Achtzehn

Bald danach verließ ich den Ball und zog mich in die Geborgenheit meiner eigenen Räume zurück. Ich musste mich um meinen Garten kümmern und etwas schlafen, wenn ich so früh aufstehen wollte. Zwei wirklich gute Gründe also, um zu gehen.

Aber es waren nicht meine Gründe. Weder besuchte ich die Grotesken, noch ging ich schlafen.

Meine Glieder zuckten, so rastlos war ich. Ich zog mich aus, legte Gewand und Überkleid mit peinlichster Sorgfalt zusammen und glättete sie, indem ich mit der Faust darüberfuhr, so als wäre ohne einen ordentlichen Faltenwurf meine Seelenruhe dahin. Meistens ließ ich mein Unterhemd an – ich hasste es, mich nackt zu sehen –, aber jetzt zog ich es aus, faltete es zusammen, faltete es noch einmal, warf es schwungvoll über die spanische Wand, hob es auf, warf es wieder.

Ich lief auf und ab und rieb die Schuppen an meiner Taille. Wenn man auf die eine Seite strich, waren sie glatt wie Spiegelglas, auf der anderen scharf wie tausend Zähne. Das also war ich. Das. Und das. Ich zwang mich, die halbmondförmigen Schuppen anzuschauen, die scheußliche Linie, wo sie aus meinem Körper wuchsen.

Ich war abscheulich. Und es gab Dinge auf dieser Welt, die mir auf ewig verwehrt waren.

Ich stieg in mein Bett, rollte mich zusammen und weinte. Als ich die Augen ganz fest zudrückte, sah ich hinter meinen geschlossenen Lidern Sterne. Ich ging nicht in meinen Garten, ich ging überhaupt nirgendwohin. Plötzlich öffnete sich im verschwommenen Nebel meiner Gedanken eine Tür. Es machte mir Angst, dass es einfach so geschah, ohne dass ich es wollte, aber es riss mich auch aus meinem Selbstmitleid.

Ich machte die Tür auf. Und hielt den Atem an.

Flederchen lugte um die Ecke. Ich stöhnte auf. Er hatte sich seit meiner Strafpredigt so gut benommen, dass ich gar nicht mehr an die früheren Scherereien gedacht hatte. Dass ich ihn nun außerhalb des Gartens wiedersah, beunruhigte mich. Ich dachte sofort an Jannoula, die viel zu neugierig und vorwitzig gewesen war und in meinem Kopf am liebsten das Kommando übernommen hätte.

Flederchens Miene hellte sich auf, als er mich erblickte. Er schien sich nicht für meine Gedanken zu interessieren, er hatte einfach nur mich gesucht. Zu meinem Entsetzen war ich auch in meinen Gedanken nackt. Ich änderte das sofort, indem ich mich bekleidet dachte.

»Nun hast du mich gefunden«, sagte ich und strich mein imaginäres Kleid glatt, um mich zu vergewissern, dass ich es anhatte. »Ich weiß, ich bin heute Abend nicht im Garten gewesen. Ich … ich habe es nicht über mich gebracht. Ich bin es leid, mich darum zu kümmern. Ich bin es leid, so zu sein, wie ich bin.«

Er hielt mir seine sehnige braune Hand hin.

Ich dachte kurz über sein Angebot nach, konnte mich jedoch nicht dazu durchringen, eine Vision heraufzubeschwören. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Alles ist jetzt so schwer für mich und …« Weiter schaffte ich es nicht.

Ich würde ihn aussperren müssen. Aber ich wusste nicht, wie ich die Kraft dazu aufbringen sollte.

Er umarmte mich. Er war klein, reichte mir nicht einmal bis zur Schulter. Ich drückte ihn, schmiegte meine Wange an sein weiches dunkles Haar und weinte. Dann, ich weiß selbst nicht wie, schlief ich ein.

59469.jpg

Für jemanden, der kaum mehr als vier Stunden geschlafen hatte, war Kiggs entsetzlich gut gelaunt. Ich hatte mir für mein morgendliches Programm Zeit gelassen, in der Annahme, wir würden es langsam angehen lassen. Aber er war schon vor mir beim Studierzimmer der Königin, schlicht und schmucklos gekleidet wie ein Bauer. Aus der Nähe betrachtet würde ihn allerdings niemand für einen solchen halten, der Schnitt seiner Joppe war zu elegant, die Wolle zu flauschig, sein Lächeln zu strahlend.

