Sieben
Da ich so spät zu Bett gegangen war und für mein morgendliches Programm so früh aufstehen musste, bekam ich nicht genügend Schlaf. Stoisch erledigte ich meine Pflichten, aber Viridius entging nicht, dass es mir schwerfiel. »Ich werde deine Federn anspitzen«, sagte er und nahm mir, ohne lange zu fragen, den Kiel aus der Hand. »Du legst dich auf mein Sofa und ruhst dich ein halbes Stündchen aus.«
»Meister, ich versichere Euch, dass ich –« Ein Gähnen, das einem Riesen alle Ehre gemacht hätte, ließ meine Widerrede wenig glaubhaft erscheinen.
»Natürlich bist du müde. Aber heute Abend, im Blauen Salon, musst du wieder ganz bei Kräften sein, und ich weiß nicht, ob du aufmerksam genug gewesen bist, um richtig niederzuschreiben, was ich dir gerade diktiert habe.« Er überflog das Pergamentblatt, auf das ich seine Kompositionsideen notiert hatte, während er sie vor sich hin summte. Seine Brauen zogen sich zusammen und er lief rot an. »Du hast es im Dreivierteltakt notiert! Das ist eine Gavotte. Die Tänzer werden über ihre eigenen Füße fallen.«
Ich wollte ihm antworten, aber da stand ich schon vor dem Sofa. Ich legte mich hin, und die Erklärung, die ich auf den Lippen hatte, geriet zu einem Traum, in welchem Sankt Polypous eine Gavotte im Dreivierteltakt mit vollendeter Leichtigkeit tanzte. Aber andererseits hatte er ja auch drei Füße.
An diesem Abend erschien ich frühzeitig im Blauen Salon in der Hoffnung, dass ich meine Aufwartungen machen, Viridius’ Wunderschüler kennenlernen und dann wieder gehen könnte, ehe die meisten der Leute überhaupt eingetroffen waren. Mein schöner Plan erwies sich als Fehlschlag, denn Viridius war noch gar nicht da. Natürlich nicht. Wahrscheinlich würde er erst spät kommen, der eitle Laffe. Ich würde keine Lorbeeren ernten, wenn ich mich davonstahl, ehe er eintraf. Alles was ich erreicht hatte, war, dass ich nun länger Gelegenheit bekam, mich unbehaglich zu fühlen.
Auf Gesellschaften war ich einfach fehl am Platz, und das ging mir schon so, als ich noch gar nicht wusste, wie viel ich zu verbergen hatte. Die unzähligen Menschen, die ich nur flüchtig kannte, bewirkten, dass ich mich in mich selbst zurückzog. Ich sah schon, wie ich den ganzen Abend in einer Zimmerecke stand und mich mit Buttergebäck vollstopfte.
Nicht einmal Glisselda war da, so unzeitig früh war ich erschienen. Diener zündeten die Kandelaber an, strichen die Tischtücher auf den Kredenztischchen glatt und warfen mir dabei verstohlene Blicke zu. Ich schlenderte durch den Salon, vorbei an den vergoldeten Säulen und den Polsterstühlen, auf denen man sittsam saß, bis zu der großen, mit Parkett ausgelegten Tanzfläche. In einer Ecke stapelten sich Notenständer und Stühle. Ich stellte sie für ein Quartett auf und hoffte, damit etwas Nützliches und nicht bloß etwas Verrücktes zu tun.
Fünf Musiker kamen – Guntard, zwei Geigen, zwei irische Dudelsäcke und eine Pauke –, und ich stellte rasch einen fünften Stuhl auf. Sie schienen erfreut zu sein, mich hier anzutreffen, und wirkten nicht sonderlich überrascht, die Musikmamsell zu sehen, wie sie Stühle und Notenständer arrangierte. Vielleicht konnte ich den Abend über bei ihnen in der Ecke stehen, die Noten umblättern und ihnen Bier bringen.
Besser gesagt Wein. Wir waren hier im Palast, nicht im Albernen Affen.
