Zweiunddreißig
Comonot und ich kamen fast gleichzeitig in seinen Räumen an; Kiggs war schon vor uns da, er hatte auf dem Weg dorthin noch zwei Wachsoldaten mitgenommen. Wir betraten die Zimmer gerade in dem Moment, als einer der Gardisten wieder nach draußen rannte, und mir war sofort klar, warum: Kiggs hatte ihn nach einem Arzt geschickt.
Kiggs und der andere Mann halfen Prinzessin Dionne, vom Fußboden aufzustehen, und versuchten, sie in einer halbwegs aufrechten Stellung aufs Sofa zu setzen. Kiggs steckte ihr zwei Finger in den Hals, damit sie sich übergeben konnte. Den Gefallen tat sie ihm auch und erbrach eine klebrige rote Masse in einen Helm, den ihr der Wachmann hinhielt, sah danach aber auch nicht viel besser aus.
Sie war grün angelaufen, in ihren Augen sah man beunruhigend viel Weiß und sie schien nicht klar zu sehen. »Apsig! Wein!«, keuchte sie. Der Gardist missverstand das als Befehl und füllte ihr Glas auf dem Tisch nach. Kiggs schlug es ihm aus der Hand und es zerschellte am Boden.
»Der Wein hat sie krank gemacht«, stieß Kiggs zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hatte Mühe, seine Tante, die sich in Krämpfen wand, auf dem Sofa zu halten. Comonot kam ihm zu Hilfe. »Seit wann habt Ihr diese Flasche, Ardmagar?«
»Es ist nicht meine. Die Prinzessin muss sie mitgebracht haben.« Er riss die Augen auf. »Wollte sie mich etwa vergiften?«
»Seid nicht so dumm«, sagte Kiggs, dessen Wut über seine Manieren siegte. »Dann hätte sie den Wein doch nicht selbst getrunken.«
»Vielleicht hat sie Gewissensbisse bekommen.«
»So funktioniert das nicht, du blöder Drache!«, schrie Kiggs mit überschnappender Stimme. Er wischte seiner Tante den Schaum von den Lippen. »Warum wollte sie Euch hier treffen? Warum hat sie Wein mitgebracht? Glaubt Ihr, Ihr könnt so einfach nach Goredd kommen und Mensch spielen, ohne Ahnung davon zu haben?«
»Kiggs«, sagte ich beschwichtigend und berührte ihn sanft am Arm, doch er schüttelte meine Hand ab.
Comonot hatte sich an die Rückseite des Sofas gelehnt und machte einen verwirrten Eindruck. »Ich habe keine Ahnung, genau. Aber da ist ein Gefühl, ich weiß nur nicht, was für eines.« Er sah mich flehend an, aber was sollte ich ihm schon sagen?
Der Arzt kam in Begleitung von drei Kammerzofen. Ich half ihnen, Dionne ins Bett zu tragen, wo sie ihr die Kleider auszogen, sie wuschen und zur Ader ließen. Dann verabreichten sie ihr Kohlepulver und untersuchten den Wein und das Erbrochene auf Hinweise, welches Gegengift anzuwenden wäre. Comonot, der keinerlei Scham verspürte, sie nackt zu sehen, kam ungefragt herein und sah zu. Kiggs ging im Vorzimmer auf und ab.
Plötzlich überfiel mich eine entsetzliche Ahnung. Ich drehte mich um und wollte hinauslaufen, aber Comonot hielt mich zurück. »Hilf mir«, bat er, »ich fühle etwas …«
»Das ist Schuld«, fauchte ich ihn an und riss mich los.
»Mach, dass sie weggeht!« In seinem Gesicht stand das blanke Entsetzen.
»Das kann ich nicht.« Mehr sagte ich nicht, denn meine Aufmerksamkeit galt Dionne, die erneut Krämpfe bekommen hatte. Ein bisschen tat mir der dumme, alte Saar allerdings schon leid. Im Angesicht des Todes waren alle, Drache wie Mensch, ratlos. Ich strich ihm über die Pausbacke und redete ihm zu wie einem Kind: »Bleibt hier. Helft, wo Ihr könnt. Vielleicht kann sie noch gerettet werden. Ich muss dafür sorgen, dass heute Nacht nicht noch jemand stirbt.«
Ich eilte zu Kiggs hinaus. Er saß auf einem Sofa, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände vor den Mund gepresst. Seine Augen waren riesengroß. »Kiggs!« Er sah nicht auf. Ich kniete mich vor ihn hin. »Steht auf. Es ist noch nicht vorüber.« Er sah mich mit leerem Blick an. Ich gab meinem inneren Drang nach und berührte sein wirres Haar. »Wo ist Selda? Wo ist Eure Großmutter? Wir müssen dafür sorgen, dass sie in Sicherheit sind.«
Das wirkte. Er sprang auf und wir eilten im Laufschritt zu ihren Gemächern, aber weder die Königin noch die Prinzessin lagen in ihrem Bett und schliefen. »Glisselda wollte mit ihrer Großmutter sprechen«, sagte Kiggs. »Vermutlich sind sie beisammen. Im Studierzimmer der Königin oder …« Er zuckte die Schultern. Ich wollte schon losrennen, aber er holte eine Laterne, nahm meinen Arm und führte mich durch eine versteckte Tür im Schlafzimmer der Königin in einen geheimen Gang.