Neben ihm stand ein Riese. Lars. »Er hat gestern Abend, nachdem du dich zurückgezogen hattest, nach dir gefragt«, erklärte Kiggs, als ich vor ihnen stand. »Ich habe ihm gesagt, dass er dich heute Morgen hier treffen könnte.«

Lars griff in seine schwarze Jacke und zog ein großes, gefaltetes Pergament hervor. »Ik habe es in der vergangenen Nacht erfunden, es ist für dik, Maid Dombegh, denn ik weiß keinen anderen Weg, um … um dir zu danken.« Mit einer angedeuteten Verbeugung reichte er mir das Blatt und eilte dann, erstaunlich schnell für einen Mann seiner Größe, den Gang entlang.

»Was ist das?«, fragte Kiggs.

Das Pergament flatterte, als ich es auseinanderfaltete. Es sah aus wie eine Konstruktionszeichnung für eine Maschine, obwohl ich nicht einmal wusste, wo oben oder unten war.

Kiggs erwies sich als der Schlauere von uns beiden. »Vielleicht eine Ballista?«, sagte er.

Er hatte sich über meine Schulter gebeugt, um den Plan zu studieren. Sein Atem roch nach Anis.

Ich fragte: »Was ist eine Ballista?«

»Eine Art Wurfmaschine, die Speere schleudert. Aber diese hier schleudert … was ist das?«

Es ähnelte einer Harpune; daran befestigt war ein Gefäß, das etwas Unbestimmbares enthielt. »Ich glaube, ich will es gar nicht wissen«, sagte ich. Es sah aus wie eine riesige Klistierspritze, mit der man Drachen einen Einlauf verabreichen konnte, aber das vor einem Prinzen von Geblüt, egal ob Bastard oder nicht, laut zu sagen, traute ich mich nicht.

»Stecke es hier hinein«, sagte er und reichte mir eine Satteltasche, in der sich wohl unser Proviant befand. »Hast du dich warm genug angezogen für den Ritt?«

Ich hoffte es. Ich war ein Stadtkind und noch nie auf einem Pferd gesessen, trotzdem hatte ich vorsichtshalber porphyrische Hosen angezogen und darüber trug ich wie üblich mehrere Schichten Kleidung.

Ormas Ohrring hing an einer Schnur um meinen Hals. Ich spürte sein kaltes Gewicht, wenn ich meine Hand aufs Herz legte.

Wir gingen durch mehrere Palastflure, dann durch eine hinter einem Wandteppich verborgene Tür und danach durch mir völlig unbekannte Gänge. Wir stiegen eine Treppe hinab in die Kellergewölbe und liefen durch einen unebenen Tunnel. Wir öffneten drei verriegelte Türen, die Kiggs gewissenhaft wieder hinter uns verschloss, während ich ihm mit der Laterne leuchtete. Wenn ich meinem inneren Kompass glauben durfte, schlugen wir westliche Richtung ein. Hinter ein paar wuchtigen Steintüren wurde der Tunnel breiter, und wir befanden uns in einem Gewirr von natürlichen Höhlen. Kiggs ließ die schmaleren Seitenpfade links liegen und wählte jedes Mal den breiten und ebenen Weg, bis wir schließlich an einem Höhlenausgang im Westen unterhalb des Schlossbergs angekommen waren.

Das breite Flusstal des Mew lag vor uns in morgendlichen Nebelschleiern. Dichte Wolken verbargen den Himmel. Kiggs blieb stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, und ließ den Blick schweifen.