Nach und nach trudelten auch die Höflinge in all ihrem Glanz aus Seide und Brokatstoff ein. Ich hatte mein bestes Gewand angezogen, es war aus dunkelblauem glänzenden Calamanco und an den Säumen dezent bestickt, aber was in der Stadt elegant war, sah hier schäbig aus. Ich drückte mich gegen die Wand und hoffte, dass mich niemand ansprechen würde. Einige der Höflinge kannte ich, denn neben Guntard und den fest angestellten Musikanten versuchten sich auch immer wieder junge Herrschaften als Musiker bei Hof. Meistens sangen sie im Chor, aber der blonde Samsamese, der mir gegenübersaß, mühte sich auf der Viola da Gamba ab.
Er hieß Josef, Graf von Apsig. Als er meinen Blick bemerkte, fuhr er sich mit der Hand durch sein weizenblondes Haar, als wolle er mir vor Augen führen, wie gut aussehend er war. Ich blickte weg.
Die Samsamesen waren allgemein als anspruchslose Menschen bekannt, aber selbst sie übertrafen mich, was ihre Gewänder anging. Die Kaufleute von dort traf man in der Stadt nur in schlichtem Braun gekleidet an, die Höflinge hingegen trugen edles Schwarz und verbanden auf diese Weise Pracht und würdiges Aussehen. Für den Fall, dass die Goreddi ihre teure Kleidung nicht auf den ersten Blick als solche erkannten, trugen die Samsamesen üppige Spitze an den Ärmelsäumen und steife weiße Rüschenkrägen.
Die Höflinge aus Ninys hingegen schwelgten in Farben: sie trugen Stickereien, Bänder, bunte Kniestrümpfe, und zwischen den Ärmelschlitzen leuchtete kostbare Seide hervor. Ihr Land lag tief im trostlosen Süden; außer den Farben, die sie am Leibe trugen, sah man dort nur wenig Buntes.
Eine grellgrüne Spitzhaube zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Trägerin, eine ältere Frau aus Ninys, hatte dicke Brillengläser, was sie mürrisch und glotzäugig aussehen ließ. Die tiefen Falten um ihre Mundwinkel verliehen ihr noch dazu das Aussehen einer riesigen, missgünstigen Kröte.
Sie sah fast so aus wie die gute alte Madame Pingelig.
Nein, das war Madame Pingelig höchstpersönlich. Nur sie allein konnte so verdrießlich dreinblicken. Mein Herz machte einen Satz. Ich würde gar nicht nach Porphyrien reisen müssen, eine meiner Grotesken stand mir gegenüber, befand sich mit mir zusammen im selben Raum!
Madame Pingelig, die sehr klein war, verschwand hinter einer Gruppe von Hofdamen, tauchte aber nur wenige Augenblicke später wieder neben einem rothaarigen Höfling aus Ninys auf. Ich machte mich auf den Weg zu ihr, quer durch den Salon.
Aber ich kam nicht weit, denn in diesem Moment traten Arm in Arm Prinzessin Glisselda und Prinz Lucian ein. Die Wartenden wichen zur Seite, um sie durchzulassen, und ich wagte nicht, diese Gasse vor ihnen zu queren. Die Prinzessin erstrahlte in Gold und Weiß, ihr Kleid war aus Brokat und mit kleinen Zuchtperlen besetzt. Sie lächelte holdselig in die Runde und ließ sich von einem Höfling aus Ninys zu ihrem Platz führen. Prinz Lucian, im roten Wams der Königlichen Garde, beobachtete aufmerksam, wie die bewundernden Blicke aller seiner Cousine auf die andere Seite des Saals folgten.
Prinzessin Glisselda setzte sich auf das mitternachtsblaue Sofa, auf das sich niemand sonst zu setzen gewagt hatte, und begann, mit allen und jedem über dies und das zu plaudern. Lucian Kiggs setzte sich nicht, sondern blieb ein paar Schritte neben ihr stehen und ließ unermüdlich seine Blicke durch den Raum schweifen. Er schien immer im Dienst zu sein. Im Nebenzimmer erklang eine fröhliche Sarabande. Ich suchte weiter nach Madame Pingelig, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt.
