Vier

In den nächsten fünf Jahren war Orma mein Lehrer und mein einziger Freund. Für jemanden, der es tunlichst vermied, sich als mein Onkel zu bezeichnen, nahm er seine verwandtschaftlichen Pflichten überaus ernst. Er unterrichtete mich nicht nur in Musik, sondern auch in allem, was ich seiner Meinung nach über Drachen wissen müsste: ihre Geschichte, ihre Philosophie, Physiologie und höhere Mathematik, was für sie fast wie eine Religion war. Und er beantwortete jede noch so dreiste Frage. Ja, unter gewissen Voraussetzungen können Drachen auch Farben riechen. Ja, es war entsetzlich, sich in einen Saarantras zu verwandeln, unmittelbar nachdem man einen Auerochsen verspeist hatte. Nein, er wusste auch nicht genau, woher meine Visionen kamen, aber womöglich habe er eine Idee, wie man mir helfen könne.

Für Drachen war das Menschsein verwirrend, oftmals gar überwältigend. Deshalb hatten sie im Lauf der Jahre Strategien entwickelt, um »in Ard« zu bleiben, während sie in menschlicher Gestalt waren. Ard war eine der wichtigsten Wertvorstellungen der Philosophie der Drachen. Es bedeutete so viel wie Ordnung. Ihre Kampftruppen, die sogenannten Ards, waren danach benannt. Aber das Wort hatte noch einen viel tieferen Sinn. Ard war der Zustand, in dem sich die Welt eigentlich befinden sollte, es war der Sieg über das Chaos, es war moralisches Gebot und Garant körperlicher Unversehrtheit.

Menschliche Gefühle, wirr und unvorhersehbar wie sie waren, ließen sich mit Ard nicht vereinbaren. Mithilfe von Meditation und einer Technik, die Orma Gedankenarchitektur nannte, teilten Drachen ihren Geist in Gebiete auf. In einer Abteilung zum Beispiel legten sie die Erinnerungen ab, die ihre Mütter ihnen mitgegeben hatten, weil sie verstörend tief und heftig waren. Das konnte ich nachvollziehen, denn allein schon jene eine Erinnerung meiner Mutter war überwältigend gewesen. Gefühle, die für einen Saar unbequem und verstörend waren, schloss er weg und ließ sie nie wieder nach draußen dringen.

Visionen, wie ich sie hatte, waren Orma allerdings unbekannt, und er wusste auch nicht, was sie hervorrief. Dennoch war er davon überzeugt, dass eine Gedankenarchitektur verhindern würde, dass mich meine Visionen so unvermittelt außer Gefecht setzten. Wir versuchten, seinen mütterlichen Erinnerungsraum für meine Bedürfnisse abzuwandeln, und sperrten meine Visionen ein, genauer gesagt verbargen wir ein imaginäres Buch, das die Erinnerungen enthielt, in einer Truhe, in einem Grab und zuletzt in einer Grotte tief unter dem Meeresspiegel. Es klappte auch mehrere Tage lang, bis ich plötzlich auf meinem Heimweg vom Sankt-Ida-Konservatorium, wo er mich unterrichtete, zusammenbrach und wir von Neuem beginnen mussten.

In meinen Visionen sah ich immer wieder die gleichen Leute; sie waren mir so vertraut geworden, dass ich ihnen schon Namen gegeben hatte. Es waren insgesamt siebzehn – eine Primzahl natürlich, für die sich Orma ganz besonders interessierte. Zuletzt machte er den Vorschlag, die Wesen einzufangen, statt die Visionen zu verdrängen. »Versuche dir eine menschliche Entsprechung, eine Art Stellvertreter, vorzustellen und ihm einen Ort zu geben, an dem er bleiben möchte«, sagte er. »Dieser Junge, den du Fledermausjunge nennst, klettert immer auf Bäume, also pflanze in deiner Vorstellung einen Baum. Vielleicht klettert der Stellvertreter hinauf und bleibt dort. Wenn es dir gelingt, eine Verbindung zu diesen Wesen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, werden sie aufhören, deine Aufmerksamkeit zu den unpassendsten Gelegenheiten einzufordern.«

Ausgehend von dieser Idee hatte ich eine Fantasielandschaft angelegt. Jeder Stellvertreter bekam seinen Platz in meinem sogenannten Garten der Grotesken. Ich kümmerte mich jeden Abend um sie, denn nur so vermied ich Kopfschmerzen und Visionen. Solange ich dafür sorgte, dass diese einzigartigen Gartenbewohner still und zufrieden waren, hatte auch ich meine Ruhe. Weder Orma noch ich verstanden genau, warum das so war. Orma behauptete, dies sei das ungewöhnlichste Gedankengebäude, von dem er je gehört hatte. Er bedauerte, dass er keine Abhandlung darüber schreiben konnte, aber so wie meine Existenz selbst musste es ein Geheimnis bleiben, sogar den anderen Drachen gegenüber.

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Seit vier Jahren hatte mich keine unerwünschte Vision mehr heimgesucht, trotzdem durfte ich in meiner Wachsamkeit nicht nachlassen. Meine Kopfschmerzen nach dem Begräbnis des Prinzen deuteten darauf hin, dass die Wesen in meinem Garten in Aufruhr waren. In einer solchen Situation bestand die Gefahr, dass mich wieder eine Vision überkam. Nachdem Orma mich allein auf der Brücke zurückgelassen hatte, eilte ich so schnell ich konnte nach Schloss Orison und malte mir im Geist bereits aus, wie ich mich in der kommenden Stunde meiner »geistigen Hygiene«, wie Orma es nannte, widmete und meinen Kopf wieder in Ard brachte.

Meine Unterkunft im Palast bestand aus zwei Zimmern. Das erste war eine Wohnstube. Hier übte ich. Das Spinett, das Orma mir geschenkt hatte, stand an der Wand, daneben befand sich ein Regal mit meinen Büchern, meinen Flöten und meiner Laute. Ich schleppte mich müde in das zweite Zimmer, in dem ein Schrank, ein Tisch und ein Bett standen. Die Möbel hatte ich vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen, aber sie waren mir schon so vertraut, dass ich mich hier zu Hause fühlte. Palastdiener hatten bereits das Bett zurechtgemacht und ein Feuer im Ofen entzündet.

Ich zog mich aus bis auf mein Leinenhemd; ich musste meine Schuppen waschen und ölen, auch wenn jeder Zoll von mir nach dem weichen Bett verlangte. Und um den Garten in meinem Kopf musste ich mich ja auch noch kümmern.