»Das war im Krieg ein Ausfalltor; von unten aus ist es nicht zu sehen. Jetzt haben wir uns den weiten Weg durch die Stadt erspart. Am Fuß des Hügels ist ein Stall, dort warten Pferde auf uns.«

Der Staub auf dem Boden der Höhle war erst kürzlich aufgewirbelt worden. »Und wer benutzt diese Höhle jetzt?«

»Onkel Rufus, möge er am Herzen aller Heiligen ruhen, wählte immer diesen Weg, wenn er zum Jagen ging. Ich dachte mir, es könnte nicht schaden, wenn wir den gleichen Weg nehmen wie er. Sonst kenne ich niemanden, der von dieser Abkürzung weiß.« Er sah mich an. Ich zeigte auf mehrere Kleidungsstücke, die verstreut hinter einem Felsen lagen. »Hm! Vielleicht waren es Schäfer, die hier vor einem Unwetter Schutz gesucht haben?« Er hob eines der Kleidungsstücke auf. Es war ein gut geschnittenes, aber einfaches Kleid. Jede Frau im Palast hatte Kleider wie dieses. Auch ich hatte so eines. »Dienstmädchen vielleicht, die sich mit ihren Geliebten treffen? Aber wie kamen sie durch die drei verschlossenen Türen und warum haben sie ihre Kleider zurückgelassen?«

»Das ist wirklich eigenartig.«

Er grinste. »Wenn dies das größte Geheimnis ist, auf das wir heute stoßen, können wir uns glücklich schätzen.« Er faltete das Kleid wieder zusammen und legte es hinter den Felsen. »Du hast ein scharfes Auge, und das wirst du auch brauchen. Der Abhang ist felsig und sehr wahrscheinlich feucht und rutschig.«

Je weiter wir nach unten stiegen, desto leichter fiel mir das Atmen. Die Luft war frisch und sauber. Im Vergleich dazu war die Atmosphäre in der Stadt und in der Burg stickig, mühevoll und sorgenbeladen. Hier, unter dem weiten, grenzenlosen Himmel, waren nur wir beide. Ich seufzte erleichtert. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr mich diese Enge quälte.

Am Fuß des Hügels warteten tatsächlich Pferde auf uns. Kiggs hatte augenscheinlich angekündigt, dass er mit einer Frau ausreiten wolle, denn mein Pferd hatte einen Damensattel mit Fußgestell. Die Vorrichtung kam mir sehr viel vertrauenerweckender vor als das normale Sattelzeug. Kiggs hingegen war unzufrieden. »John!«, rief er. »Das geht so nicht! Wir brauchen richtiges Sattelzeug!«

Der alte Stallknecht runzelte die Stirn. »Der Pferdebursche hat mir gesagt, Ihr wolltet mit der Prinzessin ausreiten.«

»Nein, das hat er nicht gesagt! Das hast du dir nur gedacht. Maid Dombegh will ihr Pferd reiten und nicht auf einem Pony im Kreis geführt werden!« Er wandte sich entschuldigend an mich, aber etwas in meinem Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. »Das stimmt doch, oder?«

»Oh ja«, antwortete ich fest entschlossen. Ich hob den Saum meiner Röcke an, um ihm zu zeigen, dass ich mit meinen porphyrischen Hosen gut ausgerüstet war. Er blinzelte überrascht, und da begriff ich, dass mein Verhalten nicht sehr damenhaft war. Aber hatte er nicht gerade auf dem wenig damenhaften Sattel bestanden? Egal was ich auch tat, nie war es das Richtige.

Vielleicht sollte ich aufhören, es ständig neu zu versuchen.

Sie führten mein umgesatteltes Pferd heraus; ich hob die Röcke und saß schon beim ersten Versuch auf. Ich wollte verhindern, dass mich jemand an der Taille fasste, um mir in den Sattel zu helfen. Das Pferd tänzelte im Kreis. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, aber ich kannte es vom Sehen und es dauerte nicht lange, bis das Pferd geradeaus lief und auch fast in die richtige Richtung.

Kiggs hielt mich an. »Bist du so versessen darauf, wegzukommen? Du bist ohne deine Satteltasche losgeritten.«

Ich schaffte es, mein Pferd zum Stehen zu bringen und es beinahe ganz ruhig zu halten, während er die Tasche befestigte. Und dann ging’s los. Mein Pferd hatte ganz genaue Vorstellungen, wohin wir reiten sollten, ihm gefielen die Flussauen vor uns, und es war der Meinung, wir sollten so schnell wie möglich dorthin gelangen. Ich versuchte, es zurückzuhalten und Kiggs voranreiten zu lassen, aber es ließ sich nicht beirren. »Was ist hinter diesem Wassergraben?«, rief ich über die Schulter hinweg, als würde ich mit Absicht in diese Richtung preschen.

