Drei

Dreimal schon hatte Orma mir das Leben gerettet.

Als ich acht Jahre alt war, hatte Orma eine Drachenlehrerin für mich angestellt, ein junges Mädchen namens Zeyd. Meinem Vater hatte es missfallen. Er verachtete Drachen, obwohl er der Berater der Krone in allen Angelegenheiten des Vertrags war und sogar schon Saarantrai als Anwalt verteidigt hatte.

Ich staunte über Zeyds Eigenarten: darüber wie knochig sie war, über ihr Glöckchen, das unablässig bimmelte, über ihre Fähigkeit, die schwierigsten Gleichungen im Kopf zu lösen. Von all meinen Lehrern – und ich musste eine ganze Heerschar erdulden – war sie mir die liebste gewesen.

Bis sie mich vom Glockenturm der Kathedrale werfen wollte.

Sie hatte mich unter dem Vorwand, mir Physikunterricht erteilen zu wollen, auf den Turm gelockt. Dann hatte sie mich, ehe ich mich versah, hochgehoben und auf Armeslänge über die Brüstung gehalten. Der Wind heulte in meinen Ohren und ich musste hilflos zusehen, wie einer meiner Schuhe in die Tiefe stürzte, von den Fratzen der Wasserspeier abprallte und dann auf die Pflastersteine des Kathedralenvorplatzes fiel.

»Warum fallen Gegenstände nach unten? Weißt du das?«, fragte sie so freundlich, als erteilte sie mir diesen Unterricht in meinem Kinderzimmer.

Ich war zu erschrocken, um zu antworten. Ich verlor auch meinen anderen Schuh und hatte Mühe, mein Frühstück bei mir zu behalten.

»Es gibt Kräfte, die uns alle beeinflussen, auch wenn man sie nicht sieht. Aber ihre Wirkung kann man voraussagen. Wenn ich dich vom Turm fallen ließe …« – hier schüttelte sie mich, und die Stadt drehte sich unter mir wie ein Strudel, der im Begriff war, mich zu verschlingen – »dann würdest du mit einer Beschleunigung von etwa zehn Metern pro Quadratsekunde fallen. Genauso wie mein Hut es tun würde, genauso wie deine Schuhe es getan haben. Wir alle werden gleichermaßen von unserem Verhängnis angezogen, alle mit der gleichen Kraft.«

Sie meinte die Schwerkraft – wenn es um bildliche Vergleiche geht, sind Drachen nicht sehr geschickt –, aber ihre Worte brachten etwas tief in meinem Inneren zum Klingen. Die verborgenen Faktoren in meinem Leben würden mich unausweichlich zu Fall bringen. Mir kam es vor, als hätte ich dies schon immer gewusst. Und es gab kein Entrinnen.

Orma tauchte wie aus dem Nichts auf und vollbrachte das Unmögliche. Er rettete mich, ohne als mein Retter zu erscheinen. Erst Jahre später verstand ich, dass dies eine Farce gewesen war, die die Zensoren inszeniert hatten, um Ormas Gefühle und seine Zuneigung zu mir auf die Probe zu stellen.

Diese Erfahrung hat in mir eine tief verwurzelte und durch nichts zu kurierende Höhenangst hinterlassen, aber verrückterweise kein Misstrauen gegenüber Drachen.

Dass ein Drache mich gerettet hatte, spielte dabei keine Rolle – denn niemand hatte sich zu diesem Zeitpunkt die Mühe gemacht, mir zu sagen, dass Orma ein Drache war.

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Als ich elf Jahre alt war, kam es zu einem Zerwürfnis zwischen mir und meinem Vater. Ich hatte die Flöte meiner Mutter gefunden, die in einem der oberen Räume des Hauses versteckt gewesen war. Papa hatte meinen Lehrern untersagt, mich in Musik zu unterrichten. Aber er hatte nicht ausdrücklich verboten, dass ich es mir selbst beibrachte. Ich war ganz die Tochter eines Anwalts, ich fand immer irgendwelche Schlupflöcher. Wenn Papa bei der Arbeit und meine Stiefmutter in der Kirche war, spielte ich heimlich und brachte mir ein kleines Repertoire an Volksliedern bei, die ich halbwegs passabel vortragen konnte.

Als Vater in jenem Jahr zum Friedensfest, das am Vorabend des Jahrestags des Friedensschlusses zwischen Drachen und Menschen begangen wurde, eine kleine Gesellschaft plante, versteckte ich die Flöte beim Kamin, um die Gäste mit einem Stegreif-Konzert zu überraschen.

Leider fand Papa die Flöte, erriet, was ich vorhatte, und schleppte mich in mein Zimmer. »Was erlaubst du dir?«, schrie er mich an. Ich hatte seine Augen noch nie so wütend funkeln gesehen.

