Neun
Natürlich konnte ich nicht alles stehen und liegen lassen und all diese Personen suchen. Ich hatte ja eine Arbeit zu verrichten. Viridius verlangte von früh bis spät nach mir, ich hatte kaum noch Zeit, mich angemessen um meinen Garten zu kümmern. Flederchen bei der Hand zu nehmen und ihn in der wirklichen Welt zu suchen, kam erst recht nicht infrage. Ich gab mir selbst das Versprechen, dass ich es später nachholen würde, wenn der Jahrestag des Friedensschlusses vorüber war. Flederchen hielt sich an seinen Teil der Abmachung und machte mir keine Schwierigkeiten, obwohl er mich jedes Mal aus seinen schwarzen Augen kritisch musterte, wenn ich zu Besuch kam, und wenn im Gebüsch etwas raschelte, dachte ich regelmäßig, er würde mir heimlich durch den Garten folgen.
Zu wenig Schlaf und eine blau angeschwollene Nase sorgten dafür, dass sich für eine mürrische Musikmamsell ein Tag nach dem anderen träge dahinzog. Meinen Musikern machte das nichts aus, sie waren ja Viridius’ grenzenlose Verschrobenheit gewohnt. Der Meister selbst fand meinen Missmut lustig. Je mürrischer ich wurde, umso fröhlicher gab er sich, bis hin zur Albernheit. Aber wenigstens bestand er nicht mehr darauf, dass ich an den Abendgesellschaften teilnahm, und er hatte auch kein Wort mehr über ein Treffen mit Lars verloren, den genialen Erfinder des mechanischen Megaharmoniums. Er schlich aufmerksam um mich herum und ich ließ ihn gewähren.
Ich musste immer noch ein Programm für das Willkommenskonzert für General Comonot und die Abendunterhaltung am Jahrestag des Friedensschlusses fertigstellen. Comonot würde fünf Tage vor diesem Jubiläum eintreffen. Er wollte ein wenig in das hineinschnuppern, was wir Goreddis die Goldene Woche nennen: eine Reihe von Heiligen Tagen, angefangen mit Spekulus, der längsten Nacht des Jahres. Es war die Zeit des Zusammentreffens und der Versöhnung, die Zeit, um große Spenden zu geben und noch größere Feste zu feiern, die Zeit, in der man um das Goldene Haus zog und Sankt Eustachius bat, uns zu verschonen, in der man den Goldenen Spielen beiwohnte und verkleidet von Tür zu Tür ging, in der man hochherzige Vorsätze für das kommende Jahr fasste und den Himmel um Beistand bat. Und wie es sich so passend fügte, hatte Königin Lavonda just in der Goldenen Woche Frieden mit Comonot geschlossen, sodass seither der Jahrestag des Friedensschlusses am Vorabend begangen wurde, man die ganze Nacht durchfeierte und dafür am nächsten Tag ausschlief. Es war zugleich der Beginn des neuen Jahres.
Ich hatte das halbe Programm unbesehen mit Musikern besetzt, die Viridius empfohlen hatte. Einer der Ersten war sein Liebling Lars, obwohl der alte Mann brummelte: »Erinnere mich daran, damit ich ihm rechtzeitig sage, dass er spielen soll«, was nicht gerade sehr vielversprechend klang. Aber immer noch galt es, viel Zeit mit Musikstücken zu füllen, besonders am Friedensfest, und ich hatte längst noch nicht genügend Bewerber vorspielen lassen. Ich las einige Tage lang die Bittgesuche von Musikern, die sich beworben hatten, und hörte sie mir an. Einige spielten hervorragend, die meisten entsetzlich schlecht. Es würde schwierig werden, ein Programm für die ganze Nacht aufzustellen, es sei denn, ich wiederholte einige Stücke. Ich hatte mir eigentlich mehr Abwechslung gewünscht.
