Siebenundzwanzig
Ich tat das Erstbeste, das mir einfiel. Ich zeigte auf Basind und schrie: »Er will mir wehtun!«
Vielleicht wollte er das ja sogar. Zumindest blickte er schuldbewusst drein, weil er mich so durch die Gassen jagte. Ich wusste im tiefsten Herzen, dass ich einen Drachen verleumdete, um einen anderen zu retten. Aber ich hätte es trotzdem nicht sagen dürfen, am allerwenigsten zu den Söhnen Sankt Ogdos, die auch ohne einen guten Grund schnell bereit waren, einem Saar etwas anzutun.
Sie pöbelten Basind an und stießen ihn gegen eine Hauswand. Ich ahnte, dass ich ungewollt etwas Schlimmes in Gang gesetzt hatte. Zu dem wilden Haufen gehörten ungefähr vierzig Männer und seit der Ankunft des Ardmagar wurden ihre Anhänger von Tag zu Tag mehr.
Ich blickte einem der Söhne in die Augen – und erkannte zu meinem Entsetzen Graf von Apsig wieder.
Er war verkleidet – er trug handgewebte Kleider, eine Flickschusterschürze, einen eingedellten Hut mit schwarzer Feder –, aber seine hochmütigen blauen Augen konnte er nicht verbergen. Der Graf hatte mich bestimmt gesehen, als ich aus der Gasse gelaufen war. Jetzt wollte er sich verstecken und duckte sich mit abgewandtem Gesicht hinter seine Spießgesellen, während sie im Chor den Fluch Sankt Ogdos gegen das Untier riefen: Auge des Himmels, finde den Saar. Gib, dass er nicht sein Unwesen unter uns treibt, sondern lass uns ihn in seiner ganzen Ruchlosigkeit erkennen. Seine seelenlose Grausamkeit weht wie ein Banner vor den wissenden Augen der Rechtschaffenen. Lasst uns die Welt von ihm befreien!
Verzweifelt sah ich mich nach der Garde um, und tatsächlich rückte von Norden her ein Trupp in geschlossener Formation in unsere Richtung vor.
Die Soldaten begleiteten die königlichen Kutschen, die auf dem Weg zu den Goldenen Spielen waren. Die Söhne hatten sie ebenfalls bemerkt und riefen einander Befehle zu. Nur zwei Männer blieben zurück, sie hielten Basind, der schlaff in ihrer Mitte hing, fest. Die anderen verteilten sich entlang der Straße, so wie sie es schon gemacht hatten, als ich auf den Platz gekommen war.
Die Söhne hatten auf die Kutsche des Ardmagar gewartet.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Josef heimlich in einer Seitengasse verschwand. Er tat das Richtige. Ich war zuvor schon in solche Tumulte geraten, ein weiteres Mal konnte ich sehr gut darauf verzichten.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Leute und bog genau in dem Moment in die Gasse ein, als die Wachsoldaten bei den Söhnen angelangt waren. Hinter mir hörte ich lautes Geschrei, aber ich drehte mich nicht um. Ich konnte es nicht. Ich lief davon, so schnell mich meine Füße trugen.
Überall in der Stadt trieben an diesem Tag Sankt-Ogdo-Banden ihr Unwesen. Nicht ich allein hatte die schlimmsten Aufstände ausgelöst, die unsere Stadt je gesehen hatte, was allerdings nur ein schwacher Trost war. Die Söhne hatten die Wolfstoot-Brücke besetzt und im Lagerhausviertel warfen sie mit Steinen. Ich hielt mich an die Nebenstraßen, trotzdem musste ich immer wieder die großen Lebensadern der Stadt überqueren. Mir blieb nur zu hoffen, dass kein verirrter Stein meinen Schädel spaltete. Orma hatte da mehr Glück in den unterirdischen Tunneln.
Ich hoffte, es bis nach Hause zu meinem Vater zu schaffen. Aber bei der Kathedrale war Schluss; von dort aus sah man, wie schlimm es auf dem Vorplatz und der Kathedralenbrücke zuging. Die Soldaten hatten die Kontrolle über den Vorplatz übernommen, die Brücke war jedoch von den Söhnen verbarrikadiert.