»Ich werde erzwingen, dass ich Musikstunden nehmen darf«, sagte ich. Meine Stimme klang ruhiger, als ich in Wirklichkeit war. »Wenn alle hören, wie gut ich spiele, werden sie dich bedrängen, es mir nicht länger zu verweigern …«

Er unterbrach mich mit einer raschen Handbewegung und hob die Flöte. Für einen Moment dachte ich, er wolle mich züchtigen. Ich duckte mich, aber der Hieb blieb aus. Als ich es wagte, wieder zu ihm aufzusehen, schlug er die Flöte mit aller Kraft gegen seine Knie.

Mit einem entsetzlichen Krachen zerbrach sie, zersplitterte wie Knochen, zerbarst wie mein Herz. Fassungslos sank ich auf die Knie.

Papa ließ das zerstörte Instrument zu Boden fallen und taumelte einen Schritt zurück. Er sah so elend aus, wie ich mich fühlte. So als wäre die Flöte ein Stück von ihm gewesen. »Du hast es nie verstanden, Serafina«, sagte er. »Ich habe jede Spur von deiner Mutter getilgt. Ich gab ihr einen anderen Namen, eine andere Gestalt, eine andere Vergangenheit, ein anderes Leben. Jetzt können uns nur noch zwei Gefahren drohen: von ihrem unausstehlichen Bruder – aber auf den habe ich ein wachsames Auge – und von ihrer Musik.«

»Sie hatte einen Bruder?«, fragte ich, aber er gab mir keine Antwort. »Wie kann ihre Musik uns schaden? Und wie hieß sie, wenn sie nicht Amaline Ducanahan war?«, wollte ich mit tränenerstickter Stimme wissen. Es gab so weniges, was ich von meiner Mutter besaß, und nun nahm er mir selbst das.

Er schüttelte den Kopf. »Ich schütze uns beide, glaub mir.«

Das Schloss rastete ein, als er die Tür meines Zimmers hinter sich verriegelte. Was völlig unnötig war, ich hätte ohnehin nicht mehr zum Fest zurückkehren können. Mir war übel. Ich drückte meine Stirn gegen die Fußbodenfliesen und ließ die Tränen rollen.

Mitten auf dem Fußboden schlief ich ein, in der Hand die zerbrochene Flöte. Das Erste, was ich dachte, als ich aufwachte, war, dass ich mich am liebsten unter mein Bett verkriechen würde, das zweite, dass es ungewöhnlich still im Haus war, obwohl die Sonne schon hoch am Himmel stand. Ich wusch mir das Gesicht im Waschbecken und das kalte Wasser brachte mich schlagartig zur Besinnung: Gestern war der Abend des Friedensfestes gewesen und alle hatten bis tief in die Nacht gefeiert, genau wie Königin Lavonda und Ardmagar Comonot fünfunddreißig Jahre zuvor, als sie die Zukunft ihrer beiden Völker sicherten.

Das hieß: Ich konnte mein Zimmer nicht verlassen, ehe nicht jemand erwachte und meine Tür aufschloss.

Mein dumpfer Kummer hatte eine ganze Nacht gehabt, um zur Wut heranzureifen, und das machte mich verwegen, verwegener, als ich es jemals zuvor gewesen war. Ich zog mich so warm an wie ich konnte, band mir meine Börse an den Unterarm, öffnete den Fensterflügel und kletterte hinaus.

Unten angekommen überließ ich meinen Füßen die Führung, folgte ihnen durch Alleen, über Brücken und entlang der eisigen Kais. Zu meinem Erstaunen sah ich überall Menschen, geschäftigen Verkehr auf den Straßen und geöffnete Läden. Schlitten glitten bimmelnd an mir vorbei, auf denen Feuerholz oder Heu aufgetürmt war. Diener schleppten Krüge und Körbe von den Geschäften nach Hause, stapften dabei in ihren hölzernen Pantinen achtlos durch den Matsch auf den Straßen; junge Frauen bahnten sich vorsichtig einen Weg um die nassen Schneehaufen. Fleischpasteten und geröstete Kastanien buhlten um die Gunst der Passanten, und ein Glühweinverkäufer versprach becherweise Wärme.

Ich kam an den Sankt-Loola-Platz, wo eine große Menschenmenge rechts und links der leeren Straße zusammengeströmt war. Die Leute schwatzten und schauten erwartungsvoll, drängten sich wegen der Kälte dicht zusammen.

Ein alter Mann neben mir murmelte zu seinem Nachbarn: »Ich kann nicht glauben, dass die Königin dies zulässt. Nach all den Opfern und Kämpfen, die wir auf uns genommen haben!«

»Ich bin überrascht, dass dich überhaupt noch etwas überraschen kann«, sagte sein jüngerer Begleiter und lächelte dabei bitter.

»Bei Sankt Masha, sie wird den Vertragsabschluss noch bereuen, Maurizio.«

»Fünfunddreißig Jahre ist das her und sie hat ihn bisher nicht bereut.«

»Die Königin ist wahnsinnig, wenn sie glaubt, Drachen könnten ihren Blutdurst bezwingen!«

»Entschuldigung«, sagte ich mit piepsiger Stimme, denn ich war es nicht gewohnt, Fremde anzusprechen. Derjenige, der Maurizio hieß, sah mich mit freundlich hochgezogenen Brauen an. »Warten wir auf Drachen?«

Der junge Mann lächelte. Er war auf eine strubbelig-schmuddelige Art recht hübsch. »Genau das tun wir, kleines Fräulein. Es ist die Fünfjahresprozession.« Als ich ihn verdutzt anschaute, erklärte er mir: »Alle fünf Jahre gestattet unsere hochwohlgeborene Königin –«

»Unsere geistesverwirrte Despotin!«, schrie der alte Mann dazwischen.