Eine Bewerbung tauchte immer wieder ganz oben auf meinem Stapel auf, sie stammte von einer Pygegyria-Truppe. Vermutlich handelte es sich dabei um dieselben Tänzer, die ich schon bei dem Begräbnis abgewiesen hatte, denn dass sich mehr als nur ein Ensemble in der Stadt aufhielt, war eher unwahrscheinlich. Ich hatte nicht die Absicht, sie vortanzen zu lassen, es hatte keinen Zweck. Für Prinzessin Dionne und Lady Corongi war es ohnehin schwer genug, sich unsere eigenen heimischen Tänze aus Goredd anzuschauen, die jungen Frauen weitaus mehr Vergnügen bereiteten, als es schicklich war (ich hatte es selbst aus dem Mund von Prinzessin Glisselda gehört, die sich sehr über die dumme Einstellung ihrer Mutter und ihrer Gouvernante ärgerte). Ich konnte mir lebhaft ausmalen, was sie zu einem fremdländischen Tanz sagen würden, der in dem Ruf stand, recht freizügig zu sein.
Ich zerriss das Bittgesuch und warf es ins Feuer. Ich erinnere mich genau daran, dass ich das getan habe, aber am nächsten Tag lag die Bewerbung wieder zuoberst auf dem Stapel.
Hin und wieder gab mir Viridius einige Zeit frei, damit ich meine Studien bei Orma vorantreiben konnte. Drei Tage bevor Comonot und das Chaos über uns hereinbrechen würden, beschloss ich, dass ich mir eine Pause verdient hatte. Ich zog mich warm an, schnallte mir die Laute auf den Rücken, steckte meine Flöte in einen Beutel und machte mich zum Sankt-Ida-Konservatorium auf. Ich fühlte mich so herrlich unbeschwert, dass ich den Hügel eher hinab hüpfte als ging. Der Winter hatte seine Zähne noch nicht gezeigt. Der Reif auf den Dächern schmolz beim ersten Kuss der Sonne dahin. Ich kaufte mir am Flussufer ein Frühstück, Fischpastetchen und ein Glas Tee. Ich machte einen Abstecher zum Sankt-Willibald-Markt, der voller Buden und voller Menschen war und wo man es angenehm warm hatte. Ich erfreute mich an knallbunten Bändern aus Ninys, lachte über die Possen eines Hundes, der Nudeln stibitzte, und bestaunte die riesigen eingesalzenen Schinken. Es war schön, unerkannt in der Menge unterzutauchen und mit den Augen all jenen hübschen Krimskrams zu verschlingen.
Aber so unerkannt wie früher blieb ich nicht lange. Ein Apfelverkäufer rief mir lauthals hinterher: »Spiel uns ein Lied, Süße!« Zuerst dachte ich, er meinte damit die Laute, die für jeden sichtbar war, aber er mimte einen Flötenspieler. Die Flöte war jedoch in meiner Tasche verstaut. Er kannte mich also von der Begräbnisfeier.
Die Menge teilte sich vor mir wie ein Vorhang und ich fand mich plötzlich vor dem Tuchhändlerstand der Gebrüder Broadwick wieder, wo sich die Filzstoffballen nur so türmten. Thomas Broadwick zog seinen Spitzhut vor einer beleibten Matrone, die gerade stolze Besitzerin von mehreren Ellen Stoff geworden war.
Er blickte auf, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, so lange schauten wir uns in die Augen.
Es kam mir in den Sinn, schnurstracks auf ihn zuzugehen und ihm zu sagen, dass ich zur Einsicht gelangt wäre und mich nicht mehr mit Quigs abgeben würde. Im selben Moment fiel mir ein, dass ich die kleine Echse noch in meiner Börse stecken hatte. Ich hatte mir nie die Mühe gemacht, sie herauszunehmen. Und schon war es zu spät und der passende Augenblick war vorüber.
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, er schien mir die Schuld an meinem Gesicht ablesen zu können. Die Gelegenheit, ihn zu täuschen, war vorbei.
Ich kehrte um und stürzte mich ins dichteste Gewimmel. Die Laute hielt ich vor mich, damit ich sie vor Remplern schützen konnte. Der Markt war so groß wie drei Häuserzeilen und bot genug Gelegenheiten unterzutauchen. Ich schlich mich hinter den Stand eines Kupferschmieds und spähte zwischen den blitzenden Kesseln hindurch.
Thomas verfolgte mich, er ging dabei langsam und bedächtig durch die Menge, als watete er durch tiefes Wasser. Allen Heiligen sei Dank, er war groß und sein grellgrüner Spitzhut ließ ihn noch eine Elle größer erscheinen. Ich sah ihn eher als er mich.