»Manche bezweifeln, dass es ein Drache war. Ich nicht«, sagte jemand hinter mir in dem monotonen Tonfall der Samsamesen.
»Ach, wie entsetzlich!«, seufzte eine junge Frau.
Ich drehte mich um und sah mich Graf von Apsig gegenüber, der drei Hofdamen aus Goredd mit seinen Geschichten erfreute. »Ich habe an dieser letzten Jagd teilgenommen, Grausleine. Wir hatten gerade den Königlichen Wald betreten, als die Jagdhunde in alle Richtungen davonstoben, als wären da zwanzig Hirsche und nicht nur einer. Wir teilten uns auf, einige von uns gingen nach Norden, andere nach Westen, und jeder dachte, Prinz Rufus sei in einer anderen Gruppe, aber als wir uns wieder trafen, war er nicht da.
Wir suchten ihn bis zum Abend, dann riefen wir die Königliche Garde und suchten die ganze Nacht hindurch. Sein eigener Hund – ein hübsch gefleckter Stöberer namens Una – hat ihn schließlich gefunden. Er lag ohne Kopf und auf dem Bauch in einem nahe gelegenen Sumpf.«
Die drei Damen hielten den Atem an. Ich hatte mich jetzt vollends umgedreht und musterte das Gesicht des Grafen. Seine Augen waren blassblau, und er hatte keinen Makel, kein einziges Fältchen, anhand dessen man sein Alter schätzen konnte. Er wollte Eindruck bei den Damen schinden, das war offensichtlich, aber er schien trotzdem die Wahrheit zu sagen. Ich mischte mich ungern in ein Gespräch ein, wenn mich niemand dazu aufgefordert hatte, aber ich musste es einfach wissen.
»Seid Ihr sicher, dass ein Drache ihn getötet hat? Gab es dafür Beweise im Moor?«
Josef feuerte nun seinen ganzen Charme auf mich ab. Er streckte das Kinn vor und lächelte wie ein Heiliger in einer Dorfkirche, die Güte und Lauterkeit selbst. Die engelsgleichen Damen, die sich um ihn geschart hatten, starrten mich entrüstet an und raschelten mit ihren Seidengewändern.
»Wer sonst sollte ihn getötet haben, Musikmamsell?«
Ich verschränkte die Arme, sein Charme prallte an mir ab. »Straßenräuber, die seinen Kopf gestohlen haben, um Lösegeld zu verlangen, vielleicht.«
»Aber niemand hat Lösegeld gefordert.« Er zog eine Grimasse und seine holden Cherubim taten es ihm nach.
»Die Söhne Sankt Ogdos vielleicht, um die Furcht vor den Drachen zu schüren, bevor der Ardmagar kommt.«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte; seine Zähne waren blendend weiß. »Du hast noch eine weitere Möglichkeit außer Acht gelassen, Serafina. Vielleicht hat er ja eine hübsche Schäferin erblickt und deshalb seinen Kopf verloren.« Der Herr im Himmel belohnte die Bemerkung mit albernem Gekichere rundherum.
Ich wollte mich gerade wieder abwenden – der Graf wusste ganz offensichtlich nichts, was mir weiterhelfen könnte –, als hinter mir eine vertraute Baritonstimme sagte: »Maid Dombegh hat recht. Wahrscheinlich waren es Sankt Ogdos Söhne.«
Ich trat einen Schritt beiseite und machte Platz für Prinz Lucian.