»Immer mit der Ruhe, Karal. Wie gesagt, unsere hochwohlgeborene Königin erlaubt den Drachen, innerhalb der Stadtmauern ihre natürliche Gestalt anzunehmen und in einer Prozession durch die Straßen zu ziehen, im Andenken an den Friedensschluss. Sie meint, wenn wir sie hin und wieder in ihrer ganzen schwefelumwölkten Monstrosität vor uns sehen, wird uns das die Angst vor ihnen nehmen. Wenn du mich fragst, ich glaube, es bewirkt eher das Gegenteil.«

Halb Lavondaville hatte sich auf dem Platz eingefunden, um sich erschrecken zu lassen. Nur die Alten erinnerten sich an die Zeiten, in denen Drachen ein gewohnter Anblick gewesen waren; als ein Schatten, der sich über die Sonne legte, ausgereicht hatte, dass einem das Entsetzen durch Mark und Bein fuhr. Diese Geschichten kannte jeder – wie ganze Dörfer niederbrannten und man zu Stein erstarrte, wenn man es gewagt hatte, einem Drachen ins Auge zu schauen, und wie mutig die Ritter angesichts dieser entsetzlichen Geschehnisse gewesen waren.

Die Ritter waren in die Verbannung geschickt worden, viele Jahre nachdem der Friedensschluss mit Comonot in Kraft getreten war. Nachdem sie nicht mehr gegen die Drachen kämpfen mussten, hatten sie nämlich begonnen, mit Goredds Nachbarn Streit anzufangen, mit Ninys und Samsam. Zwischen den drei Völkern kam es zu Scharmützeln und Grenzstreitigkeiten, die zwanzig Jahre andauerten, bis die Königin schließlich ein Machtwort sprach. Alle Ritterorden im Südland wurden aufgelöst – sogar die in Ninys und Samsam –, aber es hielten sich Gerüchte, dass die alten Recken nun in verborgenen Berghöhlen lebten oder tiefer im Landesinneren.

Ich blickte den alten Mann namens Karal von der Seite an. Nach allem, was er von Kriegen und Opfern erzählt hatte, fragte ich mich, ob er je gegen Drachen gekämpft hatte. Seinem Alter nach hätte es gut sein können.

Ein atemloses Raunen ging durch die Menge. An der Ecke mit den Geschäftshäusern tauchte ein geschupptes Ungeheuer auf, sein Rücken ragte bis zum zweiten Stock empor, seine Flügel hatte es ordentlich angelegt, damit es nicht die Kamine demolierte. Den geschwungenen Nacken hatte es nach unten gebeugt wie ein Hund, der seine Unterwürfigkeit zeigt, um nicht bedrohlich zu wirken.

Auf mich machte der Drache mit seinen flach angelegten Kopfstacheln tatsächlich einen harmlosen Eindruck, alle anderen schienen diese Geste jedoch falsch zu verstehen; entsetzt klammerten sie sich aneinander, machten das Zeichen Sankt Ogdos und murmelten hinter vorgehaltener Hand. Eine Frau in meiner Nähe fing an hysterisch zu kreischen – »Diese entsetzlichen Zähne!« –, bis ihr Mann sie wegbrachte.

Ich sah ihnen nach, wie sie in der Menge untertauchten. Gerne hätte ich sie beruhigt. Es war ein gutes Zeichen, wenn man die Zähne eines Drachen sah. Ein Drache, dessen Maul geschlossen war, würde viel eher einen Feuerstoß von sich geben. Das war doch sonnenklar.

Aber es gab mir auch zu denken. Alle um mich herum hatten beim Anblick der gebleckten Zähne aufgeschrien. Was mir offensichtlich schien, war ihnen schleierhaft.

Es waren insgesamt zwölf Drachen; Prinzessin Dionne und ihre kleine Tochter Glisselda bildeten mit ihrem Schlitten das Schlusslicht der Prozession. Unter dem weißen Winterhimmel sahen die Drachen irgendwie rostig aus, eine eher unscheinbare Farbe für solche Wunderwesen, aber nach einer Weile fiel mir auf, wie fein die Farbabstufungen waren. Fiel das Sonnenlicht im richtigen Winkel, dann leuchteten die Schuppen in einem gleißenden Grün, mit vielen Nuancen von Purpur bis Gold.