Ich machte mich auf den Weg zu den Laubengängen, schlängelte zwischen den Marktbesuchern hindurch, so gut ich konnte, aber immer wenn ich mich umsah, war er hinter mir, und jedes Mal ein Stückchen näher. Bald würde er mich eingeholt haben, es sei denn, ich fing an zu rennen, doch damit würde ich nur die Aufmerksamkeit auf mich lenken. Nur ein Dieb rennt auf einem Markt.
Ich fing an zu schwitzen. Die Stimmen der Händler hallten von den Arkadengewölben wider, aber da war noch ein Geräusch, schneidend und schrill inmitten des eintönigen Gemurmels.
Vielleicht war das die Chance, von mir abzulenken.
Ich bog um eine Ecke und sah zwei Söhne Sankt Ogdos am Rand des öffentlichen Brunnens stehen. Einer schwang ketzerische Reden, der andere, ein derber, kampfeslustiger Bursche, stand daneben und hielt nach Wachen Ausschau. Ich wich zurück und versteckte mich hinter einem fetten Mann, seiner Lederschürze und der Ahle nach zu urteilen ein Flickschuster. So konnte ich nach Thomas Ausschau halten, ohne dass er mich entdeckte. Und tatsächlich, als Thomas den mit einer schwarzen Feder geschmückten Sohn Ogdos erblickte, der aufgeregt auf dem Brunnenrand herumhüpfte, blieb er stehen und hörte wie alle anderen auch mit offenem Mund zu.
»Brüder und Schwestern unter dem Himmel«, rief der Liebling Sankt Ogdos. Seine Feder erbebte und seine Augen funkelten feurig. »Glaubt ihr allen Ernstes, dass dieses Obermonster wieder von hier verschwindet, sobald es erst einmal einen Fuß in unsere Stadt gesetzt hat?«
»Nein!«, ließen sich vereinzelte Stimmen hören. »Werft die Teufel hinaus!«
Der Sohn Ogdos hob seine knorrige Hand und gebot Ruhe. »Dieser sogenannte Friedensschluss, dieser Fetzen Papier, ist ein trügerisches Machwerk, mit dem man uns einlullen will. Man hat unsere Königin dazu verleitet, die Ritter zu vertreiben, die einst der Stolz des ganzen Südlands gewesen waren. Diese Untiere warten ab, bis wir völlig wehrlos sind. Wo ist die mächtige Dracomachie, unsere hohe Kriegskunst geblieben? Es gibt sie nicht mehr. Und aus welchem Grund sollten die Drachen denn auch gegen uns kämpfen? Sie haben schon die stinkenden Quigs als Vorhut geschickt, die sich in dem verdorbenen Herz dieser Stadt eingenistet haben. Nun, nach vierzig Jahren, kommen sie, eingeladen von der Königin höchstpersönlich. Vierzig Jahre sind gar nichts für diese langlebigen Ungeheuer! Es sind dieselben Monster, gegen die unsere Großväter im Kampf gefallen sind – und wir sollen ihnen vertrauen?«
Ein rauer Schrei aus vielen Kehlen erscholl. Thomas grölte genauso begeistert wie die anderen auch, ich sah ihn durch eine Wand hochgereckter Fäuste. Das war die Gelegenheit für mich zu entwischen. Ich kämpfte mich zwischen den Leuten hindurch, die so eng standen, dass es einem die Luft raubte, hinaus aus dem Labyrinth des Marktes, und stolperte in das milchige Licht der Sonne.
In der kalten Luft wurden meine Gedanken wieder klar, aber mein Herz raste immer noch. Ich war nur noch eine Straßenzeile von Sankt Ida entfernt, und ich beschleunigte meine Schritte aus Angst, Thomas könnte mir erneut folgen.
Ich nahm zwei Stufen auf einmal, als ich, nur wenige Minuten später, zur Musikbibliothek von Sankt Ida emporstieg. Die Tür zu Ormas Zimmer klemmte ein wenig zwischen zwei Bücherregalen; es sah so aus, als wäre sie nur hingelehnt, und das war sie auch. Auf mein Klopfen hin hob Orma die Tür kurzerhand beiseite, ließ mich eintreten und stellte sie dann wieder an ihren Platz.
Der Raum war kein richtiges Zimmer. Er bestand aus Büchern, oder genauer gesagt, aus dem schmalen Gang zwischen zwei Buchregalen und drei kleinen Fenstern. Ich hatte schon viel Zeit hier verbracht, gelesen, geübt, Unterricht gehabt, und mehr als einmal hatte ich hier übernachtet, wenn es zu spät zum Nachhausegehen geworden war.
