichung auf das Brückengeländer. Als er keinen Platz mehr hatte, weil er inzwischen mit dem Schreiben an seinem Hintern angelangt war – er war nämlich Linkshänder –, stellte er sich auf das Geländer, balancierte wie eine Katze und schrieb weiter. Er zeichnete Hebel und Ventile, notierte, wie die verschiedenen Holzarten schwingen, und erklärte mir seine Theorie, über das Erzeugen eines speziellen Klangs bei jedem beliebigen Instrument, indem man die Eigenschaften der Schallwellen verändert.
Alle Passanten blickten sich nach dem riesengroßen, aber dennoch gelenkigen Mann um, der auf der Balustrade balancierte, ins Schreiben vertieft war und mit samsamesischen Wortfetzen von seinem Megaharmonium brabbelte.
Ich grinste ihn an und staunte darüber, dass jemand so besessen von einer Maschine sein konnte.
Eine Gruppe zu Pferde näherte sich uns, aber es war schwierig für sie, über die Brücke zu reiten, weil alle Händler und Stadtbewohner Lars bei seinen Eskapaden zusahen. Die berittenen Höflinge machten einen ziemlichen Krawall mit ihren Pferden, und die Menschen stolperten zur Seite, damit sie nicht unter die Hufe gerieten. Einer der Reiter, der ganz in Schwarz gekleidet war, trieb allzu neugierige Gaffer mit seiner Reitpeitsche aus dem Weg.
Er war Josef, Graf von Apsig. Er bemerkte mich nicht, seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich Lars.
Lars hob den Kopf, sah den grimmigen Blick des Grafen und wurde blass.
Die Goreddis behaupteten ja, Samsamesisch klänge sowieso immer wie lautes Fluchen, aber der Ton, in dem Josef nun sprach, und seine Körperhaltung ließen keinen Zweifel daran, dass er Lars nicht freundlich gesinnt war. Er ritt direkt auf ihn zu, fuchtelte mit den Händen und schrie etwas. Ich erkannte die Wörter Hund und Bastard, einige andere erriet ich. Ich beobachtete Lars, ich hatte Angst um ihn, aber er ließ die Beschimpfung gleichmütig über sich ergehen.
Josef ritt dicht an das Geländer heran und Lars konnte sein Gleichgewicht nur mit Mühe halten. Der Graf senkte die Stimme zu einem bösartigen Flüstern. Lars war stark genug, er hätte den dürren Mann mit Leichtigkeit vom Pferd stoßen können, aber er tat es nicht.
Ich schaute mich nach Hilfe für Lars um, aber keiner der vielen Menschen, die auf der Brücke standen, machte irgendwelche Anstalten, ihm beizustehen. Lars war mein Freund, auch wenn ich ihn erst kurz kannte. Den Lauten Lauser kannte ich schon seit fünf Jahren und er war immer einer meiner Lieblinge gewesen. Ich zwängte mich zum Pferd durch und stupste Graf von Apsig am Knie, zuerst sachte, und als er mich nicht beachtete, etwas fester.
»He«, sagte ich ungebührlich forsch, immerhin war er ein Graf. »Lasst ihn in Ruhe.«
»Misch dich nicht ein, Grausleine«, erwiderte Josef hochmütig über seine gestärkte Halskrause hinweg. Ein paar blonde Strähnen hingen ihm in die Augen. Er ließ sein Pferd aufbäumen und drängte mich zurück. Dabei schlug das Tier unabsichtlich – oder auch nicht – mit den Hinterläufen aus und stieß Lars in den eiskalten Fluss.
Alle rannten jetzt los, einige zum Ufer, andere wollten nur möglichst weit weg von dem Tumult. Ich eilte die Stufen zum Kai hinab. Fischer waren schon mit ihren Booten und Weidenkähnen losgerudert und hielten Stangen in die rauen Wellen und gaben der zappelnden Gestalt im Wasser Anweisungen. Lars konnte offenbar schwimmen, aber seine Kleidung und die Kälte machten es ihm schwer. Seine Lippen waren blau angelaufen, und er hatte Mühe, sich an den Stangen, die man ihm hinstreckte, festzuhalten.
Schließlich bekam einer der Ruderer ihn doch noch zu fassen und zog ihn ans Ufer, wo alte Fischerinnen bereits Decken aus ihren Kähnen geholt hatten. Jemand schleppte ein Kohlebecken herbei und brachte das Feuer darin zum Lodern. Ein Hauch glühender Kohle mischte sich unter den Fischgestank.