Karal hatte eine Flasche mit heißem Tee dabei, die er sich widerstrebend mit Maurizio teilte. »Sie muss bis zum Abend reichen«, brummte der alte Mann und zog schniefend die Nase hoch. »Wenn wir schon Comonots Frieden feiern, dann sollte man doch meinen, dass dieser Wurm sich die Mühe macht, selbst zu erscheinen. Aber er verabscheut es, in den Süden zu kommen oder menschliche Gestalt anzunehmen.«

»Ich habe gehört, dass er sich vor Euch fürchtet, Sir«, erwiderte Maurizio prompt. »Und das verstehe ich sogar.«

Später konnte ich nicht mehr genau sagen, warum plötzlich die Situation derart kippte. Der alte Ritter – die Anrede »Sir« legte nahe, dass er ein solcher war – begann plötzlich, Beleidigungen zu rufen. »Schlangen! Dampfbläser! Höllenvieh!« Einige lautstarke Zuschauer um uns herum stimmten ihm zu, einige warfen sogar Schneebälle.

Ein Drache in der Mitte der Prozession bekam es mit der Angst zu tun. Vielleicht war ihm die Menschenmenge zu dicht auf den Leib gerückt oder ein Schneeball hatte ihn getroffen. Er hob den Kopf und richtete sich zu voller Größe auf, woraufhin er sogar das dreistöckige Wirtshaus auf dem großen Platz überragte. Die Zuschauer, die ihm am nächsten standen, gerieten in Panik und flohen.

Sie kamen nicht sehr weit. Um sie herum standen Hunderte halb erfrorener Bürger von Goredd. Die Leute drängelten. Sie fingen an zu schreien. Der Lärm war so ohrenbetäubend, dass weitere Drachen aufgeschreckt die Köpfe hoben.

Der Drachen-Anführer stieß einen Schrei aus, einen tierischen Schrei, der den Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Zu meiner Verblüffung verstand ich, was er schrie: Köpfe nach unten!

Ein Drache entfaltete seine Flügel. Die Menge wogte und schäumte wie ein sturmgepeitschtes Meer.

Der Drachenanführer schrie: Wajir, leg sofort wieder die Flügel an! Wenn du losfliegst, verstößt du gegen Abschnitt sieben Artikel fünf, und dann werde ich dich an deinem Schwanz so schnell vor ein Gericht zerren

Für die Menge aber hörte sich die Zurechtweisung des Drachen an wie Angriffsgeschrei. Die Furcht in ihren Herzen gewann die Oberhand: Sie flohen in die Seitenstraßen und trampelten alles nieder.

Die Horde riss mich mit sich. Jemand rammte mir seinen Ellenbogen ins Gesicht, ein anderer trat mir gegen das Knie. Ich stolperte und fiel. Jemand trampelte über mein Bein hinweg, ein anderer auf meine Hand. Dann wurde es dunkel und ich nahm undeutlich wahr, wie das Geschrei leiser wurde.

Plötzlich hatte ich wieder Luft und Raum. Und ich spürte heißen Atem in meinem Nacken.

Ich schlug die Augen auf.

Über mir stand ein Drache, zwischen seinen vier Beinen, die mir wie schützende Säulen vorkamen, hatte ich Zuflucht gefunden. Beinahe wäre ich wieder in Ohnmacht gefallen, aber sein schwefeliger Atem brachte mich wieder zur Besinnung. Er stieß mich mit seiner Nase an und zeigte auf eine Gasse.

Ich werde dich bis dorthin begleiten, schrie er in dem gleichen schrillen Ton wie der andere Drache.

Ich stand auf und hielt mich mit zittriger Hand an seinem Bein fest. Es war rau und knorrig wie ein Baumstamm, aber überraschend warm. Der Schnee unter uns zerschmolz zu Matsch. »Ich danke dir, Saar«, sagte ich.

Hast du verstanden, was ich gesagt habe, oder antwortest du nur aufgrund bloßer Vermutung?

Mir wurde ganz kalt. Ich hatte jedes Wort verstanden. Wie war das möglich? Ich hatte niemals Mootya gelernt. Nur wenige Menschen beherrschten die Sprache der Drachen. Keine Antwort zu geben, schien mir das Klügste, also ging ich schweigend los. Er stapfte hinter mir her und die verbliebenen Leute machten uns hastig den Weg frei.

Die schmale Straße war eine mit Fässern zugestellte Sackgasse, weshalb niemand sich dort hinein gerettet hatte. Trotzdem postierte sich der Drache sicherheitshalber an ihrem Eingang. Inzwischen war auch die Königliche Garde da; die Soldaten marschierten im Gleichschritt über den Platz, mit wehenden Federbuschen und dröhnenden Dudelsäcken. Die meisten Drachen hatten sich im Kreis um den Schlitten von Prinzessin Dionne gestellt und schützten sie vor der entfachten Meute; jetzt überließen sie die Prinzessin dem Schutz der Wachleute. Die verbliebenen Zuschauer jubelten und zumindest vorerst war die Ruhe wiederhergestellt.

Dankbar machte ich einen Knicks vor dem Drachen, in der Annahme, dass er nun wegginge, aber er beugte den Kopf auf meine Augenhöhe und kreischte: Serafina.

Ich starrte ihn an, entsetzt darüber, dass er meinen Namen kannte. Er starrte zurück. Kleine Rauchwölkchen quollen aus seinen Nüstern und seine Augen waren schwarz und fremdartig.