Orma räumte einen Stapel Bücher von einem Stuhl, damit ich mich setzen konnte, er selbst hockte sich auf einen anderen Bücherstapel. Diese Angewohnheit von ihm hat mich schon immer amüsiert. Drachen horteten keine Goldschätze mehr, seit Comonots Reformen war das verboten. Jetzt war Wissen der Schatz, den Orma und seine Generation anhäuften. Und wie schon seit undenklichen Zeiten setzten sich Drachen auf das, was sie gehortet hatten.
Ich fühlte mich wieder sicher, und das nur, weil ich mit ihm zusammen war. Ich packte meine Instrumente aus, und während ich losplapperte, verflog meine Angst. »Ich wurde gerade über den Sankt-Willibald-Markt gejagt. Und weißt du auch, warum? Weil ich zu einem Quig nett gewesen bin. Tag für Tag verberge ich alles, was den Menschen einen Grund liefern könnte, mich zu hassen, und dann stellt sich heraus, dass sie gar keinen Grund dafür brauchen. Was für eine Ironie des Schicksals, der Himmel hat sich einen Scherz mit mir erlaubt.«
Ich hatte nicht ernsthaft erwartet, dass Orma darüber lachen würde, aber heute war er noch einsilbiger als sonst. Er starrte auf die tanzenden Staubflusen in dem Sonnenlicht, das durch sein winziges Fenster fiel. Seine Brillengläser spiegelten, und ich konnte noch weniger als sonst erahnen, was in ihm vorging.
»Du hörst mir gar nicht zu«, beschwerte ich mich.
Er sagte nichts, sondern nahm seine Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. Sah er heute nicht gut? Er hatte sich nie an seine menschlichen Augen gewöhnen können, die so viel schlechter waren als seine Drachenaugen. Wenn Orma seine natürliche Gestalt angenommen hatte, konnte er eine Maus in einem Weizenfeld erspähen. Keine Brille, wie gut sie auch sein mochte, konnte diesen Unterschied wettmachen.
Ich musterte ihn aufmerksam. Es gab Dinge, die meine Augen – und mein menschlicher Verstand, der sie lenkte – sehen und unterscheiden konnten und die ihm selbst verborgen blieben. Er sah elend aus, blass und abgespannt, er hatte Ringe unter den Augen und kämpfte mit seinen Gefühlen. Das war etwas, was kein anderer Drache begriffen hätte.
»Bist du krank?« Ich lief zu ihm hin, wagte aber nicht, ihn zu berühren.
Er verzog das Gesicht und streckte sich nachdenklich, dann schien er einen Entschluss zu fassen. Er nahm die Ohrringe ab und legte sie in eine Schublade; was auch immer er mir mitzuteilen hatte, er wollte auf keinen Fall, dass die Zensoren es hörten. Er zog etwas aus seinem Wams und drückte es mir in die Hand. Es war schwer und kalt, und ohne dass er etwas sagen musste, wusste ich, es war der Gegenstand, den die kleine Bettlerin ihm nach dem Begräbnis des Prinzen geschenkt hatte.
Es war eine Goldmünze, alt und wertvoll. Ich erkannte auf der Schauseite eine Königin oder jedenfalls ihre Insignien. Auf der Rückseite war Pau-Henoa, der Herr der Gauner, eingeprägt. »Stammt sie aus der Zeit von Königin Belondweg?«, fragte ich. Sie war Goredds erste Königin gewesen, vor beinahe tausend Jahren. »Woher bekommt man so etwas? Und sag mir nicht, die Bettler in der Stadt schenken jedem so etwas, denn ich habe noch so etwas bekommen.« Ich gab sie ihm wieder zurück.