Ich nahm das Kissen von meinem Bett, setzte mich in den Schneidersitz, so wie Orma es mir beigebracht hatte, und schloss die Augen. Die Schmerzen waren inzwischen so stark, dass ich Mühe hatte, meine Atemzüge zu verlangsamen. Ich sagte immer wieder Alles in Ard wie ein Mantra vor mich hin, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich meinen blühenden, farbenfrohen Garten der Grotesken vor mir sah, der sich bis an den Horizont meiner Gedanken erstreckte.

Einen Augenblick lang war ich verwirrt und musste mich erst wieder zurechtfinden; jedes Mal wenn ich den Garten besuchte, hatte sich etwas verändert. Vor mir lag die Umgrenzungsmauer aus uralten schmalen Backsteinen. Aus jeder Spalte wuchsen Farne wie grüne Haarbüschel. Dahinter sah ich den Brunnen der Dame ohne Gesicht, die Bank aus Mohnblumen und eine Wiese mit riesigen, verwilderten Schnitthecken. Ormas Rat folgend, blieb ich immer zuerst mit den Händen an der Eingangspforte stehen – diesmal war sie aus Schmiedeeisen – und sagte: »Dies ist der Garten meiner Gedanken. Ich pflege ihn, ich beherrsche ihn. Ich brauche mich vor nichts zu fürchten.«

Pelikanmann lauerte zwischen den Hecken, seine großen Kinnlappen verschwanden zum Glück im Kragen seiner Tunika. Wenn ich als Erstes auf einen Missgestalteten traf, war es besonders schwer, aber ich zwang mich zu lächeln und betrat den Rasen. Überrascht spürte ich kalten Tau zwischen meinen Zehen, ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich barfuß war. Pelikanmann nahm keine Notiz von mir, sondern blickte unverwandt in den Himmel, der in diesem Teil des Gartens immer sternenübersät war.

»Geht’s Euch gut, Meister P?« Pelikanmann rollte unheilvoll die Augen, ein Zeichen, dass er erzürnt war. Ich wollte ihn am Ellbogen fassen – ich vermied es, meine Grotesken an der Hand zu berühren –, aber er wich vor mir zurück. »Ja, es war ein anstrengender Tag«, sagte ich freundlich. Behutsam umkreiste ich ihn und drängte ihn so wieder auf seine steinerne Bank zurück. Die Mulde darin war mit Erde gefüllt, in der Oregano wuchs. Wenn man sich auf die Bank setzte, wurde man von seinem feinen Duft umfangen. Pelikanmann empfand dies als sehr tröstlich. Er ging zur Bank und rollte sich zwischen den Kräutern zusammen.

Ich beobachtete Pelikanmann noch ein paar Minuten länger, um sicherzugehen, dass er sich wirklich beruhigt hatte. Mit seinem dunklen Teint wirkte er wie jemand aus Porphyrien; aber seine rote Kehle, die wie ein Sack war und sich bei jedem Atemzug dehnte und wieder zusammenfiel, sah nicht aus wie von dieser Welt. Weitaus verstörender als meine bildhaften Visionen war die Vorstellung, dass er oder andere, die noch missgestalteter waren als er, irgendwo auf der Welt lebten. Gewiss waren die porphyrischen Götter nicht so grausam und ließen es zu, dass jemand wie Pelikanmann tatsächlich existierte? Meine eigene Bürde war im Vergleich dazu leicht zu ertragen.

Er blieb ruhig. Das war fürs Erste geschafft und es war nicht einmal schwierig gewesen. Trotzdem waren meine Kopfschmerzen weiterhin unverhältnismäßig stark, aber vielleicht gab es noch andere Grotesken, die sich in heller Aufregung befanden.

Ich stand auf, um meinen Rundgang fortzusetzen, und stieß mit den nackten Füßen im Gras gegen etwas Kaltes, Ledriges. Ich bückte mich und entdeckte ein großes Stück Orangenschale und noch einige kleinere, die zwischen den hohen Buchsbäumen verstreut lagen.

Ich hatte den Garten für meine verschiedenen Grotesken mit dauerhaften Merkmalen ausgestattet – die Bäume für den Fledermausjungen, den Sternenhimmel für Pelikanmann –, und meine unergründlichsten Gedanken, der immerwährende Gedankenstrom, den Orma Unterbewusstsein nannte, tat alles Übrige. Neue Verschönerungen, seltene Pflanzen oder Statuen erschienen wie aus dem Nichts. Aber Abfall auf dem Rasen – da stimmte etwas nicht.

Ich warf die Schalen unter die Hecke und wischte meine Hände am Rock ab. Es gab in diesem Garten nur einen einzigen Orangenbaum. Erst wenn ich ihn dort nicht fand, würde ich anfangen mir Sorgen zu machen.

Bei einem etwas wackligen Zauntritt stieß ich auf Miserere, die dabei war, sich die Federn auszureißen. Ich brachte sie in ihr Nest zurück. Und Molch entdeckte ich wenig später unter den Apfelbäumen, wo er die Glockenblumen zerdrückte. Ich brachte ihn zu seiner Suhle und strich Schlamm auf seinen empfindlichen Kopf. Dann schaute ich nach, ob der Riegel an der Tür der Gartenlaube noch verschlossen war, und bahnte mir barfuß einen Weg durch ein Distelfeld, das völlig unerwartet vor mir auftauchte. In der Ferne sah ich die höheren Bäume im Hain des Fledermausjungen. Ich ging durch eine Heckenallee, wich immer wieder kurz vom Weg ab, lockte, beruhigte, bettete meine Schützlinge zur Ruhe und kümmerte mich um sie. Am Ende der Allee tat sich ein Abgrund auf. Die Schlucht des Lauten Lausers hatte den Ort gewechselt und schnitt mir den Weg zu den Dattelpalmen des Fledermausjungen ab.

Der Laute Lauser war der Pfeifer aus Samsam und einer meiner Lieblinge. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich die Bewohner des Gartens, die normal aussahen, den anderen vorzog. Dieser Stellvertreter war außergewöhnlich, weil er Lärm machte (daher auch sein Name), Sachen bastelte und manchmal auch das Gebiet, das ihm zugewiesen war, verließ. Das hatte mir anfangs heillose Schrecken eingejagt. Es gab noch eine andere Groteske, Jannoula, die gern umherwanderte, sodass mir nichts anderes übrig geblieben war, als sie in den kleinen Gartenpavillon zu sperren.