»Der Sumpf, in dem man Onkel Rufus gefunden hat.« Kiggs reckte den Hals, um Ausschau zu halten. »Wir können an der Stelle nicht Halt machen, und ich bezweifle auch, dass meine Garde dort viel übersehen hat.«

Als wir den kleinen Wassergraben erreicht hatten, verlangsamte mein Pferd sein Tempo. Es wollte in die Auwälder, nicht in den Sumpf, der voller Dornen war. Ich tat so, als ritte ich absichtlich langsamer, und gab dem Prinzen ein Zeichen, dass er die Führung übernehmen solle. Aber mein Pferd weigerte sich, die Brücke zu überqueren. »Nichts da!«, raunte ich ihm zu. »Warum willst du hier den Feigling spielen? Du hast doch am wenigsten von uns allen zu fürchten.«

Kiggs trabte voran; sein dunkler Mantel flatterte hinter ihm im Wind. Er saß mühelos im Sattel; sein Pferd schien allein seinen Gedanken zu gehorchen, er musste es nicht so fest am Zügel reißen wie ich meines. Auf der anderen Seite des Grabens angekommen, verließen wir sofort den befestigten Weg. Zu dieser Jahreszeit war der Sumpf weitgehend ausgetrocknet; alle Tümpel waren mit einer zuckrigen Eisschicht überzogen, die unter jedem Huftritt knackte. Aber ich schaffte es trotzdem, eine schlammige Stelle zu finden, an der mein Pferd ausrutschte und einsank.

»Lenke es auf die grasbewachsenen Stellen«, riet mir Kiggs. Mein Pferd war klüger als ich und hatte sich schon dorthin auf den Weg gemacht.

Kiggs hielt neben ein paar dürren Sträuchern an und zeigte auf die Berge nördlich von uns, die aus der Ferne fast schwarz aussahen von den vielen kahlen Bäumen. »Sie haben im Wald der Königin gejagt, dort drüben. Seine Jagdgesellen haben berichtet, dass die Hunde in alle Richtungen losstürmten …«

»Und die Jäger ritten hinterher?«

»Nein, nein, so jagt man nicht. Die Hunde sollen die Fährten aufspüren. Sie sind darauf abgerichtet, unabhängig zu sein. Sie folgen einem Geruch, bis sie seinen Ursprung gefunden haben, und wenn das nichts bringt, kehren sie zum Rudel zurück. Die Jäger müssen ihnen nicht bis in jeden Winkel des Waldes folgen.«

»Aber Graf von Apsig behauptet, Prinz Rufus sei seinen Hunden gefolgt.«

Kiggs starrte mich an. »Du hast ihn befragt?«

Den Grafen hatte man nicht befragen müssen, er hatte vor den Hofdamen im Blauen Salon damit geprahlt. Kiggs selbst war ja hinzugekommen, aber anscheinend erst nachdem von den Hunden die Rede gewesen war. Da ich aber, wie es schien, einen Ruf als listige Ermittlerin zu verteidigen hatte, sagte ich: »Natürlich habe ich das.«

Bewundernd schüttelte Kiggs den Kopf und sofort plagten mich Gewissensbisse. »Sie glauben, dass mein Onkel seiner Lieblingshündin Una gefolgt ist, weil er sich von der Jagdgesellschaft entfernt hatte. Aber das hätte er gar nicht gebraucht. Sie weiß genau, was sie tut.«

»Weshalb ist er dann alleine fortgeritten?«

»Das werden wir vielleicht niemals erfahren«, sagte Kiggs und gab seinem Pferd die Sporen. »Hier haben sie ihn gefunden – mit Unas Hilfe – am nächsten Morgen, neben diesem kleinen Bächlein.«

Es gab kaum etwas zu sehen, kein Blut, keine Zeichen eines Kampfs. Inzwischen waren auch die Hufspuren des Suchtrupps vom Regen verwaschen und hatten sich mit Sumpfwasser gefüllt. Da war auch eine besonders große und tiefe Pfütze. Ich fragte mich, ob dies die Stelle war, an der der Prinz gelegen hatte. Die Umrisse ähnelten Rufus allerdings nicht sehr.