Orma rieb die Münze zwischen den Fingern. »Das kleine Mädchen war eine zufällige Botin. Sie spielt keine Rolle. Die Münze kommt von meinem Vater.«
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Weil ich alle Gedanken an meine Mutter unterdrücken musste – ich wagte es ja nicht einmal, mir Orma als meinen Onkel vorzustellen, außer ich verplapperte mich und sprach ihn versehentlich so an –, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, auch alle Gedanken an meine weitverzweigte Drachenfamilie zu unterdrücken. »Woher weißt du das?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich kenne jede Münze im Schatz meines Vaters.«
»Ich dachte, es sei verboten, Schätze zu horten.«
»Selbst ich bin älter als dieses Gesetz. Ich erinnere mich an den Schatz meines Vaters, so wie ich mich an meine Kindheit erinnere. Ich kenne jedes Goldstück und jeden Pokal.« Er blickte versonnen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als vermisse er den Geschmack von Gold. Dann sah er mich an und verzog das Gesicht. »Mein Vater wurde gezwungen, seinen Schatz herzugeben, obwohl er sich jahrelang dagegen wehrte. Der Ardmagar ließ ihn gewähren, bis die Schande deiner Mutter uns alle in Verruf brachte.«
Orma sprach selten von meiner Mutter. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Er sagte: »Als Linn mit Claude durchbrannte und nicht mehr nach Hause kommen wollte, haben die Zensoren eine Untersuchung der geistigen Verfassung aller unserer Familienmitglieder verlangt. Meine Mutter hat sich wegen dieser Schande umgebracht, was man als zweiten Beweis von Irrsinn in unserer Familie gewertet hat.«
»Ich erinnere mich, dass du mir davon erzählt hast«, sagte ich rau.
»Dann wirst du dich auch erinnern«, fuhr er fort, »dass mein Vater ein bedeutender General gewesen ist. Er war mit Ardmagar Comonot nicht immer derselben Meinung, aber seine Ergebenheit und sein Ruhm standen außer Frage. Nachdem Linn …« Er verstummte, brachte es nicht über die Lippen zu sagen »sich verliebt hat«. Der Satz war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu bringen. »Plötzlich hat man unseren Vater überwacht, alles, was er tat, wurde auf die Goldwaage gelegt, jede seiner Äußerungen zerpflückt. Plötzlich drückten sie auch wegen seines Schatzes und seiner gelegentlichen Widerspenstigkeit kein Auge mehr zu.«
»Er ist geflohen, bevor die Untersuchung gegen ihn begonnen hat, nicht wahr?«, fragte ich.
Orma nickte, sein Blick war auf das Goldstück gerichtet. »Comonot hat ihn in Abwesenheit verbannt; seither hat ihn niemand mehr gesehen. Er wird immer noch gesucht, weil er Unruhen gegen die Reformen des Ardmagar geschürt hat.«
Seine mühsam aufrechterhaltene Gelassenheit brach mir das Herz, aber als Mensch gab es nichts, was ich hätte tun können, um ihm zu helfen. »Und was soll dir die Münze nun sagen?«, fragte ich.
Orma blickte mich über den Rand seiner Brillengläser an, als wäre dies die unsinnigste Frage der Welt. »Er ist in Goredd. Da kannst du Gift darauf nehmen.«
»Wurde sein Schatz nicht dem des Hohen Ker einverleibt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, was dieser gerissene Saar in letzter Sekunde noch alles mitnehmen konnte.«
»Könnte nicht jemand anderes die Münze geschickt haben? Die Zensurbehörde zum Beispiel, um zu sehen, wie du darauf reagierst?«
Orma spitzte die Lippen und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es war schon unser Erkennungszeichen, als ich noch ein Kind war. Genau diese Münze. Sie diente als Mahnung, mich in der Schule gut zu betragen. Mach uns keine Schande, sollte sie bedeuten. Denk an deine Familie.«
»Und was könnte sie jetzt und hier bedeuten?«
Sein Gesicht war schmaler als je zuvor. Der falsche Bart passte ihm noch weniger als sonst, er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn richtig anzukleben. Orma seufzte. »Ich nehme an, Imlann war beim Begräbnis und fürchtet nun, dass ich ihn entdeckt habe, was allerdings nicht stimmt. Er will mir damit zu verstehen geben, dass ich ihm aus dem Weg gehen soll, so tun soll, als würde ich seinen Saarantras nicht erkennen, wenn ich ihn sehe, und dass ich ihn tun lassen muss, was seine Ehre von ihm verlangt.«
Ich verschränkte die Arme, im Zimmer schien es plötzlich kälter zu sein. »Was will er denn tun? Und was noch wichtiger ist, wem? Will er dem Mann etwas tun, der seine Tochter geheiratet hat? Oder ihrem Kind?«
Ormas braune Augen wurden größer hinter seinen Brillengläsern. »Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Für dich selbst musst du nichts fürchten, er glaubt, dass Linn kinderlos gestorben ist.«
»Und mein Vater?«
»Imlann hat es nie gestattet, dass man den Namen deines Vaters in seiner Gegenwart aussprach. Die bloße Existenz deines Vaters war ein Verstoß gegen jede Ard und sie wurde von allen heftig abgestritten.«
Orma zupfte einen Fussel von seiner Wollhose; darunter trug er seidene Unterwäsche, sonst hätte er sich ständig kratzen müssen wie ein flohgeplagter Hund. »Wer weiß, was Imlann in den vergangenen sechzehn Jahren in seinem Kopf ausgebrütet hat«, sagte er. »Er hat ja keinen Grund, sich an die Gesetze zu halten oder sich mit seinen menschlichen Gefühlen abzuplagen. Selbst von mir, der ich beständig überwacht werde und darum besonders gesetzestreu sein muss, fordert die menschliche Existenz ihren Tribut. Früher glaubte ich viel genauer zu wissen, wo der Wahnsinn beginnt.«
»Wenn er, wie du sagst, nicht hinter Papa oder mir her ist, hinter wem dann? Weshalb ist er hergekommen?«
»Und das so unmittelbar vor Comonots Besuch.« Er sah mich über die Brillenränder hinweg bedeutungsvoll an.