Die Visionen waren so, als würde ich mit einem magischen Fernglas in das Leben anderer schauen. Und Jannoula war irgendwie in der Lage gewesen, den Blick zu erwidern. Sie redete mit mir, horchte mich aus, schubste, bestahl und belog mich; sie schlürfte meine Ängste wie Nektar und roch meine Wünsche aus der Luft. Schließlich versuchte sie sogar, mir Vorschriften zu machen und meine Gedanken zu lenken. In meiner Angst vertraute ich mich Orma an, und er half mir, sie in die Gartenhütte zu sperren. Nur mit Mühe konnte ich sie überlisten, hineinzugehen. Es ist schwierig, jemanden zu täuschen, der weiß, was man denkt.

Was den Lauten Lauser anging, so war ständiger Bewegungsdrang einer seiner Wesenszüge. Aber anders als bei Jannoula hatte ich nie das Gefühl, dass ein samsamesischer Dudelsackpfeifer aus Fleisch und Blut mich beobachtete. Überall im Garten standen kleine Lauben und Pergolen, Geschenke seiner Königlichen Lautheit, und ich erfreute mich an ihrem Anblick.

»Lauter Lauser«, rief ich am Rande der Schlucht, »ich brauche eine Brücke!«

Ein rundlicher Kopf tauchte auf und zwei graue Augen sahen mich an, dann folgte ein riesenhafter Leib, ganz in Schwarz, der typischen Kleidung eines Samsamesen.

Der Herbeigerufene setzte sich an einen Klippenvorsprung, zog drei Fische und ein Damennachthemd aus seiner Tasche und fertigte daraus unter lautem Grölen eine Brücke, auf der ich die Schlucht überqueren konnte.

Im Garten war es wie in einem Traum, deshalb versuchte ich gar nicht erst, all diese Dinge zu verstehen.

»Wie geht es dir? Macht dir etwas zu schaffen?«, fragte ich und fuhr dem Lauser über sein widerspenstiges blondes Haar. Er grölte wieder und verschwand in seiner Schlucht. Das war nicht ungewöhnlich. Der Lauser war auch sonst gelassener als die anderen, vielleicht weil er sich immerzu beschäftigte.

Eilig ging ich zu dem Wäldchen, in dem der Fledermausjunge wohnte. Langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Flederchen war meine Lieblingsgroteske, und die einzigen Orangenbäume im ganzen Garten wuchsen in seinem Hain neben Feigen, Datteln, Limonen und anderen Früchten aus Porphyrien.

Als ich das Wäldchen betrat, suchte ich sofort das Geäst der Bäume ab, aber da war er nicht. Ich schaute auf den Boden. Dort hatte er vom Baum gefallene Früchte zu Pyramiden aufgetürmt, aber er selbst war nirgendwo zu sehen.

Noch nie zuvor hatte er seinen Hain verlassen, nicht ein einziges Mal. Lange stand ich da, starrte die Bäume an und versuchte, sein Verschwinden zu begreifen.

Und wartete darauf, dass mein angsterfülltes Herz sich beruhigte.

Wenn Flederchen frei durch den Garten streifte, dann würde dies auch die Orangenschalen auf dem Rasen erklären und nicht zuletzt meine starken Kopfschmerzen. Was, wenn ein kleiner Junge aus Porphyrien einen Weg gefunden hätte, mich zu beobachten wie Jannoula … Bei dem Gedanken überlief es mich eiskalt. Ausgeschlossen, es musste eine andere Erklärung dafür geben. Es bräche mir das Herz, wenn ich keine Verbindung mehr mit jemandem haben durfte, den ich so gern hatte.

Ich machte weiter, beruhigte die übrigen Bewohner des Gartens, aber ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache. Im Murmelnden Bach und auf den Drei Dünen fand ich weitere Orangenschalen.

Zu guter Letzt suchte ich noch den Rosengarten auf, der ebenso sorgfältig gepflegte wie unangefochtene Herrschaftsbereich von Madame Pingelig. Sie war eine kleine, dickliche alte Dame mit einer Spitzhaube und dicken Brillengläsern, betulich, aber nicht übermäßig grotesk. Ich kannte sie von meinen allerersten Visionen, damals hatte sie ein großes Aufhebens wegen eines Eintopfs gemacht und war so pingelig gewesen, dass ihr Name sich förmlich aufdrängte.

Ich sah sie nicht sofort, weshalb mir einen Augenblick lang fast die Luft wegblieb, aber dann entdeckte ich sie. Hinter einem besonders großen weißen Strauch auf Händen und Knien kauernd, jätete sie Unkraut, ehe es sich weiter ausbreiten konnte. Sie machte das sehr geschickt, wenn auch die Methode etwas ungewöhnlich war. Sie schien nicht sonderlich aufgeregt zu sein und schenkte mir keinerlei Beachtung.

Sehnsüchtig ließ ich den Blick über die Sonnenuhrwiese zum Ausgangstor schweifen; ich sehnte mich nach meinem Bett, ich sehnte mich danach, mich auszuruhen, aber noch wagte ich es nicht. Ich musste zuerst Flederchen finden.

Auf dem Zifferblatt der Sonnenuhr lag eine ganze Orangenschale, die in einem Zug abgeschält worden war.

Und da war auch der Junge, er saß auf der uralten Eibe neben der Gartenmauer und schien sich darüber zu freuen, dass ich ihn aufgespürt hatte; er winkte, sprang herunter und kam quer über die Sonnenuhrwiese zu mir gelaufen. Ich erschrak, als ich seine leuchtenden Augen und sein breites Lächeln sah; ich fürchtete mich vor dem, was es bedeuten könnte.

Er hielt mir ein Stück Orange hin. Gekrümmt wie eine Garnele lag es in seiner Hand.

Ich starrte die Hand mit dem Orangenstück an. Ich konnte absichtlich eine Vision heraufbeschwören, sobald ich die Hand eines Grotesken ergriff. Einmal hatte ich meine Grotesken nacheinander bei den Händen gefasst und dadurch die Kontrolle über die Visionen gewonnen, damit sie mich nicht länger beherrschten. Seither hatte ich es nie wieder getan. Es gehörte sich nicht, genauso wenig wie es sich gehörte, anderen Menschen nachzuspionieren.