Kiggs stieg ab, griff in den Beutel an seinem Gürtel und zog ein Heiligenmedaillon hervor, das von Alter und häufigem Gebrauch matt geworden war. Er kniete sich neben die Pfütze, mitten in den Schlamm, und drückte das Medaillon ehrfürchtig gegen die Lippen. Dabei murmelte er leise, als wolle er seinem Onkel Gebete mit auf den Weg geben. Er kniff die Augen fest zu, weil er inständig betete, aber auch, um die Tränen zu unterdrücken. Ich fühlte mit ihm, auch ich liebte meinen Onkel. Was würde ich tun, wenn er tot wäre? Ich gehörte nicht gerade zu den Frömmsten, trotzdem schickte ich ein Gebet zum Himmel, an jeden Heiligen, der es vernahm: Nehmt Rufus in Eure Arme. Beschützt alle Onkel. Spendet diesem Prinzen Euren Segen.

Kiggs stand wieder auf, wischte sich verstohlen die Augen und warf das Medaillon in die Pfütze. Der kalte Wind wehte ihm die Haare aus dem Gesicht und dort, wo das Medaillon lag, kräuselten sich kleine Wellen.

Plötzlich kam es mir in den Sinn, so zu denken, wie ein Drache denken würde. Könnte ein Drache hier, im hellen Tageslicht gelauert und dann jemanden unbemerkt getötet haben? Ganz sicher nicht. In der Ferne sah ich die Straße und die Stadt. Nichts hinderte den freien Blick.

Ich drehte mich zu Kiggs um, der mich bereits fragend ansah, und sagte: »Wenn es wirklich ein Drache gewesen ist, dann muss Euer Onkel an einem anderen Ort getötet und dann hierher gebracht worden sein.«

»Ganz meine Meinung.« Er warf einen Blick zum Himmel, aus dem leichter Nieselregen fiel. »Wir müssen weiter, sonst werden wir nass.«

Er stieg in den Sattel und führte uns vom Sumpf auf die breite, trockene Straße. An einer Gabelung bog er nach Norden ab, auf die sanft geschwungenen Hügel des Königlichen Waldes zu. Wir streiften nur die äußerste südliche Spitze dieses endlosen Waldgebiets. Er war als düster und unheimlich verrufen, aber wir konnten das Sonnenlicht immer sehen. Schwarze Äste teilten den grauen Himmel in Mosaike, die aussahen wie die mit Bleiruten gerahmten Fenster in der Kathedrale. Der Nieselregen wurde stärker und kälter.

Hinter dem dritten Höhenkamm verwandelte sich das Gelände in einen Buschwald, aus den geschwungenen Hügeln wurden Krater und Schluchten. Kiggs ritt langsamer. »Wenn ein Drache jemanden töten will, dann scheint mir dieser Ort hier wie geschaffen dafür zu sein. Die Büsche stehen spärlicher als Bäume, deshalb kann er sich zwar nicht richtig gut, aber doch besser als im Wald fortbewegen. Er hätte die Möglichkeit sich in den Talkesseln zu verbergen, und man sähe ihn nicht, bis man unmittelbar vor ihm steht.«

»Ihr glaubt, Prinz Rufus ist rein zufällig auf den abtrünnigen Drachen gestoßen?«

Kiggs zuckte die Schultern. »Wenn ihn wirklich ein Drache getötet hat, dann ist das sehr wahrscheinlich. Jeder Drache, der vorhatte, Prinz Rufus zu töten, hätte dazu hundert bessere Möglichkeiten gefunden, ohne den Verdacht auf die Drachen zu lenken. Ich an seiner Stelle hätte mich an den Hof begeben, das Vertrauen des Prinzen erschlichen, ihn dann in den Wald gelockt und ihm von hinten einen Pfeil in den Schädel gejagt. Dann hätte ich es als Jagdunfall ausgegeben – oder ich wäre einfach abgehauen. Jedenfalls ohne dieses widerliche Kopfabbeißen.« Er seufzte. »Bevor die Ritter aufgetaucht sind, war ich überzeugt, dass die Söhne Ogdos dahinterstecken. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll.«

Plötzlich war da ein kaum wahrnehmbares Geräusch; es klang wie das Zirpen der Grillen im Sommer. Und es wurde immer lauter. »Was ist das?«

Kiggs blieb stehen und lauschte. »Das ist die Säule der Krähen. In einer Schlucht nördlich von hier ist ein gewaltiges Krähennest. Dort leben ganze Heerscharen von Vögeln. Man sieht sie schon aus weiter Ferne. Komm, ich zeige es dir.«

Er verließ den Pfad und ritt durchs Gebüsch einen Höhenkamm hinauf. Ich folgte ihm. Oben angekommen sahen wir die schwarzen Vögel, die wie eine träge Wolke am Himmel schwebten. Es mussten Tausende sein, weil das Krächzen noch aus dieser Entfernung zu hören war.

