Fünf

Wie immer war ich erleichtert, als ich mich abends in meine Unterkunft zurückziehen konnte. Ich musste üben, dann war da noch dieses Buch über Sinuslieder aus Ziziba, das ich unbedingt lesen wollte, und natürlich hatte ich eine Menge Fragen an meinen Onkel. Ich setzte mich sogleich ans Spinett und spielte einen besonders dissonanten Akkord, das Zeichen, das ich mit Orma vereinbart hatte, wenn ich mit ihm sprechen musste.

»Guten Abend, Fina«, dröhnte die Bassstimme des Kätzchens.

»Der Fledermausjunge ist im Garten umhergestreift. Ich habe Sorge, dass –«

»Moment mal«, unterbrach mich Orma. »Gestern hast du es mir übel genommen, dass ich dich nicht gegrüßt habe, und heute fällst du selbst Hals über Kopf mit der Tür ins Haus. Ich finde, du solltest dich bedanken, dass ich Guten Abend gesagt habe.«

Ich lachte. »Danke. Aber hör zu: Ich habe ein Problem.«

»Das scheint mir auch so«, sagte er. »In fünf Minuten kommt mein nächster Schüler. Lässt sich dein Problem in fünf Minuten lösen?«

»Das bezweifle ich.« Ich überlegte. »Darf ich zu dir ins Konservatorium kommen? Es ist ohnehin nicht gut, die Sache am Spinett zu besprechen.«

»Ganz wie du möchtest«, sagte er. »Aber gib mir mindestens eine Stunde Zeit. Dieser spezielle Schüler ist besonders unfähig.«

Als ich meine Sachen anzog, fielen mir die Flecken auf meinem Umhang auf. Basinds Drachenblut war längst eingetrocknet, aber es glänzte immer noch silbern. Ich schüttelte den Umhang aus, ein Regen feinen Silberstaubs rieselte zu Boden. Ich klopfte so viel von dem Blutfleck ab wie möglich und kippte den silbernen Abfall in den Kamin.

Ich nahm die Königsallee, die sich in weiten, majestätischen Kurven den Hügel hinunterwand. Auf der Straße war es finster und still, nur die schmale Mondsichel spendete Licht, dazu die erleuchteten Fenster und hin und wieder eine vorzeitig angezündete Spekulus-Laterne. Unten am Fluss roch es nach Rauch, Essen mit Knoblauch und dann auch sehr streng nach einem Plumpsklo im Hinterhof. Oder waren es Innereien, die von einer nahe gelegenen Metzgerei stammten?

Plötzlich trat aus dem Schatten eine Gestalt vor mir auf die Straße. Ich blieb wie angewurzelt stehen, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Die Gestalt kam auf mich zugewatschelt und der eklige Geruch wurde stärker. Der Gestank brachte mich zum Husten. Ich griff nach dem kleinen Messer, das ich in meinem Mantelsaum verborgen hatte.

Die Kreatur streckte mir die linke Hand hin, wie um mich anzuflehen. Dann hob sie eine zweite Hand und zischte: Zsslu-zsslu-zssluuu? Um den schnabelartigen Mund züngelte eine blaue Flamme und erhellte einen Moment lang die Gesichtszüge: glatte, schuppige Haut, ein stacheliger Scheitel wie bei einem Ziziba-Leguan, hervorstehende Augen, die sich unabhängig voneinander bewegten.

Ich atmete auf. Zum Glück war es nur ein bettelnder Quigutl.

Die Quigutl waren eine andere Drachenart, viel kleiner als die Saar. Dieser hier war etwa so groß wie ich, was für einen Quig ziemlich groß war. Die Spezies war nicht in der Lage, eine andere Gestalt anzunehmen. Quigs lebten zusammen mit den Saar in den Bergen, sie hausten in den Felsspalten und Klüften der großen Drachenhöhlen, ernährten sich von Abfall, und mit ihren vier Händen fertigten sie komplizierte, winzig kleine Dinge wie zum Beispiel die Ohrringe, die alle Saarantrai trugen. Aus Höflichkeit hatte man die Quigs in den Vertrag von Comonot mit aufgenommen; niemand hatte vorausgesehen, dass so viele von ihnen in den Süden kommen oder dass sie die Winkel und Mauerrisse – und den Müll – in der Stadt so reizvoll finden würden.