Wollte mir Flederchen lediglich eine Orange anbieten oder wollte er, dass ich seine Hand ergreife? Letzteres ließ mich frösteln. Ich sagte: »Danke, mein kleiner Fledermausjunge, aber ich habe jetzt keinen Hunger. Komm, lass uns wieder zu deinen Bäumen zurückgehen.«

Er trottete hinter mir her wie ein Hündchen, vorbei an Pandowdys Sumpf, durch den Schmetterlingsgarten bis zu seinem heimatlichen Wäldchen. Ich war davon ausgegangen, dass er sich sofort auf einen Baum schwingen würde, aber er sah mich aus seinen schwarzen Augen an und streckte mir wieder das Stück Orange hin. »Du musst hierbleiben und darfst nicht herumstreunen«, ermahnte ich ihn. »Schlimm genug, dass der Laute Lauser das tut. Hast du verstanden?«

Seine Miene verriet nicht, ob er mich verstanden hatte; ungerührt aß er das Stück Orange und blickte ins Unbestimmte. Sanft strich ich über seine kringeligen Haare und wartete, bis er wieder auf seinen Baum zurückgekehrt war.

Dann überließ ich ihn sich selbst, kehrte zum Ausgangstor zurück, verneigte mich vor der Sonnenuhrwiese und sprach die immer gleichen Abschiedsworte: »Dies ist mein Garten, alles ist in Ard. Ich kümmere mich getreulich um ihn. Möge er auch mir Treue erweisen.«

Kaum eine Sekunde später war ich wieder in meinem Zimmer. Ich schlug die Augen auf und dehnte meine steifen Glieder. Dann goss ich mir Wasser aus einem Krug ein und warf das Kissen auf das Bett zurück. Meine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen; anscheinend hatte ich das Problem gelöst, auch wenn ich nicht genau wusste, um was genau es sich gehandelt hatte.

Orma hätte sicherlich eine Erklärung parat und ich beschloss, ihn am nächsten Tag danach zu fragen. Mit diesem tröstlichen Gedanken fanden meine Ängste und ich endlich Ruhe.

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Mein morgendliches Programm war ausgeklügelt und zeitraubend. Aus diesem Grund hatte mir Orma ein Chronometer der Quigutl geschenkt, das zu jeder vorab eingestellten Stunde ein schrilles Geräusch von sich gab, das einen zu gotteslästerlichen Flüchen verleiten konnte. Ich hatte es auf das oberste Bücherregal der Wohnstube gestellt, in einen Korb, der auch anderen Quig-Plunder enthielt, damit ich aufstehen, hingehen und den Korb durchwühlen musste, um das Ding auszuschalten.

Es war eine gute und sinnvolle Vorrichtung, vorausgesetzt, ich war nicht zu müde, um am Vorabend den Alarm einzustellen.

Ich erwachte in einem Anfall von Panik eine halbe Stunde vor der Chorprobe, die ich abhalten musste.

Ich schlüpfte aus den Ärmeln meines Unterhemds und ließ es an mir hinabgleiten, sodass es wie ein Rock um meine Hüften lag. Dann kippte ich mit der Kanne Wasser in eine Schüssel und schüttete noch Wasser aus dem Kessel hinzu, das die Nacht über auf dem Ofen gestanden hatte und lauwarm war. Ich rieb die Schuppen an Arm und Taille mit einem weichen Tuch ab. Durch die Schuppen hindurch verspürte ich weder Wärme noch Kälte, aber das Wasser, das von ihnen abperlte und meine Haut traf, war viel zu nass, um an einem Tag wie diesem angenehm zu sein.

Alle anderen wuschen sich einmal in der Woche, wenn überhaupt, aber von denen musste sich auch niemand vor Schuppenmilben oder Hornwühlern in Acht nehmen. Ich trocknete mich ab und ging zum Regal, um meinen Salbentiegel zu holen. Nur ganz spezielle, in Gänseschmalz gekochte Kräuter dämpften den Juckreiz meiner Schuppen; Orma hatte einen guten Lieferanten für die Salbe in Quighole ausfindig gemacht.

Für gewöhnlich übte ich mich im Lächeln, während ich meine Schuppen mit der Paste bestrich. Denn wenn ich bei dieser Prozedur lächeln konnte, würde ich es auch den ganzen Tag lang können. Aber heute hatte ich keine Zeit dazu.

Ich zog mein Unterhemd wieder hoch und band mit einer Schnur den linken Ärmel am Handgelenk zu, damit er nicht zurückrutschen konnte. Dann zog ich ein Kleid, ein Überkleid und einen Mantel an; ich trug immer mindestens drei Schichten übereinander, sogar im Sommer. Aus Ehrerbietung für Prinz Rufus legte ich eine weiße Schärpe um, kämmte mir rasch das Haar und verließ das Zimmer. Ich fühlte mich nicht im Geringsten gerüstet für den Tag.

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Als ich endlich eintraf, atemlos und mit meinem Frühstück in der Hand, lag Viridius ausgestreckt auf seinem Gichtbett und hatte mit dem Dirigieren bereits begonnen. Er zog die buschigen Augenbrauen hoch – die immer noch rötlich schimmerten, auch wenn sein Haarkranz schlohweiß war – und warf mir einen finsteren Blick zu. Die Bassstimmen kamen aus dem Takt und er schnauzte: »Glo-ri-a, ihr Schlafmützen! Warum bewegt ihr euren Mund nicht? Habe ich aufgehört, meine Hand zu bewegen? Nein, das habe ich nicht!«

»Tut mir leid, ich habe mich verspätet«, murmelte ich.

Viridius strafte mich mit Missachtung, bis der letzte Akkord verklungen war.

»Das war schon besser«, sagte er zum Chor gewandt, ehe er seinen unheilverkündenden Blick auf mich richtete. »Nun?«

Ich tat so, als bezöge er sich auf die gestrige Aufführung. »Das Begräbnis lief ohne Zwischenfälle ab, wie Ihr wahrscheinlich schon vernommen habt. Guntards Schalmei –«

»Ich hatte eine zusätzliche Stimmzunge«, mischte sich Guntard ein, der nicht nur ein Instrument spielte, sondern auch im Chor sang.

»Die du aber erst später in der Kneipe gefunden hast«, stichelte ein anderer.

Viridius brachte sie mit einem finsteren Blick zum Schweigen. »Der Chor aus Schwachköpfen möge sich aller Dummheiten enthalten! Maid Dombegh, ich erwarte eine Erklärung für dein Zuspätkommen. Ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung parat!«

Ich schluckte nervös und beschwor mich im Geiste: Vergiss nicht, dies ist genau die Anstellung, die du dir immer gewünscht hast! Seit ich zum ersten Mal seine Musikfantasien gehört hatte, verehrte ich Viridius, aber es fiel einem nicht leicht, den Komponisten der überirdischen Suite Infanta mit dem missmutigen alten Mann auf dem Sofa in Einklang zu bringen.

Die Chorsänger beobachteten das Schauspiel neugierig. Viele hatten sich auf meine Stelle beworben, und jedes Mal, wenn Viridius mich tadelte, freuten sie sich insgeheim, wie knapp sie diesem Schicksal entgangen waren.