Tränen brannten in meinen Augen, so gerührt war ich von den vielen Leuten, die Hand in Hand arbeiteten, um einem Fremden zu helfen. Die Bitterkeit, die ich seit dem Morgen mit mir herumgetragen hatte, schmolz dahin. Vor dem Unbekannten hatten die Menschen Angst, aber wenn es um einen der ihren ging, dann waren sie zu großer Hilfsbereitschaft fähig …
Nur dass Lars eben keiner von ihnen war. Er sah ganz unauffällig aus, abgesehen von seiner Größe und seinem Körperumfang, aber was verbarg sich unter seinem schwarzen Wams? Schuppen? Oder etwas noch Schlimmeres? Und jetzt waren die besorgten, aber auch leicht zu erschreckenden Leute dabei, ihm seine klatschnassen Kleider vom Leib zu zerren. Gerade wies er schüchtern die Hilfe einer Frau zurück. »Komm schon, Junge«, lachte sie. »Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren. Was habe ich nicht alles gesehen in meinen fünfzig Jahren.«
Lars zitterte – und zwar so heftig, wie nur jemand mit einer solchen Statur zittern konnte. Er musste unbeobachtet das nasse Zeug loswerden, aber wie? Mir fiel nur ein Ausweg ein und der war leicht verrückt.
Ich sprang auf einen Landungspoller und rief: »Wer will ein Lied hören?« Dann stimmte ich ohne jede Musikbegleitung eine schmissige Fassung von Pfirsich und Wein an.
Wenn die Sonne durch die Wipfel lacht,
Und die Lilien gaukeln sacht,
Das sind Tage, wie für mich gemacht.
Ich atme den süßen Duft,
Trübsinn verpufft in der Luft,
Und ich speise gar fein – Pfirsich und Wein.
Voll Sehnsucht erobere ich die Welt,
Frei wandere ich unterm Himmelszelt,
Dort bin ich mein eigener Held.
Alles ließ ich zurück,
Auf der Suche nach Glück,
In der goldenen Stadt – mit Pfirsich und Wein.
Die Leute lachten und klatschten, und fast alle blickten zu mir herüber. Lars brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass alles nur Ablenkung war, damit er sich in Ruhe umziehen konnte. Verschämt drehte er sich zur Ufermauer hin. Er hatte eine Decke über die Schultern geworfen und begann, seine Kleider auszuziehen.
Beeil dich, dachte ich im Stillen, das Lied hat nur fünf Strophen.
Mir fiel ein, dass ich ja die Laute auf den Rücken gebunden hatte. Ich zog sie hervor und begann, zwischen den einzelnen Strophen darauf zu improvisieren. Die Leute waren munter bei der Sache. Nur Lars glotzte mich an, was mich wunderte. Hatte er mir nicht geglaubt, dass ich ein Instrument spielen konnte? Vielen Dank für das mickrige Lob, Viridius.
Aber dann starrte auch ich ihn an, denn an ihm war absolut nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Da war keine Spur von Silber an seinen Beinen. Rasch schlüpfte er in die geborgten Hosen. Und die Decke hielt er so gut er konnte um die Schultern geschlungen, bis sie schließlich doch herunterfiel. Ich gaffte auf seinen Oberkörper. Nichts.
Nein, da war etwas, an seinem rechten Oberarm. Ein schmales Schuppenband zog sich rundherum. Aus der Ferne sah es wie eines dieser Kettchen aus, die man in Porphyrien trug; er hatte es irgendwie geschafft, die Stelle mit farbigen Glasperlen zu überdecken. Jeder, der nicht wusste, dass es Schuppen waren, hätte es ohne Weiteres für Schmuck halten können.
Plötzlich verstand ich, weshalb sich Dame Okra so über mich geärgert hatte. Wie einfach war das Leben doch, wenn ein schmaler Streifen aus Schuppen der einzige körperliche Makel war. Und ich stand da, vor aller Augen, brachte mich selbst in Gefahr, wo er doch kaum etwas zu verbergen hatte.
Ich frage und flehe und hoffe wie nie,
Vor dir, Liebste, falle ich auf die Knie,
Lass wahr werden meine Fantasie,
Wenn die Zeit herangereift ist,
Und du, meine Süße, bei mir bist,
Schenk Wonne mir – mit Pfirsich und Wein.
Ich beendete das Lied mit einem schwungvollen Schlussakzent. Lars war wieder züchtig bekleidet, auch wenn die Fischerkluft etwas zu klein war. Die Leute riefen nach einer Zugabe, aber ich fühlte mich ausgelaugt, die Kraft, die mir die Angst verliehen hatte, war aufgebraucht. Ich schaffte es gerade noch, mir zu überlegen, wie ich von dem hohen Poller hinuntergelangen konnte. Als ich nach unten sah, wusste ich nicht mehr, wie ich überhaupt heraufgekommen war. Anscheinend verleiht die Verzweiflung ungeahnte Fähigkeiten.