Nein, nicht fremd. Auf eine Art und Weise, die ich nicht erklären konnte, waren sie mir seltsam vertraut. Mein Blick verschwamm, als sähe ich durch einen Wasserschleier.

Gar nichts?, kreischte der Saar. Sie war so felsenfest davon überzeugt, dass sie dir wenigstens eine kleine Erinnerung hinterlassen könnte.

Um mich herum wurde es dunkel, das laute Geschrei wurde zu einem leisen Zischen. Ich fiel mit dem Gesicht nach vorne in den Schnee.

Ich liege im Bett, hochschwanger. Die Bettlaken sind klamm; ich zittere und kämpfe gegen meine Übelkeit. Auf der anderen Seite des Zimmers, von der Sonne beschienen, steht Orma; er starrt zum Fenster hinaus ins Leere. Er hört mir nicht zu. Ich bebe vor Ungeduld, ich habe nicht mehr viel Zeit. »Ich möchte, dass dieses Kind dich kennt«, sage ich.

»Dein Balg interessiert mich nicht«, antwortet er und betrachtet seine Fingernägel. »Und mit deinem jämmerlichen Ehemann will ich auch nichts mehr zu tun haben, wenn du gestorben bist.«

Ich weine, ich kann nicht anders, und gleichzeitig schäme ich mich, dass er sieht, wie meine letzte Selbstbeherrschung schwindet. Er schluckt, verzieht den Mund, als stiege ihm die Galle hoch. In seinen Augen bin ich ein Ungeheuer, das weiß ich nur zu gut. Und dennoch liebe ich ihn. Vielleicht ist dies unsere letzte Gelegenheit, miteinander zu reden. »Ich werde dem Kind Erinnerungen hinterlassen«, sage ich.

Endlich blickt mich Orma an, aber seine dunklen Augen verraten nichts. »Kannst du das?«

Ich weiß es nicht mit letzter Sicherheit, und ich habe kaum noch Kraft, zu sprechen. Ich krümme mich unter meiner Decke, um den stechenden Schmerz in meinem Unterleib zu lindern. »Ich werde meinem Kind eine Gedankenperle schenken.«

Orma kratzt sich an seinem dünnen Hals. »Die Perle wird Erinnerungen an mich enthalten, nehme ich an. Deshalb sagst du mir das. Wie werden diese Erinnerungen freigesetzt?«

»Wenn das Kind dich sieht, wie du wirklich bist«, stoße ich keuchend hervor, weil die Schmerzen stärker werden.

Er schnaubt wie ein Pferd. »Wann könnte das Kind mich wohl in meiner natürlichen Gestalt sehen?«

»Das liegt ganz bei dir. Erst wenn du bereit bist zuzugeben, dass du sein Onkel bist.« Ich hole tief Luft, als ein wilder Krampf mich schüttelt. Es wird kaum Zeit bleiben, die Gedankenperle zu formen, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch in der Lage bin, mich so zu konzentrieren, wie es nötig ist. So ruhig wie möglich sage ich zu Orma: »Hole Claude. Sofort. Bitte.«

Vergib mir, Kind, dass ich diese fürchterlichen Schmerzen in die Erinnerung hineinlege. Es bleibt keine Zeit mehr, sie zu tilgen.

Mein Kopf dröhnte, als ich die Augen wieder aufschlug. Ich lag in Maurizios Armen, kauernd wie ein Neugeborenes. Karal war nur ein paar Schritte entfernt und tanzte eine seltsame Gigue im Schnee. Der alte Ritter hatte irgendwo eine Fahnenstange aufgetrieben und damit den Drachen verjagt, der sich inzwischen auf die andere Seite des Platzes zu seinen Artgenossen gesellt hatte.

Falsch, es war nicht einfach ein Drache. Es war Orma, mein …

Ich wagte es nicht, den Gedanken zuzulassen.

Maurizios besorgtes Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Ich konnte gerade noch sagen: »Zu den Dombeghs, in der Nähe von Sankt Fionnuala«, ehe mir wieder schwarz vor Augen wurde. Ich wachte erst wieder auf, als mich Maurizio in die Arme meines Vaters legte. Papa half mir die Treppe hoch und ich sank auf mein Bett.

Während ich immer wieder das Bewusstsein verlor, hörte ich, wie mein Vater nach jemandem rief. Ich wachte auf und Orma saß auf meiner Bettkante. Er redete mit mir, als wäre ich schon lange wach: »… ein verkapseltes Andenken an deine Mutter. Ich weiß nicht genau, was sie dir von sich mitgegeben hat, sie wollte nur, dass du die Wahrheit über mich und über sie erfährst.«

Er war ein Drache und der Bruder meiner Mutter. Ich hatte bisher noch nicht die Schlussfolgerung gewagt, was das im Hinblick auf meine Mutter bedeutete, aber Orma ließ nun keinen Zweifel mehr. Ich beugte mich über den Bettrand und übergab mich. Er stocherte mit den Fingernägeln zwischen seinen Zähnen und starrte auf das Erbrochene, als könnte er daraus lesen, wie viel ich wusste.