Ich knickste steif. »Ich habe verschlafen. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Viridius schüttelte den Kopf so energisch, dass seine Bäckchen schwabbelten. »Muss ich euch Möchtegernkünstlern eigens eintrichtern, dass die Gastfreundschaft unserer Königin, nein, der Ruf unseres ganzen Landes von eurer Darbietung für Ardmagar Comonot abhängt?«

Manche Musiker lachten, aber Viridius erstickte jeden Frohsinn im Keim. »Ihr glaubt wohl, das sei lustig, ihr schwerhörigen Missgeburten? Musik ist etwas, was Drachen nicht so beherrschen wie wir. Aber sie würden es gern besser können; sie sind begeistert von Musik und werden nie müde, es zu versuchen. Sie mögen vielleicht technisch vollkommen spielen, aber immer fehlt etwas. Und wisst ihr auch, warum?«

Ich antwortete im Chor mit den anderen, obwohl ich es fast nicht über die Lippen brachte: »Drachen haben keine Seele!«

»Genau!«, antwortete Viridius und fuchtelte mit seiner gichtkrummen Faust in der Luft herum. »Dieses eine ist ihnen verwehrt, was uns so wunderbar und auf so himmlische Weise zufliegt, und es ist an uns, sie mit den Nasen darauf zu stoßen!«

Die Chorsänger riefen halbherzig »Hurra!«, dann trollten sie sich. Ich ließ sie gehen, Viridius würde noch mit mir sprechen wollen. Aber zuvor hatten noch sieben oder acht Sänger dringende Fragen an ihn. Sie scharten sich um sein Gichtlager und schmeichelten ihm, als wäre er der Pascha von Ziziba höchstpersönlich. Viridius nahm ihre Lobhudeleien so selbstverständlich entgegen wie sonst die Chorröcke seiner Sänger.

»Serafina!«, übertönte der Meister schließlich die anderen und wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. »Wie ich hörte, ist deine Anrufung mit viel Lob bedacht worden. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können. Diese höllische Krankheit macht ein Gefängnis aus meinem Körper.«

Ich befühlte den Bund meines linken Ärmels; ich verstand ihn besser, als er ahnte.

»Bring mal die Tinte, Mädchen«, befahl er. »Ich möchte einiges auf der Liste abhaken.«

Ich holte das Schreibzeug und die Aufgabenliste, die er mir gleich zu meinem Arbeitsantritt bei ihm diktiert hatte. Bis zur Ankunft Ardmagar Comonots, dem obersten Drachen-General, waren es nur noch neun Tage. Am ersten Abend sollten ein Willkommenskonzert und ein Ball stattfinden. Ein paar Tage später waren dann die Feiern am Vorabend des Friedensschlusses, die die ganze Nacht andauern würden. Ich war jetzt seit Wochen vollauf mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen, aber es blieb immer noch sehr viel zu tun.

Ich las die Liste laut vor, Punkt für Punkt. Er unterbrach mich, wann immer es ihm passte. Er rief: »Dieser Abschnitt ist erledigt! Streich ihn durch!«, dann »Warum hast du noch nicht mit dem Kellermeister gesprochen? Das ist doch die einfachste Sache der Welt. Bin ich vielleicht Hofkomponist geworden, weil ich alles vor mir hergeschoben habe? Wohl kaum!«

Dann kamen wir zu dem Punkt, den ich am meisten fürchtete: das Vorspielen. Viridius kniff seine wässrigen Augen zusammen und fragte: »Nun, wie steht’s damit, Maid Dombegh?«

Er wusste ganz genau, wie es damit stand; aber offensichtlich wollte er mich ins Schwitzen bringen.

Ich sagte mit fester Stimme: »Ich musste den meisten absagen, weil Prinz Rufus so unerwartet dahingeschieden ist – möge er mit allen Heiligen zu Tische sitzen. Ich habe einige Termine neu anberaumt für –«

»Das Vorspielen darf man niemals bis zur letzten Minute aufschieben«, bellte er. »Meinem Wunsche entsprechend hätten die Musiker schon vor einem Monat bestimmt werden sollen!«

»Mit Verlaub, Meister, vor einem Monat habe ich noch nicht einmal für Euch gearbeitet.«

»Denkst du, ich wüsste das nicht?« Sein Mund klappte auf und zu. Er starrte auf seine verbundenen Hände. »Verzeih mir«, sagte er schließlich mit belegter Stimme. »Es ist bitter, wenn man all das, was man früher einmal tun konnte, nun nicht mehr kann. Stirb, solange du noch jung bist, Serafina. Tertius hatte schon recht.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Deshalb sagte ich: »Es ist nicht so schlimm, wie es den Anschein hat. Eure Schüler werden alle an den Konzerten teilnehmen; das Programm ist bereits zur Hälfte fertig.«

Bei der Erwähnung seiner Schüler nickte er gedankenverloren; der Mann hatte mehr Schützlinge als manch anderer Freunde. Es war fast Zeit für den Unterricht bei Prinzessin Glisselda, deshalb verschloss ich das Tintenfass und wischte eilig meine Feder mit einem Lappen ab. Viridius fragte: »Wann hast du vor, den Meister des Megaharmoniums zu treffen?«

»Wen?«, fragte ich und legte die Feder in die Schachtel zu den anderen zurück.

Er verdrehte seine rot geränderten Augen. »Kannst du mir sagen, wieso ich dir überhaupt Nachrichten zukommen lasse, wenn du sie ohnehin nicht liest? Der Schöpfer des Megaharmoniums will mit dir sprechen.« Ich muss ihn wohl ziemlich verständnislos angestarrt haben, denn er sprach so laut und langsam weiter, als wäre ich begriffsstutzig. »Das riesige Instrument, das wir im südlichen Querschiff von Sankt Gobnait bauen. Das Me-ga-har-mo-ni-um.«

Jetzt fiel es mir wieder ein, ich hatte die Bauvorrichtungen in der Kathedrale gesehen, aber an eine Nachricht konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich musste sie übersehen haben. »Das ist ein Musikinstrument? Es sieht aus wie eine Maschine.«

»Es ist beides!«, rief er. Seine Augen leuchteten voller Begeisterung. »Und es ist beinahe fertig. Die Hälfte der Kosten habe ich selbst übernommen. Es ist eine passende Aufgabe für einen alten Mann, der im Begriff ist, sich aus diesem Leben zu verabschieden. Meine Hinterlassenschaft sozusagen. Es wird uns Klänge bescheren, wie sie die Welt noch nicht vernommen hat!«

Ich starrte ihn an, für einen Moment hatte ich hinter der Fassade des zornigen Greises einen begeisterungsfähigen jungen Mann erblickt.