Plötzlich streckte sich mir eine Hand entgegen. Ich blickte nach unten und sah die schwarzen Haare und die lustigen Augen von Prinz Lucian Kiggs.
Er schmunzelte über meine Verrücktheiten, und ich konnte nicht anders, ich musste ebenfalls lachen.
Ich sprang hinunter, wenn auch nicht sehr elegant.
»Ich war gerade mit der Abendwache auf dem Weg zum Palast«, sagte der Prinz. »Dachte, wir sollten mal anhalten und nach dem Grund des Treibens sehen – und herausfinden, wer da singt. Das war sehr hübsch.«
Viele Leute hatten sich aus dem Staub gemacht, als die kleine Wachmannschaft aufmarschiert war. Jene, die geblieben waren, erzählten nun mit großem Vergnügen, was vorgefallen war, so als handle es sich um eine Geschichte aus Belondweg, unserem Nationalepos. Der Titelheld der Geschichte, der Grausame Graf von Apsig, nimmt da auf dem Brückengeländer einen tumben Toren gefangen! Eine hübsche Jungfrau will ihn retten, die heldenmütigen Städter fischen ihn aus dem Wasser und dann – tatatata – Triumphmarsch!
Prinz Lucian schien die Geschichte zu gefallen. Ich war nur froh, dass ich nicht erklären musste, was ich tatsächlich gemacht hatte, denn allen anderen war es völlig normal vorgekommen. Lars stand ganz ruhig da und beachtete den Wachmann nicht, der ihn ausfragen wollte.
Der enttäuschte Mann erstattete dem Prinzen Bericht: »Er hat kein Interesse daran, diesen Vorfall aufzuklären, Hauptmann Kiggs.«
»Schaff mir Graf Josef herbei. Ich werde mit ihm darüber sprechen. Er kann nicht einfach Leute in den Fluss werfen und dann wegreiten«, befahl Prinz Lucian und schickte den Wachmann weg.
Die Sonne ging gerade unter und der Wind hatte aufgefrischt. Der Prinz betrachtete meinen vor Kälte zitternden Freund. Lars war älter und einen Kopf größer, aber Prinz Lucian stand da wie der Hauptmann der Königlichen Garde und Lars wie ein kleiner Junge, der am liebsten im Erdboden versunken wäre. Fast rechnete ich damit, dass er es auch tatsächlich tat.
Der Prinz bemühte sich, freundlich mit ihm zu sprechen: »Du bist also ein Schüler von Viridius.«
»Ja«, murmelte Lars wie jemand, der bereits im Erdboden versunken ist.
»Hast du den Grafen in irgendeiner Weise provoziert?«
Lars zuckte die Schultern und sagte: »Ik bin auf seinem Landbesitz aufgewaksen.«
»Das kann man wohl kaum eine Provokation nennen, oder?«, fragte Prinz Lucian. »Bist du sein Leibeigener?«
Lars zögerte. »Ik bin schon länger als ein Jahr und Tag nikt mehr dort gewesen. Nak Rekt und Gesetz bin ich frei.«
Eine Frage drängte sich mir auf. Wenn Lars auf den Ländereien des Grafen aufgewachsen war, könnte Josef dann gewusst haben, dass es sich bei Lars um einen Halbdrachen handelt? Möglich war es, und wenn man Josefs Einstellung Drachen gegenüber in Betracht zog, dann erklärte sich auch, wieso er sich so feindselig verhalten hatte. Aber das konnte ich Lars ja im Beisein von Lucian Kiggs nicht fragen.
Der Prinz verzog angewidert das Gesicht. »Mag sein, dass man in Samsam seine früheren Leibeigenen schikanieren darf, hier bei uns ist das nicht Sitte. Ich werde ihn mir vorknöpfen.«
»Mir wäre lieber, Ihr tätet das nikt«, sagte Lars. Prinz Lucian wollte widersprechen, aber Lars fragte rasch: »Kann ik jetzt gehen?«
Der Prinz erteilte ihm mit einem Wink die Erlaubnis, sich zu entfernen. Lars gab mir meinen Stift zurück, der etwas feucht geworden war, und sah mich einen Augenblick lang an, ehe er sich zum Gehen wandte. Ich hätte ihn gerne zum Abschied umarmt, aber in Gegenwart des Prinzen fühlte ich mich merkwürdig gehemmt. Wir hatten ein gemeinsames Geheimnis, Lars und ich, selbst wenn Lars noch nichts davon wusste.
Wortlos stieg er die Steinstufen der Wolfstoot-Brücke hinauf. Er ließ die Schultern hängen, als läge, für uns unsichtbar, die Last der ganzen Welt auf ihnen.