Josefs Lächeln wurde schmal. Der Prinz war nicht auf die respektlose Anspielung gegenüber seinem Onkel Rufus eingegangen, aber er hatte sicherlich jedes Wort gehört. Der Graf verbeugte sich übertrieben höflich. »Ich bitte um Verzeihung, Prinz, aber warum schnappt Ihr Euch die Söhne Ogdos nicht und sperrt sie ein, wenn Ihr so sicher seid, dass sie es getan haben?«
»Ohne Beweis sperren wir niemanden ein«, antwortete der Prinz scheinbar unbewegt. Er tappte dreimal mit seiner linken Stiefelspitze auf. Ich bemerkte es und fragte mich, ob auch ich manchmal unwissentlich solche Dinge tat. Der Prinz fuhr betont gelassen fort: »Wenn wir sie ohne Grund einsperren würden, dann bekämen die Brüder noch mehr Zulauf und würden neue Anhänger hinter dem Ofen hervorlocken. Außerdem ist es von Grund auf falsch. Wer Gerechtigkeit fordert, muss auch selbst gerecht sein.«
Ich sah ihn an, ich hatte das Zitat erkannt. »Pontheus?«
»Eben dieser.« Prinz Lucian nickte mir anerkennend zu.
Josef verzog das Gesicht. »Bei allem Respekt, der Herrscher von Samsam würde sich bei seinen Entscheidungen nie von einem verrückten Philosophen aus Porphyrien leiten lassen. Ebensowenig würde er erlauben, dass Drachen Samsam einen Staatsbesuch abstatten – womit ich natürlich nichts gegen Eure Königin gesagt haben will.«
»Vielleicht war der Herrscher von Samsam deshalb auch nicht der Architekt des Friedens«, entgegnete der Prinz ruhig, aber mit dem Fuß wippend. »Anscheinend macht es ihm nichts aus, die Vorteile dieses von dem verrückten Porphyrer beeinflussten Vertrags zu genießen, wenn er selbst keinerlei Wagnis dabei eingehen muss. Er wird auch bei diesem Staatsempfang zugegen sein und mir noch ein wenig mehr Kopfzerbrechen bereiten – bei aller Liebe und bei allem schuldigen Respekt.«
Sosehr mich dieser mit höfischer Grandezza ausgetragene Streit auch in seinen Bann zog, plötzlich belegte Madame Pingelig wieder meine ganze Aufmerksamkeit mit Beschlag. Sie nahm gerade von einem Pagen ein Glas goldgelben Portweins entgegen. Ich konnte nicht zu ihr gelangen, ohne mich durch die Schar der Tänzer zu drängeln, und die hatten gerade mit einer Volta begonnen, überall wirbelten Arme und Beine durch die Luft. Also rührte ich mich nicht von der Stelle und versuchte, Madame Pingelig nicht aus den Augen zu verlieren.
Eine Trompetenfanfare setzte dem ausgelassenen Tanz ein plötzliches und wenig elegantes Ende. Die Kapelle hörte unvermittelt auf zu spielen, und so manches Paar rempelte andere auf der Tanzfläche an. Ich beachtete die entstandene Unruhe nicht, sondern konzentrierte mich auf Madame Pingelig. Deshalb stand ich mit einem Mal ganz allein in dem breiten Gang, den die Umstehenden eilig freigegeben hatten.
Prinz Lucian packte mich am Arm, an meinem rechten – und zog mich aus dem Weg.
In der Tür stand Königin Lavonda. Das Alter hatte ihr Gesicht gezeichnet, aber ihr Rücken war gerade. Es hieß, sie habe ein Rückgrat aus Stahl, und ihre Haltung schien davon Zeugnis abzulegen. Sie war immer noch in Weiß gekleidet aus Trauer um ihren Sohn, angefangen von den Seidenschuhen bis zum Schleier und der bestickten Haube. Ihre weiten, ausladenden Ärmel schleiften auf dem Boden.
Glisselda sprang von ihrem Sofa auf und machte einen tiefen Knicks. »Großmutter, du gibst uns die Ehre!«
»Ich werde nicht lange bleiben, Selda, ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier«, sagte die Königin. Ihre Stimme klang wie die ihrer Enkelin, nur älter und schärfer, gewohnt zu befehlen. »Ich habe euch noch ein paar zusätzliche Gäste mitgebracht«, sagte sie und geleitete vier Saarantrai herein. Unter ihnen war auch Eskar. Steif wie Soldaten standen sie da. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, festliche Kleider anzulegen, und ihre Glocken glänzten nicht hell genug, als dass man sie für Schmuck halten konnte. Eskar trug wieder ihre Hosen nach porphyrischer Sitte. Alle starrten sie an.