Der Durchlass war schmal, deshalb ging ich hinter Kiggs. Als ich das Schweigen nicht länger ertrug, fragte ich ihn: »Habt Ihr gehört, dass Eure Tante Graf Apsigs Namen nannte?«
Er nickte. »Es liegt auf der Hand, was sie damit gemeint hat.«
»Dass Josef ihr den Wein gegeben hat? War er nur für den Ardmagar bestimmt oder …«
»Für beide, nehme ich an.« Er drehte sich nach mir um, sein Gesicht war im Dunkeln kaum zu erkennen. »Tante Dionne sollte sich mit Comonot in der Kathedrale treffen.«
»Aber Thomas kann mich unmöglich mit ihr verwechselt haben.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass er dich erkannt und im selben Augenblick beschlossen hat, stattdessen dich zu töten. Denk daran, du hast Josef in der Nähe des Tatorts gesehen.«
»Ihr habt es damals für einen Zufall gehalten.«
»Ja, bis sein Name gerade eben wieder ins Spiel kam«, schrie er unerwartet laut und verriet damit, wie sehr ihm die Anspannung des heutigen Abends zu schaffen machte.
Durch eine weitere Geheimtür betraten wir das Zimmer der Königin, fanden es aber leer vor. Kiggs fluchte.
»Wir sollten uns aufteilen«, schlug ich vor. »Ich suche im Großen Saal.«
Er nickte. »Ich werde die Garde losschicken. Wir müssen sie aufspüren, egal wo sie sind.«
Noch während ich in Richtung Saal lief, rief ich in meinen Gedanken Abdo. Abdo, geh zu Lars und warte mit ihm bei der Bühne auf mich. Weißt du, wo Dame Okra ist?
Abdo antwortete, dass die Botschafterin am Tisch mit den Nachspeisen stünde, und machte sich sofort auf die Suche nach Lars. Ich rief Lars in meinen Gedanken und ließ ihn wissen, dass Abdo zu ihm unterwegs war.
Ich überlegte, ob ich mein Versprechen brechen und mit Dame Okra in Verbindung treten sollte. Aber sie war auch so schon unleidlich genug und ich brauchte dringend ihre Hilfe. Ihr ganz besonderes Talent war unsere einzige Chance, und man konnte nur hoffen, dass diese Gabe sie jetzt nicht im Stich ließ. Als ich den Großen Saal betrat, war sie genau dort, wo Abdo es gesagt hatte, und führte gerade ein lebhaftes Gespräch mit Fulda, dem menschenscheuen Botschafter der Drachen. Ich lief an den herumwirbelnden Paaren vorbei und bewunderte im Stillen alle, die in diesen frühen Morgenstunden immer noch die Kraft hatten, eine Volta zu tanzen. Ich stellte mich neben Dame Okra und sagte: »Verzeiht, Botschafter Fulda, aber ich muss Euch Dame Okra für einen Augenblick entführen. Ich fürchte, es ist dringend.«
Meine Höflichkeit galt mehr ihr als ihm. Sie machte ein bedeutungsvolles Gesicht, reckte sich – wodurch sie allerdings auch nicht sehr viel größer wirkte – und sagte: »Ihr habt es gehört, Fulda. Fort mich Euch.«
Botschafter Fulda musterte mich mit funkelnden Augen. »Du bist also Maid Dombegh. Ich bin entzückt, doch noch deine Bekanntschaft zu machen.«
Verwundert fragte ich mich, was er wohl über mich gehört haben mochte.
»Oh, pfui!«, rief Dame Okra und schlug nach ihm. »Sie ist auch nichts Besseres als ich, und Ihr kennt mich jetzt schon seit Jahren. Komm, Serafina!« Sie griff meinen Arm und zerrte mich fort. »Also gut, was willst du?«, fragte sie, als wir schließlich allein in einer Ecke standen.