Jemand hatte mutwillig die Comonot-Uhr beschädigt: die Köpfe von Königin und Drachen auf den Zeigern waren miteinander vertauscht und in eine mehrdeutige Pose gebracht worden. Über das Ziffernblatt hatte jemand die Frage geschmiert: Wie lange dauert es noch, bis die dreckigen Quigs nach Hause gehen? Ein anderer hatte als Antwort daruntergeschrieben: Erst dann, wenn wir die Teufel endlich hinauswerfen!
Ich beschloss, in der Kathedrale Schutz zu suchen, bis die Garde die Brücke eingenommen hatte. Ich war nicht die Einzige, die darauf hoffte. Im Kirchenschiff waren ungefähr fünfzig Menschen versammelt, meistens Kinder und ältere Leute. Die Priester hatten sie um sich geschart und versorgten ihre Verletzungen. Ich wollte mich nicht zu ihnen gesellen, deshalb schlich ich zur Ostseite des Goldenen Hauses, ohne dass mich einer der Priester bemerkte, und ging leise ins südliche Seitenschiff.
Das Megaharmonium in der Nische war mit einer Plane abgedeckt, zum Schutz vor Staub und schmutzigen Fingern. Ich ging hinter das Instrument, um es genauer zu betrachten und weil ich dort vor den neugierigen Blicken der Priester sicher war. Die Bälge hinter dem Megaharmonium reichten mir bis zur Schulter. Ich bedauerte denjenigen, der hier sitzen und endlos die Bälge treten musste. Das war eine Schinderei, bei der man langsam taub wurde.
Die Seitenkapelle machte den Eindruck, als hätte sie lange Zeit leer gestanden; die Wände waren nicht mehr geschmückt und in den Ritzen der Holzverkleidung waren nur noch schwache Spuren der einstigen Vergoldung zu sehen. Ich kniff die Augen zusammen, um die blasse Inschrift zu lesen: Kein Himmel außer diesem.
Der Leitspruch der Heiligen Yirtrudis. Mich überlief es kalt.
Über mir waren unter einer weißen Tünche blasse Umrisse zu erkennen. Dort, wo man ihr Gesicht weggemeißelt hatte, war ein unschöner Fleck zurückgeblieben, aber um diesen Fleck herum konnte man noch schemenhafte Linien erkennen: die ausgestreckten Arme, das wallende Gewand, ihre … Haare? Ich hoffte, dass es ihre Haare und nicht irgendwelche Tentakel oder Spinnenbeine oder noch Schlimmeres waren.
Vom Querschiff her hörte ich gedämpfte Stimmen. Neugierig spähte ich aus meinem Versteck. Nicht weit von mir entfernt stand Josef, Graf von Apsig, diesmal allerdings ohne seinen schwarzgefiederten Hut. Er unterhielt sich leise mit einem Priester. Der Kirchenmann hatte mir den Rücken zugekehrt, aber ich sah, dass er eine Kette mit bernsteinfarbenen Gebetskugeln um den Hals trug.
Hastig kauerte ich mich wieder hinter das Instrument. Die beiden Männer besprachen sich, dann umarmten sie sich und gingen auseinander. Als ich mich hervorwagte, war Josef schon durch das Südportal verschwunden.
Ich schlich zur großen Vierung, stellte mich hinter das Goldene Haus und hielt unter den Priestern Ausschau nach demjenigen, mit dem Josef gesprochen hatte. Aber keiner von ihnen trug bernsteinfarbene Kugeln um den Hals.
Plötzlich wurde ich auf einen merkwürdigen Schatten aufmerksam. Zuerst hielt ich die Gestalt in der schwarzen Kutte für einen Mönch, der sich ein wenig seltsam benahm. Er stand lange Zeit in einer unnatürlichen Haltung da, dann bewegte er sich fast unmerklich, so wie sich die Zeiger einer Uhr oder die Wolken an einem windstillen Tag bewegen, dann jedoch wieder schnell und ruckartig. Er wollte offensichtlich nicht, dass man ihn bemerkte, wusste aber nicht, wie man das am besten anstellte.