»Warum versammeln sie sich ausgerechnet hier?«

»Warum tun Vögel das, was sie tun? Ich glaube, es hat sich noch niemand die Mühe gemacht, das herauszufinden.«

Ich biss mir auf die Lippe, denn ich wusste etwas, was er nicht wusste, und ich überlegte, wie ich es ihm am besten sagen könnte. »Was, wenn der Drache dort drüben ist? Vielleicht hat er, ähm, Aas dort zurückgelassen«, sagte ich und ärgerte mich, dass ich mich so zierte. Natürlich fraßen Krähen Aas, aber Aas war nicht das Einzige, was Drachen zurückließen.

»Fina, dieser Krähenhorst ist schon seit Jahren an diesem Ort«, sagte er.

»Imlann wurde vor sechzehn Jahren verbannt.«

Kiggs blickte zweifelnd. »Du glaubst doch nicht, dass er sich sechzehn Jahre lang an derselben Stelle aufgehalten hat! Das ist ein Niederwald. Holzfäller schlagen hier Holz. Es wäre bestimmt jemandem aufgefallen.«

Pah. Ich musste anders an die Sache herangehen. »Habt Ihr Belondweg gelesen?«

»Ich taugte nicht viel als Gelehrter, wenn ich es nicht getan hätte«, gab er zur Antwort.

Er war einfach wundervoll und brachte mich zum Lachen, aber das durfte ich ihn nicht wissen lassen. »Erinnert Ihr Euch, wie der trickreiche Pau-Henoa die Mordondey getäuscht hat, damit sie dachten, Belondwegs Armee sei viel größer, als sie in Wirklichkeit war?«

»Er täuschte ein Schlachtfeld vor. Die Mordondey glaubten, dass dort ein entsetzliches Gemetzel stattgefunden hätte.«

Warum musste ich allen immer alles haarklein auseinandersetzen? Er war fast so schlimm wie mein Onkel. »Und wie hat es Pau-Henoa angestellt, dieses Gemetzel vorzutäuschen?«

»Er hat auf dem ganzen Feld Drachendung verstreut, der Millionen von Krähen angelockt hat und … oh!« Er blickte hoch zu der Wolke von Vögeln. »Du glaubst doch nicht etwa …«

»Dass da drüben eine Abfallgrube der Drachen ist, ja. Sie lassen ihren Dung nicht überall liegen, sie sind reinlich. In den Bergen gibt es sogenannte Geiertäler. Das ist genau das Gleiche.«

Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu, es war mir peinlich, dass ich diese Unterhaltung führen musste, und nicht zuletzt deshalb, weil Orma mir dies alles erzählt hatte – natürlich erst, als ich ihn danach gefragt hatte. Ich versuchte abzuschätzen, wie schockiert der Prinz war. Er sah mich mit großen Augen an, allerdings weder angewidert noch hämisch, sondern einfach nur neugierig. »Schön«, sagte er dann. »Lass uns nachsehen.«

»Das ist ein großer Umweg für uns, Kiggs. Es ist nur eine vage Ahnung …«

»Und ich habe eine Ahnung von deinen Ahnungen«, antwortete er und gab dem Pferd die Flanken. »Es wird nicht lange dauern.«

Das heisere Krächzen wurde immer lauter, je näher wir kamen. Als wir die halbe Strecke zurückgelegt hatten, hob Kiggs seine behandschuhte Hand und machte mir ein Zeichen anzuhalten. »Ich möchte nicht versehentlich über diesen Burschen stolpern. Womöglich ist es Onkel Rufus genau so ergangen …«

»Der Drache ist nicht hier«, sagte ich. »Sonst wären die Krähen in Aufruhr – oder ganz still. Sie scheinen mir aber recht unbekümmert zu sein.«