»Ein Mordkomplott?« Er machte riesige Gedankensprünge, und ich nicht minder. »Denkst du, er führt etwas gegen den Ardmagar im Schilde?«
»Ich denke, es wäre töricht von uns, die Augen zu verschließen und so zu tun, als wäre nichts geschehen.«
»Wenn das so ist, dann musst du Prinz Lucian und der Wache von all dem berichten.«
»Ah. Genau das ist das Problem.« Er lehnte sich zurück und tippte sich mit der Münze an die Zähne. »Das kann ich nicht. Ich sitze zwischen zwei Stühlen, wie ihr Menschen es nennt. Ich bin zu sehr in die Sache verstrickt. Ich fürchte, ich bin nicht in der Lage, eine vernunftgemäße Entscheidung zu treffen.«
Ich bemerkte die Sorgenfalte auf seiner Stirn. Irgendetwas bereitete ihm Kopfzerbrechen. »Du willst ihn nicht ausliefern, weil er dein Vater ist?«
Orma verdrehte die Augen, das Weiße darin blitzte wie bei einem verängstigten Tier. »Ganz im Gegenteil. Ich möchte am liebsten die Wachen auf ihn hetzen, ihn vor Gericht sehen, ihn hängen sehen. Und nicht etwa weil er eine Gefahr für den Ardmagar ist – was er vermutlich ist, auch wenn deine Zweifel berechtigt sind –, sondern weil ich ihn … weil ich ihn wirklich hasse.«
Unbegreiflicherweise empfand ich zuallererst Eifersucht. Ich verspürte sie wie einen Faustschlag in den Magen, nicht nur, weil Orma überhaupt etwas empfand, sondern weil er ein so starkes Gefühl für jemand anderen als mich aufbrachte. Ich sagte mir, dass es Hass war und ich nicht ernsthaft ein solches Gefühl seiner mir entgegengebrachten wohlwollenden Gleichgültigkeit vorziehen könnte, oder etwa doch?
»Hass ist etwas sehr Ernstes. Bist du dir sicher?«, fragte ich ihn.
Er nickte, und dann offenbarte er sich mir, indem er zuließ, dass sein Gesichtsausdruck seine Gefühle verriet. Er sah entsetzlich aus.
»Wie lange geht es dir schon so?«, fragte ich.
Er zuckte verzweifelt die Schultern. »Linn war nicht nur meine Schwester, sie war auch meine Lehrerin.«
Orma hatte mir oft erklärt, dass die Bezeichnung »Lehrer« für Drachen der Ausdruck höchster Wertschätzung war; Lehrer wurden höher geachtet als die eigenen Eltern, höher sogar als der Ardmagar.