»Du musst meinen anderen Schützling, Lars, unbedingt kennenlernen«, rief er herrisch, als wäre er seine Eminenz, der Bischof von Gichtbett, der gerade einen Lehrsatz von der Kanzel verkündete. »Er hat auch die Uhr auf dem Kathedralenvorplatz gebaut, die bis zur Ankunft Comonots rückwärts zählt, ein wahres Wunderkind. Ihr beide werdet euch prächtig verstehen. Er kommt zwar immer erst sehr spät am Abend bei mir vorbei, aber ich werde ihm sagen, dass er dich zu einer etwas angemesseneren Stunde treffen soll. Ich gebe dir heute Abend im Blauen Salon Bescheid.«

»Tut mir leid, nicht heute Abend.« Ich stand auf und nahm meine Cembalonoten von einem seiner vollgestopften Regale.

Prinzessin Glisselda gab fast jeden Abend einen Empfang im Blauen Salon. Ich besaß eine Dauereinladung, hatte jedoch noch nie daran teilgenommen, obwohl Viridius mir ständig damit in den Ohren lag. Den ganzen Tag lang wurde ich beobachtet, unermüdlich war ich auf der Hut, sodass ich abends völlig erschöpft war. Zudem konnte ich nicht bis spät in die Nacht wegbleiben, ich musste mich ja um meinen Garten kümmern. Aber über all das konnte ich mit Viridius nicht sprechen; ich hatte immer meine Schüchternheit vorgeschützt, trotzdem hörte er nicht auf, mich zu drängen.

Der alte Mann zog bedeutungsvoll die buschigen Augenbrauen hoch und kratzte sich an der Wange. »Wenn du dich so zurückziehst, wirst du es bei Hofe nicht weit bringen, Serafina.«

»Ich habe es genauso weit gebracht, wie ich wollte«, sagte ich und blätterte einen Stapel Pergamentblätter durch.

»Du wirst es dir noch mit Prinzessin Glisselda verscherzen, wenn du ihre Einladung ausschlägst.« Er blinzelte mich verärgert an und fügte hinzu: »Es ist nicht normal, so ungesellig zu sein, meinst du nicht auch?«

Mein Magen verkrampfte sich, aber ich war entschlossen, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich auf das Wort »normal« empfindlich reagierte, also zuckte ich nur mit den Schultern.

»Du wirst heute Abend kommen«, befahl der alte Mann.

»Ich habe heute Abend schon etwas vor«, sagte ich lächelnd. Das war einer der Gründe, weshalb ich das Lächeln übte.

»Dann eben morgen Abend!«, schrie er wütend. »Blauer Salon, neun Uhr! Du wirst da sein oder du bist gefeuert!«

Ich war mir nicht sicher, ob er es ernst meinte, dazu kannte ich ihn nicht gut genug. Zitternd holte ich Luft. Einmal dort kurz für eine halbe Stunde aufzukreuzen, würde mich nicht umbringen. »Vergebt mir, Sir«, sagte ich und senkte den Kopf. »Natürlich werde ich kommen. Ich wusste nicht, wie wichtig es Euch ist.«

Mein Lächeln wie einen Schutzschild vor mir hertragend knickste ich und verließ den Raum.

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Schon draußen auf dem Gang hörte ich sie kichern, Lady Glisselda und eine der vielen Hofdamen, die sie diesmal mitgeschleppt hatte. Ihrem hellen Lachen nach zu urteilen, waren die beiden in etwa gleichaltrig. Ich überlegte kurz, wie wohl ein Kicher-Konzert klingen mochte. Man bräuchte dazu einen Chor von –

»Ist sie sehr verschroben?«, fragte die Hofdame.

Ich erstarrte. Das bezog sich doch nicht etwa auf mich, oder?

»Benimm dich!«, rief die Prinzessin, ihr Lachen plätscherte wie ein kleiner Gebirgsquell. »Ich habe gesagt kratzbürstig, nicht verschroben!«

Ich spürte, wie mein Gesicht zu glühen begann. Kratzbürstig? War ich das wirklich?

»Aber sie hat ein gutes Herz«, setzte Prinzessin Glisselda hinzu, »und damit ist sie das genaue Gegenteil von Viridius. Fast könnte man sie hübsch nennen, leider ist ihr Geschmack, was Kleider angeht, entsetzlich schlecht, und ich verstehe nicht, was sie mit ihrem Haar anstellt.«

»Das könnte man doch leicht ändern«, erwiderte die Hofdame.

Ich hatte genug gehört. Entschlossen öffnete ich die Tür. Ich war pikiert, aber ich gab mir Mühe, ihre Vorurteile nicht noch zu bestätigen. Ihren dunklen Locken und ihrem warmen braunen Teint nach zu schließen, hatte die Hofdame porphyrisches Blut in den Adern. Verlegen schlug sie die Hand vor den Mund, besorgt, dass ich alles mit angehört hatte. Prinzessin Glisselda sagte: »Fina! Wir haben gerade über dich gesprochen!«

Prinzessinnen hatten das Vorrecht, sich ganz nach Belieben peinlich zu benehmen. Glisselda lächelte wunderbar unbekümmert. Das durch das Fenster hereinströmende Sonnenlicht umgab ihr blondes Haar mit einem Strahlenkranz. Ich machte einen Knicks und ging zum Cembalo.

Die Prinzessin erhob sich von ihrem Fenstersitz und schwebte hinter mir her. Sie war fünfzehn, also nur ein Jahr jünger als ich, weshalb ich mir als ihre Lehrerin auch ein wenig seltsam vorkam, und sie war zierlich für ihr Alter, weshalb ich mich wie eine tapsige Riesin fühlte. Sie liebte perlenbestickte Brokatstoffe und hatte mehr Selbstbewusstsein, als ich es mir je erträumen konnte.

»Fina«, zwitscherte sie, »darf ich dir Lady Miliphrene vorstellen. Sie ist, wie du, mit einem unnötig langen Namen geschlagen, deshalb rufe ich sie Millie.«

Ich begrüßte Millie mit einem Kopfnicken, enthielt mich aber jeden Kommentars zu einer so törichten Bemerkung von jemandem, der selbst den Namen Glisselda trug.