Quigs sprachen kein Goreddi, sie hatten keine Lippen und ihre Zunge war wie ein ausgehöhltes Schilfrohr. Ich hingegen verstand Quigutl, es war nichts anderes als Mootya, nur mit einem ausgeprägten Lispeln. Das Wesen hatte zu mir gesagt: »Riechssst du etwa nach Geld, Maidken

»Du solltest nicht betteln, wenn es dunkel ist«, schimpfte ich. »Was hast du überhaupt außerhalb von Quighole zu suchen? Hier auf den Straßen bist du nicht sicher. Einer deiner Saar-Brüder wurde gestern angegriffen, am helllichten Tag.«

»Ja, ich hab allesss von der Dachrinne am Lagerhausss gesssehen.« Er streckte seine röhrenförmige Zunge zwischen den Zähnen hervor und die Funken regneten auf seinen fleckigen Bauch. »Du riechssst gut, aber du bissst kein Sssaar. Ich bin überraschhht, dassss du mich verstehssst

»Ich bin sehr sprachbegabt«, erwiderte ich. Von Orma wusste ich, dass meine Schuppen nach Saar rochen, wenn auch nicht sehr stark. Er behauptete, ein Saarantras müsse ganz dicht an mich heran, um es zu riechen. Hatten die Quigutl womöglich empfindlichere Nasen?

Der Quig kroch näher und beschnüffelte den getrockneten Blutfleck an meiner Schulter.

Der Atem des Quig stank so ekelerregend, dass ich nicht verstand, wie er überhaupt etwas Feineres riechen konnte. Mir war es noch nie gelungen, Saar zu riechen, nicht einmal bei Orma. Als der Quig wieder einen Schritt zurücktrat, schnüffelte ich selbst an dem Blutfleck. Ich spürte in meiner Nase, dass da etwas war, auch wenn ich den Fleck mehr fühlte als roch – aber sonst bemerkte ich nichts.

Plötzlich schoss ein scharfer Schmerz durch meinen Kopf, so als hätte jemand Dornen in meine Nebenhöhlen gerammt.

»Du hassst sswei Sssaar-Gerüche«, sagte der Quig. »Und du hassst eine kleine Geldbörssse mit fünf Sssilber- und acht Kupfermünsssen, und ein Messer – schhhlechter Ssstahl und sssiemlich ssstumpf.« Auch kleine Drachen nahmen es mit allem ganz genau.

»Du riechst, wie scharf mein Messer ist?«, fragte ich und drückte meine Handflächen an die Schläfen, als könnte ich so die Schmerzen zerquetschen. Aber es half nicht.

»Ich könnte riechen, wie viele Haare du auf dem Kopf hassst, wenn ich wollte – was ich aber nicht tue

»Wie nett, aber ich kann dir trotzdem keine Münze geben. Ich tausche Metall nur gegen Metall ein«, sagte ich. Das war genau die Antwort, die Orma dem Quigutl-Bettler gegeben hätte. Ein Goreddi nicht, und ich hätte es auch nicht getan, wenn andere Leute in Hörweite gewesen wären, aber auf diese Weise hatte Orma schon so manches ungewöhnliche Schmuckstück für mich erworben. Die ziemlich ausgefallene Sammlung verbarg ich in einem kleinen Korb. Es war nichts Verbotenes, nur Spielzeug, aber so ein »Teufelszeug« hätte den Dienstmädchen im Schloss womöglich Angst eingejagt.

Der Quigutl blinzelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Diese Geschöpfe machten sich im Grunde nur wenig aus Geld, sie wollten Metall, mit dem sie etwas herstellen konnten, und wir Menschen trugen es in handlichen, vorgefertigten Scheibchen mit uns herum.

Hinter dem Quigutl, etwa eine halbe Häuserzeile entfernt, wurden lautstark Stalltüren zur Straße hin geöffnet. Ein Junge kam heraus; er trug zwei Laternen, die er rechts und links am Tor aufhängte. Er wartete auf Reiter, die nach Hause zurückkehrten. Der Quig spähte über die Schulter, aber der Junge blickte in die andere Richtung.