»Oh!«, quiekte Glisselda. Sie machte einen Knicks und versuchte, ihre Fassung zu wahren; als sie sich erhob, waren ihre Augen weit aufgerissen. »Wem verdanken wir diese, ähm …«
»Einem Friedensschluss, der vor beinahe vierzig Jahren unterzeichnet worden ist«, antwortete die Königin, die förmlich zu wachsen schien, als sie sich an den ganzen Saal wandte. »War es ein Irrtum von mir, anzunehmen, dass sich unsere beiden Völker aneinander gewöhnen würden, wenn die Kriege erst einmal aufgehört haben? Sind wir denn wie Öl und Wasser, dass wir uns gegenseitig nicht vertragen können? War es leichtfertig von mir, zu erwarten, dass Vernunft und Anstand herrschen, hätte ich lieber meine Ärmel hochkrempeln und sie erzwingen sollen?«
Die Menschen blickten verlegen drein und auch den Drachen war unbehaglich zumute.
»Glisselda, kümmere dich um unsere Gäste!«, rief die Königin herrisch, dann verließ sie den Salon.
Glisselda blieb sichtlich erschüttert zurück. Prinz Lucian, der neben mir stand, murmelte nervös: »Komm schon, Selda.« Sie konnte ihn unmöglich gehört haben, doch sie hob den Kopf und versuchte ebenso selbstbewusst aufzutreten wie ihre Großmutter. Sie ging auf Eskar zu und küsste sie auf beide Wangen. Die kleine Prinzessin musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. Eskar ließ es gnädig zu, neigte den Kopf und jedermann klatschte Beifall.
Die Abendgesellschaft vergnügte sich weiter, während die Saarantrai auf der einen Seite des Saals wie scheue Tiere beisammenstanden und ihre Glöckchen traurig bimmelten. Die umherschlendernden Gäste machten einen weiten Bogen um sie.
Ich hielt mich ebenfalls fern. Eskar kannte mich zwar, aber ich wollte nicht riskieren, dass die anderen mich rochen. Ich war mir nicht sicher, wie sie sich verhalten würden. Bestenfalls hielten sie mich für eine Gelehrte, die keine Glocke zu tragen brauchte, vielleicht wäre Eskar aber auch so taktlos, meine Herkunft lauthals zu verkünden, sodass alle im Raum es hörten.
Nein, das würde sie nicht tun. Orma hatte mir gesagt, dass eine Verbindung zwischen Mensch und Drache so sehr gegen jedes Ard verstößt, dass kein Drache auf die Idee käme, es könnte jemanden wie mich geben, geschweige denn, dass er so etwas laut ausspräche.
»Du traust dich nicht, sie zum Tanz aufzufordern«, sagte ein Edelmann hinter mir und riss mich aus meinem Gedanken. Einen Moment lang dachte ich, er meinte damit mich.
»Welche denn?«, dröhnte der unvermeidliche Graf von Apsig.
»Du hast die Wahl«, lachte sein Freund.
»Nein, ich meine, woher weiß man, wer eine Sie ist? Die sehen doch alle wie Kerle aus.«
Bei diesen Worten sträubten sich mir die Nackenhaare. Aber warum eigentlich? Sie sprachen ja nicht über mich – oder aber doch, irgendwie.
»Das Schwierige an diesen Lindwurmweibern«, sagte Josef, »sind ihre unvorteilhaften Beißer.«
»Beißer?«, fragte sein Freund, der anscheinend schwer von Begriff war.
Ich spürte, wie mein Gesicht zu glühen begann.
»Zähne«, wurde Josef deutlicher. »Und zwar an den falschen Stellen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Zähne an den falschen … Oh! Autsch!«
»Autsch ist noch gelinde ausgedrückt, mein Freund. Und die Männer sind um keinen Deut besser. Stell dir eine Harpune vor! Sie tun nichts lieber, als unsere Frauen aufzuspießen und ihnen –«
Ich hielt es nicht mehr aus, sondern flüchtete. Ich umrundete die Tanzfläche, bis ich endlich vor einem Fenster stand. Zittrig öffnete ich es, ich brauchte dringend frische Luft. Mit geschlossenen Augen dachte ich ganz fest an meinen abgeschiedenen Garten, bis meine Verwirrung wich und dem Kummer Platz machte.