Seine Miene hellte sich auf, ihm war etwas eingefallen. »Vielleicht war das der Grund, weshalb Onkel Rufus hierhergekommen ist: weil sich die Vögel merkwürdig benommen haben.«

Wir ritten langsam näher. Vor uns gähnte eine große Grube. Am Rand hielten wir an und sahen hinab. Der Boden war mit Felsbrocken übersät, so als sei an dieser Stelle eine Höhle eingestürzt. Die spärlichen Bäume waren hoch, ausgedünnt und schwarz vor zankenden Vögeln. Die Grube war groß genug, dass sich ein Drache in ihr bequem bewegen konnte, und es gab untrügliche Spuren, dass hier einer gewesen war.

»Bestehen Drachen ganz und gar aus Schwefel?«, ächzte Kiggs und zog sich den Kragen seines Umhangs vors Gesicht. Ich folgte seinem Beispiel. Der Gestank von Abwässern machte uns nichts aus – wir waren schließlich Stadtbewohner –, aber dieser Geruch nach faulen Eiern drehte einem den Magen um.

»Gut«, sagte er. »Zünde ein Gedankenfeuer in deinem schlauen Köpfchen an. Das hier sieht ziemlich frisch aus, meinst du nicht auch?«

»Ja.«

»Es ist allerdings die einzige Hinterlassenschaft weit und breit.«

»Er braucht höchstens einmal im Monat hierherzukommen. Drachen verdauen sehr langsam, und wenn er sich regelmäßig in einen Saarantras verwandelt, dann …« Nein. Nein, ausführlicher würde ich garantiert nicht werden. »Die Krähen haben alles, was älter ist, schon aufgefressen«, sagte ich matt.

Über seinem Mantelkragen waren nur seine Augen zu sehen, aber ich merkte, dass er schmunzelte, weil ich mich so zimperlich anstellte. »Oder der Regen hat es weggespült. Wie dem auch sei, wir können nicht beweisen, dass die Krähen nur deshalb hier sind, weil ein Drache gelegentlich diesen Ort aufsucht.«

»Das brauchen wir auch nicht. Kürzlich ist ein Drache hier gewesen, so viel steht fest.«

Kiggs kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Nehmen wir mal an, die Krähen haben sich merkwürdig verhalten. Mein Onkel ist hergekommen, um nachzusehen. Dann traf er zufällig auf einen Drachen. Der tötete ihn und brachte den kopflosen Leichnam im Schutze der Dunkelheit ins Sumpfland.«

»Warum sollte er den Leichnam fortschaffen?«, überlegte ich laut. »Er musste doch nur alles auffressen, was ihn hätte überführen können?«

»Weil die Garde dann weiter nach Onkel Rufus gesucht hätte. Irgendwann wären sie bis hierher vorgedrungen und hätten den unzweifelhaften Beweis für die Anwesenheit eines Drachen gefunden.« Kiggs sah mich an. »Aber wieso hat er dann den Kopf gefressen?«

»Es ist schwierig für einen Drachen, es so aussehen zu lassen, als hätte jemand anderes den Mord begangen. Der fehlende Kopf allein beweist noch gar nichts. Vielleicht wusste er ja, dass man die Söhne von Sankt Ogdo dafür verantwortlich machen würde«, sagte ich. »Das habt Ihr doch auch getan, nicht wahr?«

Er schüttelte skeptisch den Kopf. »Aber warum hat er sich den Rittern zu erkennen gegeben? Er hätte doch wissen müssen, dass wir beide Vorfälle miteinander in Verbindung bringen!«

»Vielleicht dachte er, dass die Ritter es nicht riskieren würden, gefangen genommen zu werden, wenn sie der Königin Bericht erstatteten. Oder er ging davon aus, dass die Königin die Geschichte niemals glauben würde – was ja auch der Fall war, nicht wahr?« Ich zögerte, denn ich war drauf und dran, ihm etwas sehr Persönliches preiszugeben, aber dann fügte ich doch hinzu: »Manchmal hat es die Wahrheit schwer, die Wälle unserer Vorurteile zu überwinden. Eine Lüge, im richtigen Gewand, hat es da viel leichter.«

Aber er hatte mir gar nicht zugehört; er starrte auf etwas, das auch das Interesse der Krähen auf sich zog. »Was ist das?«

»Eine tote Kuh?«, sagte ich zögernd.