Die stacheligen Umrisse des Quigutl hoben sich vor dem Lichtschein ab, seine Augen quollen hervor und zogen sich wieder zurück, als er darüber nachdachte, was er eintauschen könnte. Dann griff er in seinen Schlund, zwischen seine geräumigen Kehllappen, und zog zwei Gegenstände hervor. »Ich habe nur Kleinichchchkeiten dabei: eine Kupfermünzsse und einen kleinen zssissselierten Sssilberfischhh« – der Fisch baumelte zwischen den beiden Daumen seiner rechten Hand – »und dasss hier, esss isst auss Zssinn, eine Echssse mit Menschhhenkopf.«

Ich bemühte mich, im schwachen Licht der Gasse etwas zu erkennen. Die Echse mit Menschengesicht sah fürchterlich aus, aber plötzlich wollte ich das Ding unbedingt besitzen, so als wäre es eine der verlassenen Grotesken, die einen Platz zum Leben suchten.

»Ich würde esss gegen zsswei Sssilberssstücke taussschen«, sagte der Quig, der sofort begriffen hatte, welches seiner Besitztümer mein Interesse erregte. »Dasss schhheint viel für ssso ein Metall, aber esss ist handwerklichh sssehr gut gemacht

Von der Straße her ertönte Hufgetrappel. Ich blickte hoch, besorgt, dass man uns gesehen haben könnte. Quigs waren in dieser Stadt schon verprügelt worden, nur weil sie Menschenfrauen belästigt hatten. Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was man mit einem Mädchen anstellte, das freundlich zu den Quigs war. Die Reiter kamen näher und hielten vor dem Stall an, ohne auch nur einmal in unsere Richtung zu schauen. Ihre Sporen klimperten, als sie auf die gepflasterte Straße sprangen. Im Gürtel hatte jeder von ihnen einen Dolch stecken; die Klingen blitzten im Schein der Laternen.

Plötzlich hatte ich es eilig, den Quig nach Hause zu schicken und hier wegzukommen. Ich hatte angenommen, der Geruch von Saarblut habe meine plötzlichen Kopfschmerzen verursacht, aber der Schmerz wollte einfach nicht vergehen. Kopfschmerzen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen verhieß nichts Gutes.

Ich zog meine Geldbörse aus dem Ärmel. »Ich kaufe es dir ab, aber nur, wenn du mir versicherst, dass handwerklich gut gemacht nicht gleichbedeutend mit verboten ist.« Manche dieser Handwerksstücke – vor allem jene, mit denen man über große Entfernungen sehen, hören oder sprechen konnte – durften ausschließlich Saarantrai besitzen. Anderes, wie zum Beispiel ein Türwurm oder auch Sprengstoff, waren grundsätzlich verboten.

Der Quig tat entsetzt. »Nichtsss Verbotenesss. Ich bin ein gesssetsssessstreuer –«

»Außer, dass du bei Dunkelheit nicht in Quighole bist«, tadelte ich ihn und gab ihm die Silberstücke. Das Echsenfigürchen verstaute ich in meiner Börse und zog die Lederschnüre zu.

Als ich aufblickte, war der Quigutl sang- und klanglos verschwunden. Die zwei Reiter eilten mit gezogenen Dolchen auf mich zu. »Beim Galan des Sankt Daan!«, schrie einer von ihnen. »Dieser schmierige Dreckfresser ist gerade an der Hauswand hochgekrabbelt!«

»Ist alles in Ordnung mit dir, Maidken?«, fragte der kleinere von beiden und packte mich am Oberarm. Sein Atem roch nach Taverne.

»Danke, dass ihr ihn verjagt habt«, sagte ich und befreite mich aus seinem Griff. Mein Kopf dröhnte. »Er hat gebettelt. Ihr wisst ja, wie hartnäckig sie manchmal sind.«

Der Kleine bemerkte, dass ich meine Geldbörse noch in der Hand hielt. »Oh, so ein Mist, du hast ihm doch nicht etwa Geld gegeben? Das spornt dieses Ungeziefer nur noch mehr an.«

»Bettelndes Gewürm!«, schnaubte der größere von beiden und suchte weiter mit gezücktem Dolch die Hauswand ab. Er sah aus, als sei er der Bruder des Kleinen, beide hatten die gleiche Knollennase. Ich hielt sie für Kaufleute, ihre gut geschneiderten, robusten Wollsachen zeugten von Geld und praktischem Sinn.