Es war nur ein dummer Scherz unter zwei Edelleuten gewesen, aber in ihm schwangen all jene Scherze mit, die sie über mich machen würden, wenn sie Bescheid wüssten.
Der verflixte Viridius. Ich konnte keine Sekunde länger bleiben. Morgen würde ich ihm sagen, dass ich hier gewesen war, es gab ja Zeugen. Aber als hätten sich alle Schutzheiligen der Komödianten gegen mich verschworen, begegnete mir der alte Mann an der Tür, als ich gerade hinausgehen wollte. Mit seinem Krückstock schnitt er mir den Weg ab. »Du willst doch nicht etwa schon gehen, Serafina!«, rief er. »Es ist noch nicht einmal zehn.«
»Es tut mir leid, Sir, ich …« Meine Stimme stockte. Hilflos zeigte ich auf das Gedränge und hoffte, niemand würde meine Tränen sehen.
»Lars kommt auch nicht. Er ist genauso schüchtern wie du«, sagte Viridius auffallend milde. »Hast du der Prinzessin und dem Prinzen deine Aufwartung gemacht? Nein? Wenigstens das musst du tun.« Mit seiner bandagierten Hand fasste er mich am rechten Arm, mit der anderen stützte er sich auf seinen Stock.
Er führte mich zu dem blauen Polstersofa, auf dem Prinzessin Glisselda saß. Vor dieser Hintergrundfarbe strahlte sie wie ein Stern und die Höflinge umkreisten sie wie Planeten. Wir warteten, bis die Reihe an uns war, dann zog mich Viridius nach vorne. »Infanta«, sagte er und verbeugte sich. »Dieses bezaubernde junge Fräulein hat zwar viel zu tun – in meinem Auftrag –, aber ich habe sie mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, welch unentschuldbar schlechtes Benehmen es wäre zu gehen, ohne Euch die Aufwartung gemacht zu haben.«
Glisselda strahlte mich an. »Du bist gekommen! Millie und ich haben gewettet, ob du es jemals tun würdest. Jetzt schulde ich ihr einen freien Tag, aber ich freue mich darüber. Hast du schon Cousin Lucian begrüßt?«
Ich wollte ihr gerade versichern, dass ich ihn schon begrüßt hätte, da rief sie bereits den Prinzen zu sich. »Lucian! Du hast dich gefragt, woher ich plötzlich so interessante Einblicke in die Welt der Drachen gewonnen habe – nun, da ist sie, meine Beraterin in Drachenangelegenheiten!«
Der Prinz wirkte angespannt. Zuerst fürchtete ich, dass er beleidigt sein könnte und ich, ohne es zu wollen, unhöflich gewesen war, aber dann sah ich, wie er zu Eskar und ihrem kleinen Grüppchen hinüberblickte, die einsam in einer Ecke standen. Vielleicht war ihm nicht wohl dabei, wenn die Prinzessin so laut und in Hörweite echter Drachen, die sie vorgab, nicht zu sehen, über Drachenangelegenheiten sprach.
Prinzessin Glisselda schien sich über das betretene Schweigen zu wundern, so wie man sich über einen Geruch wundert, den man noch nie zuvor wahrgenommen hat. Ich sah Prinz Lucian an, aber er schaute wie gebannt in die andere Richtung. Sollte ich laut aussprechen, was er nicht zu sagen wagte?
Es war vor allem Angst, die alle Thomas Broadwicks dieser Welt hervorbrachte: die Angst, frei zu sprechen, die Angst vor den Drachen selbst. Letzteres traf auf mich nicht zu und mein Gewissen musste die Oberhand über Ersteres behalten.
Ich musste um Ormas willen sprechen.