»Halte mein Pferd.« Er gab mir die Zügel, saß ab und kletterte in die stinkende Grube, ehe ich ihn aufhalten konnte. Die Krähen stiegen kreischend auf und verdeckten mir die Sicht auf ihn. Hätte er seine Uniform getragen, wäre das Purpurrot zwischen all den vielen schwarzen Vogelleibern auszumachen gewesen, so jedoch konnte man ihn auch für einen moosbewachsenen Felsen halten.

Die Krähen flatterten durch die Luft, krächzten verärgert und verzogen sich auf die Bäume. Kiggs, der seine Arme schützend um den Kopf gelegt hatte, war beinahe auf dem Grund der Grube angekommen.

Mein Pferd tänzelte nervös hin und her. Kiggs’ Pferd zerrte an den Zügeln und wieherte. Die Krähen waren jetzt verschwunden und im Gelände und in der Grube war es gespenstisch still. Mir gefiel das nicht. Ich überlegte, ob ich Kiggs rufen sollte, aber sein Pferd zog so heftig am Zügel, dass ich genug damit zu tun hatte, nicht von meiner Stute herunterzufallen.

Immer noch fiel kalter Nieselregen, und jetzt sah ich nördlich von uns eine Dampfwolke aus dem Niederwald aufsteigen. Vielleicht war es Nebel, die Berge im Norden hießen nicht umsonst Mutter der Nebelschwaden. Aber dieser Nebel schien von einer ganz bestimmten Stelle aufzusteigen. Es sah aus, als fiele der kalte Regen auf einen warmen Untergrund.

Ich legte die Hand aufs Herz, dorthin, wo sich Ormas Ohrring befand, zog ihn jedoch nicht hervor. Orma würde viel Ärger bekommen, wenn er sich meinetwegen verwandelte, ich konnte es mir nicht leisten, ihn zu rufen, solange ich meiner Sache nicht völlig sicher war.

Der Nebel breitete sich aus – oder die Quelle, die den Nebel hervorbrachte, bewegte sich. Welche Beweise brauchte ich noch? Es würde einige Zeit dauern, bis Orma hier war. Nachdem er sich verwandelt hatte, würde er einige Minuten lang nicht fliegen können, und wir waren Meilen von ihm entfernt. Die Nebelschwaden bewegten sich nach Westen, dann zogen sie in unsere Richtung. Kein Laut war zu hören. Ich lauschte auf das verräterische Rascheln von Ästen, auf Schritte, auf den feurigen Atem, aber ich hörte nichts.

»Gehen wir«, sagte Kiggs plötzlich neben mir, dass ich beinahe vor Schreck vom Pferd gefallen wäre.

Er schwang sich in den Sattel und ich gab ihm die Zügel. In seiner Hand glitzerte ein Gegenstand. Aber ich konnte ihn jetzt nicht fragen, was es war. Mein Herz klopfte wie wild. Die Nebelwölkchen kamen immer näher, und wenn wir jetzt losritten, würde der Lärm uns verraten. Vielleicht witterte Kiggs unbewusst Gefahr, jedenfalls ritten wir so leise und so schnell wie möglich wieder auf die Straße zurück.

Er wartete, bis wir den Niederwald hinter uns gelassen und das hügelige Ackerland auf der anderen Seite erreicht hatten, dann zeigte er mir, was er gefunden hatte: zwei Pferdemedaillen. »Das ist der Schutzheilige meines Onkels, Sankt Brandoll, der freundlich Grüßende, der die Fremden gut aufnimmt«, sagte Kiggs und versuchte dabei vergeblich zu lächeln. Was die andere Medaille zu bedeuten hatte, erklärte er mir nicht, ihm schienen die Worte zu fehlen. Aber er zeigte sie mir. Sie trug das Wappen der königlichen Familie: Belondweg und PauHenoa, die Krone von Goredd und Ring und Schwert von Sankt Ogdo.

»Sie hieß Hilda«, sagte er, als er etwa nach einer Viertel Meile die Stimme wieder gefunden hatte. »Sie war ein gutes Pferd.«

59467.jpg