Der Große spuckte aus. »Man kann heutzutage keinen Schritt tun, ohne über einen von ihnen zu stolpern.«

»Man kann nicht einmal in den eigenen Keller hinuntersteigen, ohne dass man auf einen von denen im Zwiebelfass stößt«, sagte der Kleine und fuchtelte theatralisch mit den Armen. »Unsere Schwester Luisa hat mal einen unter der Esstischplatte aufgespürt. Er ergoss seinen Pesthauch über ihren Spekulus-Braten, und ihr kleines Kind bekam davon die Fallsucht. Aber darf sich ein Ehemann in seinem eigenen Haus vor diesen Eindringlingen schützen? Nein, nicht ohne im Gefängnis zu landen!«

Ich hatte von dem Vorfall gehört. Mein Vater hatte den Quigutl verteidigt, und trotzdem wurden seither nachts die Tore von Quighole verschlossen und alle nichtmenschlichen Einwohner eingesperrt – zu ihrer eigenen Sicherheit, versteht sich. Die rechtskundigen Saarantrai-Gelehrten am Sankt-Bert-Kollegium hatten zwar protestiert und mein Vater vertrat auch sie vor Gericht, aber es nützte nichts. Quighole wurde danach zu einem noch schlimmeren Loch als zuvor.

Ich hätte diesen beiden Brüdern gerne erklärt, dass der Quigutl mir nichts Böses tun wollte und diese Kreaturen nicht fähig waren, den Unterschied zwischen mein und dein zu begreifen und sich daher auch nicht an Eigentumsgrenzen hielten, dass Schweine nicht minder übel rochen und ihnen trotzdem niemand böse Absichten unterstellte oder ihnen vorwarf, Krankheiten zu übertragen. Aber die zwei Männer hätten es mir nicht gedankt, daher schwieg ich lieber.

Die Brüder fingen plötzlich an zu glühen, es war ein Leuchten unter ihrer Haut, so als wären ihre Eingeweide aus geschmolzenem Blei und als würden sie jeden Moment zu brennen anfangen.

Oh nein. Was sie umgab, war der Lichtkreis, die Aura am Rande meines Gesichtsfeldes, die immer erschien, ehe ich eine Vision bekam. Jetzt konnte ich nichts mehr dagegen tun. Ich setzte mich auf die Straße und barg meinen Kopf zwischen den Knien, damit ich mich nicht verletzte, falls ich fiel.

»Ist dir nicht wohl?«, fragte der Kleine. Seine Stimme erreichte mich in Wellen, so als würde er unter Wasser mit mir reden.

»Achtet darauf, dass ich mir nicht auf die Zunge beiße«, konnte ich gerade noch sagen, ehe mich die Kräfte verließen und mein Bewusstsein von den Strudeln der Vision mitgerissen wurde.

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Mein Blick, durch den ich die Visionen erlebte, fiel von oben in einen Raum, in dem drei ausladende Betten standen und sich Berge von Gepäck türmten. Grüne, goldene und rosafarbene Seidenschals waren in einer Ecke aufgehäuft, dazwischen schimmernde Perlenketten, Fächer aus Federn und Schnüre mit abgegriffenen Münzen. Es war ganz eindeutig eine Schänke. In jedem der drei Betten hätten sechs Leute schlafen können.

Aber jetzt befand sich nur einer in dem Zimmer. Ich kannte ihn, obwohl er in den Jahren, die seit meiner letzten Vision von ihm vergangen waren, größer geworden war, und diesmal saß er auch nicht auf einem Baum.

Eine porphyrische Frau steckte den Kopf zur Tür herein. Verfilzte fingerdicke Zöpfe, deren Fransen mit einer silbernen Perle geschmückt waren, umrahmten ihr Gesicht. Sie sprach Flederchen, der mit untergeschlagenen Beinen auf dem mittleren Bett saß und zur Decke starrte, in Porphyrisch an. Er schreckte hoch, weil er so unvermittelt aus seinen Gedanken gerissen wurde. Sie zog entschuldigend die Augenbrauen hoch und machte Handbewegungen wie jemand, der etwas isst. Er schüttelte nur den Kopf und sie schloss lautlos die Tür hinter sich.

Flederchen stand auf und seine Füße versanken in der klumpigen Strohmatratze. Er trug Hosen, wie sie in Porphyrien Sitte waren, dazu eine knielange Tunika. Um seinen Hals hing an einer Schnur ein Paedis-Amulett, außerdem trug er kleine silberne Ohrringe. Er fuhr langsam mit den Händen durch die Luft, so als wollte er Spinnweben über seinem Kopf entfernen. Der Strohsack federte nicht besonders gut, aber Flederchen sprang so hoch er konnte, und beim dritten Versuch berührte er die Zimmerdecke.