»Ich habe mich entschieden«, kündigte die Prinzessin an. »Ich werde beim Konzert zum Friedensfest auftreten und die Galliarde und die Pavane spielen. Nicht die Suite von Viridius, sondern die von Tertius.«

Ich war gerade im Begriff gewesen, die Noten auf das Pult zu legen, aber nun hielt ich inne, mit dem Buch in der Hand, und überlegte meine nächsten Worte sehr sorgfältig. »Die Arpeggios von Tertius waren bisher stets eine Herausforderung für Euch, wenn ich mich recht entsinne –«

»Willst du damit sagen, mein Spiel ist nicht gut genug?«, fragte Glisselda und hob herausfordernd das Kinn.

»Nein, ich möchte nur daran erinnern, dass Ihr selbst Tertius eine ›blöde giftige Kröte‹ genannt und seine Noten durchs ganze Zimmer geworfen habt.« Beide Mädchen prusteten los. So vorsichtig wie jemand, der eine wackelige Brücke betritt, fügte ich hinzu: »Wenn Ihr fleißig übt und meine Ratschläge für den Fingersatz beherzigt, dann solltet Ihr in der Lage sein, es hinreichend zu beherrschen –«

sodass Ihr Euch nicht blamiert, hätte ich hinzufügen können, aber das schien mir unklug zu sein.

»Ich will Viridius zeigen, dass ein schlecht gespielter Tertius immer noch besser ist als das gut gespielte Geklimpere von ihm«, sagte sie und drohte mir mit dem Finger. »Reicht meine Kunstfertigkeit aus, um meine kleinliche Rachsucht zu befriedigen?«

»Zweifellos«, antwortete ich prompt, nur um mich sofort zu fragen, ob ich nicht etwas vorschnell geantwortet hatte. Beide Mädchen lachten wieder, daher nahm ich an, dass meine Bemerkung sie nicht vor den Kopf gestoßen hatte.

Glisselda setzte sich auf die Klavierbank, dehnte ihre eleganten Finger und begann mit dem Tertius. Viridius hatte sie einmal laut und vor versammelter Hofgesellschaft als »so musikalisch wie ein verkochter Krautkopf« genannt. Tatsächlich war sie durchaus eifrig bei der Sache, wenn man sie mit Respekt behandelte. Wir hämmerten die Arpeggios mehr als eine Stunde lang herunter. Ihre Hände waren zierlich, einfach würde es nicht werden, aber sie beschwerte sich nie und gab auch nicht auf.

Das Knurren meines Magens beendete jäh die Unterrichtsstunde. Typisch, dass mein Körper sich nicht um Höflichkeit scherte!

»Deine arme Lehrerin braucht dringend etwas zu essen«, sagte Millie.

»War das dein Magen?«, fragte die Prinzessin fröhlich. »Ich hätte schwören können, hier im Zimmer ist ein Drache. Sankt Ogdo bewahre uns, damit sie uns nicht mit Haut und Haaren frisst.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und zögerte die Antwort hinaus, bis ich mich so weit im Griff hatte.

»Ich weiß, es ist so eine Art Nationalsport von uns Goreddis, sich über Drachen lustig zu machen, aber Ardmagar Comonot kommt bald, und ich glaube, er wäre über solche Reden nicht erfreut.«

Bei allen Hunden im Himmel, ich war tatsächlich kratzbürstig, selbst wenn ich versuchte es zu vermeiden. Glisselda hatte nicht übertrieben.

»Drachen sind über nichts erfreut«, erwiderte Glisselda mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Aber sie hat recht«, sagte Millie. »Unhöflich ist und bleibt unhöflich, selbst wenn es keine Absicht war.«

Glisselda verdrehte die Augen. »Du weißt, was Lady Corongi sagen würde. Wir müssen ihnen zeigen, wer die Überlegenen sind und wo ihr Platz ist. Herrschen oder beherrscht werden. Etwas anderes verstehen die Drachen nicht.«

Für mich hörte sich das nach einem gefährlichen Ratschlag an. Ich zögerte, unschlüssig, ob ich es wagen konnte, Lady Corongi zu widersprechen; sie war Glisseldas Erzieherin und stand in jeder Beziehung über mir.

»Weshalb, glaubst du, haben sie sich uns schließlich ergeben?«, fragte Glisselda. »Weil sie unsere Überlegenheit anerkennen mussten – militärisch, geistig, moralisch …«

»Hat das Lady Corongi gesagt?«, fragte ich entsetzt und war zugleich bemüht, es mir nicht anmerken zu lassen.

»Das sagen alle«, schnaubte Glisselda. »Das ist doch sonnenklar. Die Drachen beneiden uns, deshalb nehmen sie auch unsere Gestalt an, so oft sie können.«

Ich starrte sie ungläubig an. Puh, meine liebe Sankt Prue, Glisselda würde eines Tages Königin sein! Sie musste die wahre Natur dieser Dinge verstehen. »Wir haben sie nicht besiegt, was immer man Euch auch weisgemacht hat. Unsere Dracomachie sorgte dafür, dass wir ihnen nahezu ebenbürtig waren; ohne schwerste Verluste hätten sie nicht gegen uns gewinnen können. Es war ein Waffenstillstand, keine Kapitulation.«

Glisselda rümpfte die Nase. »Willst du damit sagen, wir haben sie gar nicht unterjocht?«

»Nein – zum Glück!« Ich stand auf und versuchte meine Erregung zu überspielen, indem ich die Noten auf dem Pult neu ordnete. »Das würden sie nicht dulden. Sie würden abwarten, bis unsere Wachsamkeit nachlässt.«

Glisselda machte den Eindruck, als verstünde sie gar nichts mehr. »Aber wenn wir schwächer sind als sie …«

Ich lehnte mich an das Cembalo. »Es geht nicht um Stärke oder Schwäche, Prinzessin. Was meint Ihr, warum haben wir so lange gegeneinander gekämpft?«

Glisselda legte die Hände zusammen wie ein frommer Prediger. »Drachen hassen uns, weil wir gerecht sind und weil uns die Heiligen lieben. Das Böse will immer das Gute vernichten, weil es sich dem Bösen entgegenstellt.«

»Nein!« Fast hätte ich den Deckel des Cembalos zugeknallt, ich konnte mich gerade noch rechtzeitig beherrschen. Stattdessen tippte ich zweimal leicht auf das Instrument. Die Mädchen starrten mich trotzdem aus großen Augen an, mein seltsames Benehmen machte sie misstrauisch. Um sie zu beschwichtigen, sagte ich in freundlicherem Ton: »Die Drachen wollen dieses Land wieder für sich haben. Goredd, Ninys und Samsam waren einst ihre Jagdreviere. Hier gab es großes Wild – Elche, Auerochsen und anderes –, Herden, die sich bis zum Horizont erstreckten. Bis wir kamen und das Land urbar machten.«

»Das ist schon sehr lange her, inzwischen dürfte das doch keine Rolle mehr spielen«, bemerkte Glisselda scharfsinnig. Sich von ihrem engelhaften Gesicht täuschen zu lassen, wäre töricht gewesen. Sie hatte einen brillanten Verstand, das verriet allein schon ihr Blick, der mich an ihren Cousin Lucian erinnerte.