»Ich hatte nicht erwartet, dass du an dem Umzug teilnimmst. Ich wollte nicht, dass du es jetzt erfährst – oder überhaupt jemals. Was das angeht, waren dein Vater und ich uns einig«, sagte er. »Aber ich konnte nicht mit ansehen, wie dich der Mob niedertrampelt. Ich weiß selbst nicht, warum.«

Mehr Erklärungen von ihm hörte ich nicht, denn ich hatte plötzlich eine Vision.

Diesmal war es allerdings keine Erinnerung meiner Mutter. Ich blieb ich selbst, war aber scheinbar körperlos und blickte auf eine blühende Hafenstadt hinab, die sich zwischen die Berge der Küste schmiegte. Ich sah sie nicht nur, ich roch sie auch. Es roch nach Markt, nach Fischen und Gewürzen, und ich spürte die salzige Meeresbrise auf meinem körperlosen Gesicht. Ich schwebte wie eine Lerche am makellos blauen Himmel, kreiste über weißen Kuppeln und Turmspitzen und glitt über die geschäftigen Hafenkais hinweg. Ein prächtiger Tempelgarten mit plätschernden Brunnen und blühenden Zitronenbäumen zog mich an. Dort war etwas, was ich sehen sollte.

Nein, jemand. Ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren hing kopfüber wie eine Fledermaus in einem stacheligen Feigenbaum. Seine Haut war so braun wie ein frisch gepflügtes Feld, seine Haare schimmerten wie eine flauschige braune Wolke und seine Augen waren lebhaft und hell. Er aß eine Orange, einen Schnitz nach dem anderen, und schien rundum zufrieden. Er blickte aufmerksam – und durch mich hindurch, als wäre ich unsichtbar.

Ich fand gerade lange genug wieder zu mir zurück, um Luft zu holen, dann überkamen mich zwei neue Visionen in kurzer Folge. Ich sah einen muskelbepackten Samsamesen aus dem Hochland, der auf dem Dach einer Kirche Dudelsack spielte, dann eine geschäftige alte Frau mit dicker Brille, die einem Koch das Fell gerben wollte, weil er zu viel Koriander in den Auflauf gegeben hatte. Jede neue Vision verschlimmerte meine Kopfschmerzen. In meinem umgestülpten Magen war nichts mehr, was er noch hätte hergeben können.

Die darauf folgende Woche war ich bettlägerig; die Visionen kamen so schnell und mit solcher Wucht, dass ich, wenn ich aufzustehen versuchte, unter ihrer Last zusammenbrach. Ich sah fratzenhafte und verunstaltete Menschen: Männer mit Kehllappen und Klauen, Frauen mit Stummelflügeln und ein großes Tier, das aussah wie eine Schnecke und Schlamm aufwühlte. Bei ihrem Anblick schrie ich, bis ich heiser wurde, schlug auf meinem verschwitzten Bettlaken um mich und jagte meiner Stiefmutter Angst und Schrecken ein.

Mein linker Unterarm und meine Taille juckten und brannten; es bildeten sich nässende, verkrustete Flecken. Ich kratzte wie wild daran, aber das machte es nur noch schlimmer.

Ich bekam Fieber, konnte kein Essen bei mir behalten. Orma blieb während der ganzen Zeit bei mir, aber ich litt unter der Vorstellung, dass sich unter seiner Haut – unter der Haut eines jeden Menschen – lediglich ein Hohlraum befand, ein tintenschwarzes Nichts. Er krempelte meine Ärmel hoch, um sich meinen Arm anzusehen, und ich schrie auf, weil ich glaubte, er würde meine Haut zurückschieben und die Leere darunter sehen.

Am Ende der Woche waren die entzündeten Stellen auf meiner Haut verkrustet, der Schorf löste sich allmählich ab, und blasse, runde Schuppen kamen zum Vorschein. Sie waren so weich wie die Haut einer frisch geschlüpften Schlange und reichten von der Unterseite meines Handgelenks bis zur Ellbogenspitze. Ein noch etwas breiteres Band hatte sich um meine Taille gelegt wie ein Gürtel. Als ich das sah, schluchzte ich, bis ich nicht mehr konnte. Orma saß ganz ruhig neben dem Bett, blickte starr vor sich hin und hing seinen unergründlichen Drachengedanken nach.

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»Was soll ich jetzt nur mit dir machen, Serafina?«, fragte mein Vater. Er saß hinter dem Schreibtisch und blätterte nervös in seinen Schriftstücken. Ich kauerte ihm gegenüber auf einem Schemel. Es war der erste Tag, an dem es mir so gut ging, dass ich mein Zimmer verlassen konnte. Orma hatte sich auf dem geschnitzten Eichenholzstuhl vor dem Fenster niedergelassen, das graue Morgenlicht umstrahlte seinen wirren Haarschopf. Meine Stiefmutter Anne-Marie hatte uns Tee gebracht und war sofort wieder gegangen. Sie musste sich um meine jüngeren Stiefgeschwister Tess, Jeanne, Paul und Ned kümmern, die aufgekratzter waren als ein Sack Flöhe. Ich war die Einzige, die etwas von dem Tee nahm. Aber er wurde kalt in meiner Tasse.