Ich holte tief Luft. »Wir müssen die Königin und Glisselda suchen.«
»Heißt das, sie sind nicht in ihren Privaträumen?«
Ich starrte sie an. »Was sagt Euer Bauch?«
»Mein Bauch sagt nichts auf Kommando, junges Fräulein!«, erwiderte sie barsch. »Er lenkt mich und nicht umgekehrt.«
Ich beugte mich ganz nahe zu ihrem Froschgesicht hinunter, um ihr ein für alle Mal zu beweisen, dass ich, was bissige Bemerkungen anging, ihr nicht nur ebenbürtig war, sondern sie eines Tages übertreffen würde. »Ihr habt mir gesagt, Euer Bauch versetze Euch in die Lage, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. In diesem Moment schweben die Königin und Glisselda vielleicht in Lebensgefahr, also ist der rechte Ort genau dort, wo sie sich gerade jetzt aufhalten, und die rechte Zeit ist genau dann, wenn ihnen ein Leid droht!«
»Vielen Dank für diese zusätzlichen Hinweise«, schnaubte sie. »Ich brauche etwas, um mein Bauchgefühl in Gang zu setzen. Es hat nichts mit Zauberei zu tun, es ist mehr wie ein Reflex.«
»Also was ist, weist er Euch nun den Weg oder nicht?«
Sie dachte einen Moment lang nach, dann tippte sie sich mit dem Finger auf die Lippen. »Ja, und zwar in diese Richtung.«
Dame Okra führte mich durch eine der Türen, gerade als Kiggs den Saal durch eine andere Tür betrat. Ich rief und winkte ihn herbei. Er kam quer über die Tanzfläche gerannt und scheuchte die Paare auseinander. Dame Okra wartete nicht auf ihn, sondern schlug den Weg zum Ostflügel des Palasts ein. Ich folgte ihr in einiger Entfernung und wartete, bis Kiggs mich eingeholt hatte.
»Wohin gehen wir?«, fragte er außer Atem.
»Wir haben herausgefunden, wo Glisselda und die Königin sind«, antwortete ich und fürchtete bereits seine nächste Frage.
»Und wo?«
»Bei Sankt Vitt, woher soll ich das wissen?«, knurrte Dame Okra und lief noch schneller.
Kiggs blickte mich ungläubig an. »Was soll das heißen?«
»Sie hat so ein Gefühl und ich vertraue ihr. Geben wir dem eine Chance.«
Kiggs brummte skeptisch, begleitete uns aber. Vor dem Durchlass, der in den Trotzturm führte, machte Dame Okra Halt. Sie rüttelte an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. »Wohin führt diese Tür, Prinz?«, fragte sie.
»Dort oben können sie nicht sein«, sagte er, suchte aber bereits den Schlüssel.
»Wie sollten sie da hineingekommen sein?«, fragte ich, als das Schloss aufschnappte.
»Glisselda hat einen Schlüssel. Undenkbar ist es nicht, aber auch nicht sehr wahrscheinlich …« Er blieb unvermittelt stehen. Dumpfe Stimmen drangen von der Wendeltreppe zu uns herunter. »Bei den Knochen der Heiligen!«
Dame Okra machte Anstalten die Treppe hinaufzusteigen, aber Kiggs hielt sie zurück und lauschte. Er legte den Finger auf die Lippen und bewegte sich ganz lautlos, eine Hand am Griff seines Schwerts. Wir schlichen hinter ihm her. Oben stand die Tür einen Spaltbreit offen, deshalb drangen Licht und Geräusche zu uns. Wir hörten Gelächter und drei … nein, vier Stimmen. Kiggs machte uns ein Zeichen, still zu sein.
»Oh, das reicht, vielen Dank«, sagte eine Stimme, die ich für die Stimme der Königin hielt.
»Danke!«, piepste eine andere, die eindeutig Glisselda gehörte. »Sollten wir nicht warten, bis meine Mutter und Cousin Lucian hier sind?«
Eine dritte Person antwortete undeutlich, dann war das Klirren von Glas zu hören, so als würde ein Pokal neu mit Wein gefüllt.
Kiggs sah uns an und zählte mit den Fingern rückwärts: drei, zwei, eins …
Er riss die Tür genau in dem Moment auf, als die Königin, Glisselda und Lady Corongi auf das neue Jahr anstießen. Josef, Graf von Apsig, stand mit der Weinflasche in der Hand ein paar Schritte daneben.