Deshalb sagte ich: »Verzeiht mir meine Kühnheit, Hoheit.« Ich warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Saarantrai. »Es würde Eurem freundlichen Wesen entsprechen, diese Saarantrai einzuladen, neben Euch Platz zu nehmen, vielleicht sogar eine Runde mit einem von ihnen zu tanzen.«
Glisselda erstarrte. Sich in Gedanken mit Drachen zu beschäftigen war das eine, aber mit ihnen in der Wirklichkeit zu verkehren, war etwas völlig anderes. Sie warf ihrem Cousin einen ängstlichen Blick zu.
»Sie hat recht, Glisselda«, sagte er. »Der Hof wird unserem Beispiel folgen.«
»Ich weiß«, zierte sich die Prinzessin. »Aber was soll ich … wie soll ich denn … ich kann doch nicht einfach …«
»Du musst«, antwortete Prinz Lucian Kiggs entschieden. »In acht Tagen kommt Ardmagar Comonot, und was dann? Wir können doch Großmutter nicht beschämen.« Er zupfte die Ärmel an seinem Wams zurecht. »Ich werde zuerst gehen, wenn es dir dann leichter fällt.«
»Oh, ja, danke, Lucian, natürlich fällt es mir dann leichter«, sprudelte es erleichtert aus ihr heraus. »Er ist in diesen Dingen so viel gewandter als ich, Fina. Deshalb ist es auch gut, dass ich ihn heirate; er ist so praktisch veranlagt und hat so viel Menschenkenntnis. Schließlich ist er ja auch ein Bastard.«
Zuerst war ich entsetzt, dass sie ihren eigenen Verlobten so beiläufig einen Bastard nannte und es ihm scheinbar gar nichts ausmachte. Aber dann sah ich seine Augen. Es traf ihn sehr wohl, aber vielleicht dachte er, es stünde ihm nicht zu, etwas zu sagen. Ich wusste, wie sich das anfühlte, und erlaubte mir selbst eine Spur von Gefühl für ihn: Sympathie. Ja. Sympathie war es, was ich fühlte.
Er wahrte seine Würde, was schon bemerkenswert genug war. Aber als Soldat wusste er, wie man sich zu betragen hat. Er bewegte sich auf Eskar zu, wie man sich einem flammenspeienden, zischenden Untier aus der Hölle nähert: mit wachsamer Ruhe und unerschütterlichem Selbstvertrauen. Im ganzen Saal verstummte die Unterhaltung, als sich alle Augen überrascht dem Prinzen zuwandten. Ich ertappte mich dabei, wie ich den Atem anhielt, und ich war gewiss nicht die Einzige.
Er verbeugte sich elegant. »Madame Staatssekretärin«, sagte er, dass man es in der plötzlichen Stille im ganzen Salon hörte. »Würdet Ihr mit mir eine Galliarde tanzen?«
Eskar ließ ihren Blick über die Menge schweifen, als suchte sie nach dem Urheber dieses Streichs, doch dann sagte sie: »Ich denke, das sollte ich tun.« Sie nahm seinen Arm; ihr roter Kaftan aus Ziziba hob sich grell gegen sein scharlachrotes Wams ab. Alle atmeten erleichtert auf.
Ich blieb noch ein paar Minuten, um ihnen beim Tanzen zuzusehen, und schmunzelte in mich hinein. Er war möglich, dieser Frieden. Man musste ihn nur wollen. Im Stillen war ich Prinz Lucian für seine Entschiedenheit dankbar. Ich erhaschte Viridius’ Blick von der anderen Seite des Saales aus. Er schien mich verstanden zu haben und gab mir ein Zeichen, dass ich gehen dürfte. Ich wandte mich um, froh darüber, zu etwas Gutem beigetragen zu haben, vor allem jedoch, dass ich die Menge und ihr Geplapper hinter mir lassen konnte. Die Beklemmung – oder die Aussicht, sie loszuwerden – trieb mich Richtung Tür wie eine Luftblase, die an die Wasseroberfläche will. Draußen im Gang hoffte ich frei atmen zu können.
Ich legte eine solche Hast an den Tag, dass ich um ein Haar mit Lady Corongi, Glisseldas Erzieherin, zusammengestoßen wäre.