»Was hättest du denn gern mit mir gemacht?«, fragte ich mit einem Anflug von Bitterkeit und fuhr mit dem Daumen den Rand meiner Tasse nach.

Papa zuckte mit den schmalen Schultern und sah mich mit seinen meergrünen Augen gedankenverloren an. »Ich hatte gehofft, dich verheiraten zu können, aber das war, bevor diese grässlichen Male auf deinem Arm zum Vorschein kamen und an deinem …« Er vollendete den Satz nicht, sondern deutete lediglich von oben bis unten auf mich.

Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Ich war angewidert bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele – so ich überhaupt eine hatte. Meine Mutter war ein Drache gewesen, da hat man keine Gewissheiten mehr.

»Ich verstehe jetzt, warum du nicht wolltest, dass ich es weiß«, murmelte ich in meine Teetasse. Meine Stimme war rau vor Scham. »Früher, vor dieser … unerwarteten Veränderung, hätte ich nicht so ohne Weiteres eingesehen, weshalb ich es geheim halten sollte. Ich hätte mich vielleicht einem der Dienstmädchen gegenüber geäußert oder …« Oder wem? Ich hatte nie richtige Freundinnen gehabt. »Glaub mir, ich sehe es jetzt ein.«

»Ach ja?«, erwiderte Papa und sah mich scharf an. »Du kennst den Vertrag und die Gesetze, doch das hätte deine Lippen nicht versiegelt. Erst deine Entstellung macht dich einsichtig?«

»Du selbst hättest an den Vertrag und die Gesetze denken sollen, ehe du sie geheiratet hast«, erwiderte ich.

»Ich habe es nicht gewusst!«, schrie er. Er schüttelte den Kopf und sagte in einem sanfteren Ton: »Sie hat es mir nie gesagt. Sie starb bei deiner Geburt, ihr silbernes Blut ergoss sich über das ganze Bett, und von einem Augenblick auf den nächsten stand mir das Wasser bis zum Hals und ich musste alles alleine meistern, ohne die Frau, die ich mehr als alles andere liebte.«

Er fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Man könnte mich des Landes verweisen oder hinrichten, je nach Laune der Königin, aber letzten Endes liegt es vielleicht gar nicht in ihrer Hand. Nur wenige Fälle von Fraternisierung mit Drachen wurden je vor Gericht gebracht, der Mob hat die Angeklagten gewöhnlich schon vorher in Stücke gerissen oder sie in ihren Häusern bei lebendigem Leibe verbrannt. Manchmal sind sie auch einfach spurlos verschwunden, ehe dergleichen geschah.«

Meine Kehle war so trocken, dass ich kein Wort hervorbrachte. Ich trank einen Schluck von dem kalten Tee. Er schmeckte bitter. »Und w-was ist mit den Kindern passiert?«

»Es ist nirgendwo bezeugt, dass einer von ihnen jemals Kinder hatte«, sagte Papa. »Aber glaub nur nicht, dass die Bürgerschaft nicht genau wüsste, was sie mit dir tun würde, wenn sie es herausfände. Ein Blick in die Heiligen Bücher genügt!«

Orma, der die ganze Zeit über ins Leere gestarrt hatte, sah jetzt zu uns. »Sankt Ogdo hat für diesen Fall einige besondere Anweisungen, wenn ich mich nicht täusche«, sagte er und zupfte an seinem Bart. »Sollte je ein Wurm eure Frauen entehren und ungestalte und absonderliche Kreuzungen hervorbringen, dann duldet nicht, dass solche schrecklichen Erscheinungen am Leben bleiben. Spaltet den Schädel des Kindes mit einer dreimal gesegneten Axt, ehe sein Stirnknochen hart wie Eisen wird. Trennt ihm die schuppigen Glieder vom Körper und verbrennt sie in je einem eigenen Feuer, sonst werden sie des Nächtens zurückkehren, kriechend wie die Würmer, und die rechtschaffenen Menschen töten. Schlitzt dem kleinen Ungeheuer den Bauch auf, pisst auf die Eingeweide und verbrennt sie. Solcherlei Zwitterwesen kommen schon schwanger auf die Welt – wenn ihr deren Bäuche unversehrt begrabt, werden zwanzig neue Ungeheuer aus dem Boden sprießen –«

»Genug davon, Saar«, unterbrach ihn Papa. Er blickte mir prüfend ins Gesicht, seine Augen hatten nun die Farbe sturmgepeitschter See. Ich starrte ihn entsetzt an und presste die Lippen zusammen, um nicht zu weinen.

Lehnte er die Religion ab, weil selbst die Heiligen die Tötung seines Kindes befürworteten? Hassten die Goreddis die Drachen nach fünfunddreißig Jahren Frieden, allein weil der Himmel es so wollte?