»Als sie starb und die Schande über unsere Familie kam«, sagte er, »konnte ich sie nicht verurteilen, wie es mein Vater tat – so wie wir es alle tun sollten, damit der Ardmagar zufrieden war. Wir kämpften sogar, er biss mich –«
»Er hat dich gebissen?«
»Wir sind Drachen, Fina. Das eine Mal, als du mich gesehen hast …« Er machte eine vage Handbewegung, als widerstrebte es ihm, laut auszusprechen, was ich erblickt hatte, fast so als hätte ich ihn nackt gesehen, was genau genommen wohl auch der Fall war. »Meine Flügel waren nicht ganz ausgebreitet, deshalb hast du wahrscheinlich auch die Verletzung an meinem linken Flügel nicht bemerkt, wo ich mir den Knochen gebrochen habe.«
Ich schüttelte entsetzt den Kopf. »Kannst du noch fliegen?«
»Oh ja«, antwortete er geistesabwesend. »Aber du sollst wissen, am Ende habe ich sie doch noch verurteilt, wenn auch unter Zwang. Meine Mutter hat sich trotzdem das Leben genommen und mein Vater wurde trotzdem in die Verbannung geschickt …« Seine Lippen zitterten. »Es hat alles nichts genützt.«
Ich kämpfte mit den Tränen und er vermutlich auch. »Die Zensurbehörde hätte eine Exzision angeordnet, wenn du dich nicht gefügt hättest.«
»Ja, wahrscheinlich hätte sie das«, überlegte er, und seine Stimme klang wieder unbeteiligt.
Bei einer Exzision merzten die Zensoren in einer grausamen Prozedur all jene Erinnerungen eines Drachen aus, die Ärger bereiteten. Sie hätten auch im Kopf meiner Mutter jedes liebende Andenken an meinen Vater ausgelöscht. Die kleine Blechschatulle mit den Erinnerungen, die ich in meinem Kopf trug, sandte einen scharfen Schmerz aus.
»Auch nachdem ich Linn verdammt hatte, blieben die Zensoren misstrauisch«, fuhr Orma fort. »Sie kennen meine wirklichen Schwächen nicht, aber angesichts meiner Familiengeschichte nehmen sie natürlich an, ich hätte welche. Vor allen Dingen argwöhnen sie, dass mir mehr an dir liegt als zulässig ist.«
»Deshalb haben sie Zeyd auf mich angesetzt«, sagte ich und bemühte mich, keine Bitterkeit aufkommen zu lassen.
Ich sah, wie Orma zusammenzuckte. Er hatte nie eine Spur von Reue gezeigt, weil er mich als kleines Kind in Lebensgefahr gebracht hatte; dieses vage Gefühl des Unbehagens war das Höchste, was ich von ihm erwarten konnte.
»Ich habe nicht vor, ihnen auch nur anzudeuten, worin meine wahren Schwierigkeiten bestehen«, sagte er und gab mir die Münze. »Mach damit, was du für richtig hältst.«
»Ich werde sie Prinz Lucian Kiggs geben, auch wenn ich nicht genau weiß, ob er etwas mit deinem Verdacht anfangen kann. Kannst du mir keinen Rat geben, wie man Imlann in Menschengestalt erkennt?«
»Ich würde ihn sofort erkennen, es sei denn, er hat sich getarnt. Sein Geruch würde ihn verraten«, sagte Orma. »Sein Saarantras war schlank, aber vielleicht hat er sich in den letzten sechzehn Jahren den Bauch vollgestopft. Woher soll ich das wissen? Er hatte blaue Augen, was für einen Saar ungewöhnlich ist, aber nicht für einen Südländer. Und blonde Haare kann man leicht färben.«
»Würde Imlann genauso wenig auffallen wie Linn?«, fragte ich. »Hat er höfische Manieren oder ist er so musikalisch wie seine Kinder? Wohin würde er gehen, um nicht erkannt zu werden?«
»Am wenigsten würde er als Soldat auffallen. Er könnte sich aber auch am Königlichen Hof aufhalten. Andererseits weiß er, dass ich genau das annehmen würde. Deshalb wird er sich irgendwo aufhalten, wo ihn niemand vermutet.«
»Wenn er bei der Begräbnisfeier war und dich gesehen hat, ohne dass du ihn entdeckt hast, dann stand er höchstwahrscheinlich …«
Bei allen Hunden im Himmel. Orma war immer mitten im Trubel gewesen. Ich hatte ihn vom Chorgewölbe aus gesehen, man hätte von jedem anderen Winkel der Kathedrale seine hochgewachsene Gestalt erspähen können.