Noch nie zuvor in meinen Visionen hatte jemand meine Anwesenheit bemerkt. Wie denn auch? Ich war ja nicht wirklich da. Er hätte mein Gesicht gar nicht berühren können, denn es war kein Gesicht da, trotzdem versuchte ich unwillkürlich, seiner tastenden Hand auszuweichen.

Er runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. Seine Haare waren kunstvoll zu kleinen Knoten gedreht, zwischen denen saubere kleine Sechsecke entstanden waren. Er setzte sich wieder und starrte, die Augenbrauen wachsam zusammengezogen, an die Decke. Wenn es nicht schlichtweg unmöglich gewesen wäre, hätte ich schwören können, dass er mich direkt ansah.

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Als ich zu mir kam, hatte ich einen nach Salz schmeckenden Lederhandschuh zwischen den Zähnen. Ich schlug die Augen auf und erblickte eine Frau, die meinen Kopf und Oberkörper auf den Knien wiegte. In der Hand hielt sie Gebetsperlen, die sie flink mit dem Daumen hin und her schob. Ihre Lippen bewegten sich schnell und ohne Pause. Ich verstand ihre Worte nicht sofort, doch dann hörte ich, wie sie sagte: »Sankt Fustian und Sankt Branche, bittet für sie. Sankt Ninnian und Sankt Nunn, steht ihr bei. Sankt Abaster und Sankt Vitt, beschützt sie …«

Mit einem Ruck setzte ich mich aufrecht hin und nahm den Handschuh aus dem Mund. Die Frau erschrak. »Verzeihung«, krächzte ich, ehe mein Mageninhalt auf den Pflastersteinen landete.

Die Frau hielt meine Stirn und gab mir ein blütenweißes Taschentuch, damit ich mir den Mund abwischen konnte. Sie rief: »Brüder! Sie ist wieder zu sich gekommen!«

Ihre Brüder, der Kleine und der Große, kamen aus dem Stall und führten ein Gespann mit einem Wagen heraus, auf dessen Seite mit schwarzer Farbe die Aufschrift »Gebrüder Broadwick – Tuchhändler« geschrieben stand. Die drei wickelten mich in eine hübsche Wolldecke und legten mich auf den Wagen.

Die Frau, bei der es sich vermutlich um die Schwester handelte, von der der Kleine gesprochen hatte, schwang ihren matronenhaften Leib neben mich und fragte: »Wohin sollen wir dich bringen, Kindchen?«

»Ins Schloss Orison«, bat ich. Bis zu Orma würde ich es heute Abend nicht schaffen.

Viel zu spät fiel mir ein, noch rasch ein höfliches »Bitte« hinzuzufügen.

Sie lachte freundlich und sagte es ihren Brüdern weiter, die mich garantiert gehört hatten. Der Wagen schwankte und schaukelte. Sie fasste meinen Arm und fragte mich, ob mir kalt sei. Ich verneinte. Den Rest des Weges gab sie mir gute Ratschläge, wie ich die Flecken auf meiner Kleidung entfernen könne, die ich mir auf der schmutzigen Straße zugezogen hatte.

Es dauerte fast die ganze Fahrt, bis sich mein Pulsschlag beruhigt hatte und meine Zähne nicht mehr klapperten. Ich konnte mein Glück kaum fassen, dass ich vor Menschen zusammengebrochen war, die mir halfen. Ebenso gut könnte ich jetzt ausgeplündert und halb tot auf der Straße liegen.

Louisa schnatterte immer noch, aber nicht mehr über Flecken. »… diese entsetzliche Kreatur! Du Arme. Bestimmt hast du dich halb zu Tode geängstigt. Silas und Thomas sind am Überlegen, wie man diese grünen Teufel vergiften könnte. Vielleicht etwas, das man im Müll versteckt, damit sie es nicht merken. Aber es ist nicht einfach. Denn sie vertragen fast alles, nicht wahr, Silas?«

»Von Milch werden sie krank«, sagte der kleinere der beiden Brüder, der die Zügel in der Hand hielt. »Aber sie sterben nicht davon. Käse vertragen sie gut, also muss es an der Molke liegen. Wenn wir die Molke verdicken …«

»Das werden sie nicht anrühren.« Weil ich mich so heftig übergeben hatte, war meine Stimme noch heiser. »Sie haben feine Nasen und würden es sofort bemerken.«

»Deshalb verstecken wir es ja auch im Abfall«, sagte er, als wäre ich schwer von Begriff.