Das alles deutete auf einen Saar hin.
Ich versteckte mich und wartete, bis die Gestalt im nördlichen Längsschiff war. Jetzt konnte ich sie deutlich sehen. Ich erkannte das Profil und erschrak.
Es war der Ardmagar.
Ich folgte ihm in sicherer Entfernung durch die düstere Apsis. Der Fußboden war aus Marmor und so glatt poliert, dass er nass wirkte. Das Licht Hunderter kleiner Kerzen spiegelte sich in den vergoldeten Deckenbögen und verlieh der weihrauchgeschwängerten Luft einen besonderen Schimmer. Comonot bewegte sich jetzt unauffälliger. Er ging an dem grimmigen Sankt Vitt und dem verschlagenen Sankt Polypous vorbei, bis zu der Kapelle am äußersten Ende der Kathedrale, wo Sankt Gobnait, pausbäckig und milde, auf ihrem Thron saß, die heiligen Bienen in ihrem Schoß. Auf dem Kopf trug sie eine goldene Honigwabenkrone. Ihre Augen leuchteten in einem überirdischen Blau und die weißen Augäpfel standen in kräftigem Kontrast zu ihrem gebräunten Gesicht.
Comonot blieb stehen, nahm die Kapuze ab und drehte sich lächelnd zu mir um.
Das Lächeln verblüffte mich, zumal es von einem Drachen kam, aber es war im selben Moment verschwunden, in dem er erkannte, wen er vor sich hatte.
Er wandte sich ab und tat so, als betrachtete er den heiligen Bienenkorb, den die Mönche im Frühjahr als Behausung für die gesegneten Bienen nach draußen trugen.
»Was willst du?«, fragte Comonot zu Sankt Gobnait gewandt.
Ich starrte auf seine ölgestriegelten Haare. »Ihr solltet nicht alleine und auf eigene Faust hierherkommen.«
»Ich bin ungehindert durch die ganze Stadt gelaufen, ohne dass irgendetwas passiert ist.« Er machte eine schwungvolle Geste, woraufhin mir ein aufdringlicher Parfümduft entgegenschlug. »Keiner dreht sich nach einem Mönch um, welch eine brillante Tarnung.«
Nach einem parfümierten Mönch wohl doch; aber es war sinnlos, über diesen Punkt zu debattieren. »Ich muss Euch etwas mitteilen«, sagte ich ungerührt. »Es betrifft meinen Großvater.«
Er drehte mir stur den Rücken zu und tat so, als betrachte er den Bienenkorb. »Wir wissen alles über ihn. Wahrscheinlich beißt ihm Eskar gerade jetzt den Kopf ab.«
»Ich habe Erinnerungen von meiner Mutter –« Er schnaubte verärgert, aber ich fuhr unbeirrt fort. »Meine Mutter hat herausgefunden, dass nicht nur Imlann gegen den Friedensschluss ist. Es gibt eine Intrige. Eine Gruppe von Verschwörern wartet, bis Goredd schwach genug ist. Und was dann passiert, kann ich nur erahnen –«
»Ich bin sicher, du kannst keinen einzigen Namen nennen.«
»General Akara.«
»Wurde deswegen bereits vor vielen Jahren gefangen und einer Exzision unterzogen, nach der er in keiner Weise mehr derselbe war.«
Ich gab es auf, ihn überzeugen zu wollen. »Ihr habt unserer Königin nie etwas davon gesagt.«
»Meine Generäle halten mir die Treue«, knurrte er mich über die Schulter hinweg an. »Wenn du mir einreden willst, es gäbe irgendwelche Machenschaften, dann musst du dir schon etwas mehr Mühe geben.«
Ich wollte gerade den Mund aufmachen und ihm widersprechen, als sich von hinten ein Arm um meinen Hals legte und mir die Luft zum Sprechen nahm. Dann stach mir jemand in den Rücken.