Orma sah mich scharf an. »Denk ja nicht dran, Imlann auf eigene Faust zu suchen. Er könnte dich töten.«
»Er weiß doch gar nicht, dass es mich gibt.«
»Er muss nichts von dir wissen, um dich zu töten«, erwiderte Orma. »Es reicht schon, wenn er annimmt, dass du ihn abhalten willst, seine Pläne umzusetzen.«
»Verstehe«, sagte ich und lächelte schief. »Besser Prinz Lucian Kiggs gerät ins Visier als ich.«
»Ganz genau!«
Er sagte es so entschieden, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Ein ganz unerwartetes Gefühl schnürte mir die Kehle zu.
Jemand klopfte an die angelehnte Tür. Ich hob die Tür beiseite und rechnete damit, dass einer der Mönche aus der Bibliothek vor mir stünde.
Aber draußen wartete Basind, der missgestaltete Schlupfling; er schnaufte laut durch den Mund und schielte entsetzlich. Ich trat einen Schritt zurück und hielt die Tür wie einen Schild vor mich. Er quetschte sich an mir vorbei, bimmelnd wie ein Allerheiligenkranz, stolperte über einen Stapel Bücher und sah sich ungeniert im Raum um.
Orma sprang auf. »Saar Basind«, fragte er, »was führt dich nach Sankt Ida?«
Basind kramte in seinem Hemd, dann in seinen Hosentaschen, schließlich fand er den zusammengefalteten Brief, der an Orma adressiert war. Orma überflog das Schreiben, dann reichte er es mir. Ich stellte die Tür wieder zurück, nahm den Brief mit zwei Fingern und las:
Orma, du erinnerst dich gewiss an Saar Basind. Wir hier in der Botschaft können ihn nicht brauchen. Anscheinend war der Ardmagar Basinds Mutter einen Gefallen schuldig, weil sie ihren Mann an ihn verriet, der heimlich Schätze gehortet hatte. Sonst hätte Basind wohl nie in den Süden kommen dürfen. Er braucht Nachhilfeunterricht in menschlichem Benehmen. Angesichts deiner Familiengeschichte und deines unauffälligen Verhaltens scheint mir, dass du der beste Lehrer für ihn bist.
Widme ihm so viel Zeit, wie du erübrigen kannst, und denke daran, dass du es dir nicht erlauben kannst, diese Bitte abzuschlagen. Insbesondere solltest du darauf hinwirken, dass er seine Kleider in der Öffentlichkeit anbehält. Es ist in der Tat sehr schlimm um ihn bestellt.
Alles in Ard, Eskar.
Orma zeigte keinerlei Bestürzung, deshalb übernahm ich es an seiner Stelle und seufzte: »Beim Galan des Sankt Daan!«
»Offensichtlich wollen sie ihn aus dem Weg haben, solange sie sich auf die Ankunft des Ardmagar vorbereiten«, sagte Orma gleichmütig. »Das ist vernünftig.«
»Aber was willst du mit ihm anfangen?« Ich dämpfte meine Stimme, für den Fall, dass jemand auf der anderen Seite der Bücherregale lauschte. »Du tust alles, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, aber wie willst du dann erklären, dass du einen Schlupfling am Hals hast?«
»Mir wird schon etwas einfallen.« Er nahm Basind vorsichtig ein Buch aus der Hand und legte es auf eines der oberen Bücherregale. »Zu dieser Jahreszeit könnte ich wegen einer Lungenentzündung zu Hause bleiben müssen.«
Ich wollte nicht in den Palast zurückkehren, ohne ganz sicher zu sein, dass es ihm gut ging, und erst recht wollte ich ihn nicht mit dem Schlupfling alleine lassen, aber Orma blieb eisern. »Du hast eine Menge Dinge zu erledigen«, sagte er und hob die Tür beiseite. »Und du hast eine Verabredung mit Prinz Lucian Kiggs, wenn ich mich recht entsinne.«
»Ich hatte gehofft, du würdest mir Musikunterricht geben«, nörgelte ich.
»Ich kann dir eine Hausaufgabe geben.« Er nahm meine Sorge gar nicht zur Kenntnis, was mich in Rage brachte. »Sieh dir in Sankt Gobnait das neue Megaharmonium an. Es ist gerade fertig geworden, und soweit ich weiß, verfügt es über einige faszinierende akustische Effekte, die in so großem Maßstab bisher noch nie ausprobiert worden sind.«
Er versuchte zu lächeln, um mir zu beweisen, dass es ihm gut ging. Dann stellte er mir die Tür vor die Nase.