»Unsere Leute sind vor zweitausend Jahren hierher gezogen«, sagte ich. »Das entspricht etwa zehn Drachengenerationen. Schon seit tausend Jahren gibt es keine Herden mehr, aber die Drachen schmerzt dieser Verlust immer noch. Sie müssen mit den Bergen vorliebnehmen und dort gehen sie langsam aber sicher zu Grunde.«

»Können sie nicht im Norden jagen?«, fragte die Prinzessin.

»Das können sie und das tun sie auch, aber das Vereinte Südland ist dreimal größer als das Nordland. Zudem ist es auch dort nicht menschenleer. Die Herden werden immer kleiner und die Drachen müssen mit wilden Völkern um ihre Beute kämpfen.«

»Können sie nicht einfach die Wilden fressen?«, fragte Glisselda.

Ihr hochmütiger Ton missfiel mir, aber das durfte ich nicht zeigen. Stattdessen zeichnete ich die Schmuckintarsien auf dem Instrumentendeckel mit dem Finger nach und ließ meinen Ärger in die Schnörkel fließen. Dann sagte ich: »Wir Menschen sind nicht sonderlich genießbar – zu zäh –, und es macht auch keinen Spaß, uns zu jagen, denn wir rotten uns zusammen und wehren uns. Mein Lehrer hat einmal mit angehört, wie ein Drache uns mit Kakerlaken verglichen hat.«

Millie rümpfte die Nase, aber Glisselda blickte mich fragend an. Offenbar hatte sie noch nie eine Kakerlake gesehen. Ich überließ es Millie, ihr die Erklärung zu liefern. Bei ihrer Schilderung kreischte die Prinzessin laut auf, dann fragte sie: »Und in welcher Hinsicht gleichen wir diesem Ungeziefer?«

»Aus der Sicht der Drachen sind wir überall, so wie Kakerlaken. Wir können uns leicht verstecken, wir vermehren uns vergleichsweise schnell, wir stören sie beim Jagen und wir riechen schlecht.«

Die beiden Mädchen verzogen das Gesicht. »Tun wir nicht!«, protestierte Millie.

»Für einen Drachen schon.« Der Vergleich kam mir passend vor, deshalb spann ich die Geschichte weiter. »Stellt Euch vor, Ihr werdet scharenweise von Ungeziefer befallen. Was macht Ihr da?«

»Wir töten es«, riefen beide Mädchen wie aus einem Mund.

»Aber was, wenn das Ungeziefer schlau ist und sich zusammenrottet und eine eigene Art Taktik entwickelt, die wirksam ist? Was, wenn sie eine echte Chance hätten, diesen Kampf zu gewinnen?«

Glisselda schauderte es bei dem Gedanken, aber Millie sagte sofort: »Ich würde einen Waffenstillstand mit ihnen schließen. Ihnen bestimmte Orte überlassen, damit sie uns in unseren Häusern in Ruhe lassen.«

»Aber wir würden nur so tun als ob«, erklärte die Prinzessin resolut und trommelte mit den Fingern auf dem Cembalo. »Wir würden vorgeben, mit ihnen Frieden schließen zu wollen, und wenn sie sich dann in Sicherheit wähnen, würden wir ihre Häuser niederbrennen.«

Ich lachte überrascht. »Das soll mir eine Warnung sein, Prinzessin, mir niemals Eure Feindschaft zuzuziehen. Aber wenn die Kakerlaken uns nicht überlegen wären, dann würden wir uns nicht fügen? Dann würden wir sie überlisten?«

»Selbstverständlich.«

»Nun gut. Gibt es irgendetwas – was immer es auch sei –, womit die Kakerlaken uns überzeugen könnten, sie am Leben zu lassen?«

Die Mädchen sahen einander zweifelnd an. »Kakerlaken können nur grässlich herumkrabbeln und das Essen verderben«, sagte Millie und schlang die Arme fest um sich. Allem Anschein nach wusste sie genau, wovon sie sprach.

Glisselda hingegen dachte angestrengt nach, die Zungenspitze zwischen die Lippen geklemmt. »Was wäre, wenn sie Hof hielten oder Kathedralen bauten oder Gedichte schrieben?«

»Würdet Ihr sie dann am Leben lassen?«

»Vielleicht. Wie hässlich sind sie denn wirklich?«

Ich grinste. »Zu spät. Ihr habt bemerkt, dass sie interessant sind. Ihr versteht, was sie sagen. Was wäre, wenn Ihr für kurze Zeit eine von ihnen werden könntet?«

Die beiden Mädchen bogen sich vor Lachen.

Ich spürte, dass sie verstanden hatten, was ich meinte, fügte jedoch etwas ernster hinzu: »Unser Überleben hängt nicht davon ab, dass wir überlegen sind, sondern dass wir interessant genug sind.«

»Sag mir«, fragte Glisselda und lieh sich ein gesticktes Taschentuch von Millie aus, »woher weiß eine einfache Musikmamsell so viel über Drachen?«

Ich hielt ihrem Blick stand, aber ich musste gegen das Zittern in meiner Stimme ankämpfen. »Mein Vater ist der Rechtsberater der Krone in allen Fragen des Friedensvertrags mit Comonot. Er hat ihn mir als Gutenachtgeschichte vorgelesen.«

Das war zwar keine plausible Erklärung für meine Kenntnisse, aber die beiden Mädchen fanden den Gedanken so lustig, dass sie nicht weiter fragten. Ich lächelte mit ihnen, aber verpürte zugleich Mitleid mit meinem armen, traurigen Vater. Er war so verzweifelt auf der Suche nach einer Gesetzeslücke für sein Vergehen, unwissentlich eine Saarantras geheiratet zu haben.

Wie das Sprichwort so schön sagt, steckte er bis zum Hals in Sankt Vitts Spucke. Nein, nicht nur er, wir alle beide. Ich knickste und verabschiedete mich eilig, ehe die Mädchen etwas von dieser himmlischen Spucke bemerkten. Für mein eigenes Wohlergehen musste ich sehr genau abwägen, was wichtiger war – interessant oder unsichtbar zu sein.

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