Ich hielt meinen Mund. Jemand, der riechen konnte, wie scharf mein Messer war, würde Molke selbst dann noch riechen, wenn man sie mitten in einen Misthaufen kippte. Aber sollten sie es ruhig versuchen. Sie würden damit auf die Nase fallen und das wäre das Beste für alle.

Am Torhaus hielt die Palastwache den Wagen an. Louisa half mir abzusteigen. »Was hast du im Palast zu schaffen?«, fragte sie neugierig. Auch wenn ich offensichtlich nicht von edler Abkunft war, so umgab doch sogar die Bediensteten bei Hof ein wenig Glanz.

»Ich bin die Musikmamsell des Hofkomponisten«, sagte ich und knickste leicht. Ich war immer noch wackelig auf den Beinen.

»Maid Dombegh? Hast du nicht beim Begräbnis gespielt?«, rief Silas. »Thomas und ich waren zu Tränen gerührt!«

Ich verbeugte mich höflich. Bei der Bewegung spürte ich, wie ein Riss durch meinen Kopf ging, so als wäre eine Saite gesprungen, und hinter meinen Schläfen fing es an zu pochen. Die Aufregungen des Abends waren anscheinend immer noch nicht vorüber.

Ich wandte mich um und wollte zum Schloss gehen, aber eine kräftige Hand hielt mich zurück. Es war Thomas. Hinter ihm redeten Silas und Louisa auf die Wachen ein und baten sie, die Gebrüder Broadwick als Lieferanten für strapazierfähige Wollstoffe vor der Königin zu erwähnen. Thomas nahm mich beiseite und raunte mir ins Ohr: »Silas hat mich bei dir zurückgelassen, als er Louisa holte. Ich habe den Quig-Talisman in deiner Börse gesehen.«

Ich lief rot an und schämte mich gegen meinen Willen. So als wäre ich die Schuldige und nicht derjenige, der die Sachen einer Frau durchwühlte, während sie ohnmächtig am Boden lag.

Seine Finger bohrten sich in meinen Arm. »Ich kenne Frauen wie dich – in Gewürm vernarrte Weiber. Du hättest sehr leicht eins über den Schädel bekommen können, während du ohnmächtig warst.«

Ich konnte schlichtweg nicht fassen, was er soeben gesagt hatte. Hatte ich ihn richtig verstanden? Ich sah ihn an. Sein Blick war eiskalt.

»Frauen wie du verschwinden einfach in dieser Stadt«, knurrte er wütend. »Sie werden in einen Sack gesteckt und in den Fluss geworfen. Niemand ruft hier nach dem Richter. Denn sie bekommen, was sie verdienen. Aber mein Schwager darf keinen dreckigen Quig in seinem Haus töten, ohne dass –«

»Thomas! Wir gehen«, rief Louisa hinter uns.

»Sankt Ogdo mahnt dich zur Reue, Maid Dombegh.« Er ließ mich unsanft los. »Bete um Gnade und darum, dass wir uns nicht noch einmal begegnen.« Ohne ein weiteres Wort kehrte er zu seinen Geschwistern zurück.

Ich war wie benommen und konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten.

Trotz ihrer Vorurteile hatte ich die drei Geschwister für freundliche Menschen gehalten, aber Thomas hätte am liebsten meinen Kopf gegen die Pflastersteine geschlagen, nur weil ich ein Quigutl-Figürchen bei mir trug.

Hatte die kleine Statuette womöglich eine tiefere Bedeutung? War meine Wahl nichts ahnend auf ein Figürchen gefallen, das mit etwas besonders Verabscheuungswürdigem in Verbindung stand? Vielleicht konnte mir Orma darüber Aufschluss geben.

Ich taumelte durch das Torhaus und betrat mit zitternden Knien den Palast. Ich muss einen jammervollen Anblick geboten haben, denn die Wachen fragten, ob ich Hilfe bräuchte, aber ich winkte ab. Ich dankte jedem Heiligen, der mir einfiel, und betete, dass das Leuchten auf den Türmen der Burg vom Licht der Fackeln und vom Schein des Mondes herrühren möge und mir nicht womöglich ein weiterer Anfall drohte.

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