Orma hatte meine seelische Not gar nicht bemerkt. »Ich frage mich, ob Ogdo und all jene, die ähnlichen Abscheu hegen – Sankt Vitt, Sankt Munn und viele andere –, jemals mit solcher Zwitterbrut in Berührung gekommen sind. Nicht etwa, weil Serafina irgendeine Ähnlichkeit mit den geschilderten Wesen hätte, nein, einfach nur, weil sie deren Existenz überhaupt in Betracht ziehen. In der Großen Drachenbibliothek in Tanamoot findet sich kein Hinweis auf solche Zwitter, was an sich schon bemerkenswert ist. Man könnte doch meinen, dass in all diesen Jahren irgendjemand es mal gezielt ausprobiert hätte.«

»Nein«, erwiderte Papa, »das glaube ich nicht. Nur ein Drache ohne Sitte und Anstand würde auf so eine Idee kommen.«

»Genau«, sagte Orma, nicht im Geringsten beleidigt. »Ein Drache ohne Sitte und Anstand würde auf diese Idee kommen und sie in die Tat umsetzen wollen –«

»Wie denn, etwa mit Gewalt?« Papas Mund zuckte, als hätte er schon bei dem bloßen Gedanken Galle im Mund.

Orma achtete nicht auf seinen Einwand, sondern beendete seinen Gedankengang. »Und danach würde er die Ergebnisse des Versuchs aufzeichnen. Aber vielleicht besitzt unsere Art gar nicht so wenig Anstand, wie man hier im Süden für gewöhnlich glaubt.«

Ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Mir war schwindelig und ich fühlte mich wie ausgehöhlt. Ein kalter Luftzug, der unter der Tür durchwehte, ließ mich schwanken. Alles war mir genommen worden: meine Menschenmutter, mein eigenes Menschsein, und alle Hoffnung, meines Vaters Haus je verlassen zu können.

Ich sah die entsetzliche Leere hinter allen Dingen; sie drohte, mich zu verschlingen.

Sogar Orma fiel meine Verwirrung auf. Erstaunt legte er den Kopf schief. »Überlass mir ihre Erziehung, Claude«, sagte er und lehnte sich zurück. Er wischte mit den Fingerspitzen das Wasser weg, das sich an den Bleiglasscheiben des kleinen Fensters gesammelt hatte.

»Dir?«, höhnte mein Vater. »Und was willst du mit ihr machen? Sie übersteht keine zwei Stunden, ohne dass diese höllischen Visionen sie heimsuchen.«

»Dagegen könnten wir etwas unternehmen. Wir Saar haben gelernt, widerspenstige Gedanken zu zähmen.« Orma tippte sich an die Stirn, dann noch einmal, als faszinierte ihn dieses Gefühl.

Weshalb war mir nie aufgefallen, wie sonderbar er eigentlich war?

»Du würdest sie nur in Musik unterrichten«, sagte mein Vater, und seine glockenhelle Stimme klang eine Oktave zu hoch. So deutlich, als ob seine Haut gläsern wäre, sah ich in seinem Gesicht, wie er mit sich kämpfte. Er hatte mich nicht nur um meiner selbst willen beschützt, sondern gleichzeitig auch immer sein eigenes gebrochenes Herz schützen wollen.

»Papa, bitte.« Ich streckte ihm meine geöffneten Hände entgegen, wie jemand, der vor einem Heiligen betet. »Ich habe doch sonst nichts.«

Mein Vater sank auf seinem Stuhl zusammen und blinzelte seine Tränen weg. »Aber so, dass ich dich nicht höre.«

Zwei Tage später wurde ein Spinett in unser Haus gebracht. Mein Vater hatte es in einen Abstellraum in der hintersten Ecke unseres Hauses, weit weg von seinem Arbeitszimmer, aufstellen lassen. Für einen Stuhl war kein Platz mehr, ich musste mich auf eine Truhe setzen. Orma hatte auch ein Buch mit Musikstücken mitgeschickt, die Fantasien darin stammten von einem Komponisten namens Viridius. Ich hatte zuvor noch nie Noten gelesen, aber sie waren mir sofort vertraut, so wie mir die Sprache der Drachen vertraut gewesen war. Ich harrte Stunde um Stunde in der Kammer aus, bis es draußen bereits dunkelte, und las die Stücke wie ein Buch.

Ich wusste nichts von Spinetten, daher öffnete ich auf gut Glück einfach den Deckel. Auf seiner Innenseite war eine bäuerliche Idylle gemalt: Katzen vergnügten sich auf einem Hof, dahinter machten Bauern Heu. Eines der Kätzchen, das besonders rauflustig nach einem blauen Wollknäuel sprang, hatte ein seltsames glasklares Auge. Ich kniff die Augen zusammen, starrte im Halbdunkel auf das Kätzchen, dann tippte ich mit dem Finger darauf.

»Ah, da bist du ja«, krächzte eine tiefe Stimme. Sie kam, völlig unpassend, aus dem Schnäuzchen des frechen Kätzchens.

»Orma?« Wie konnte er mit mir sprechen? War das Drachenwerk?

»Wenn du bereit bist«, sagte er, »dann lass uns beginnen. Es gibt viel zu tun.«

Und so rettete er mir zum dritten Mal das Leben.