27

Aufruhr

Stimmen. Ein Flüstern weckte mich. So durstig. Die Sonne brannte auf meinen Körper herab. Schmerz. Pochender Schmerz. Eine kühle Hand streichelte meine Stirn, und ich wünschte, wer auch immer es sein mochte, würde mir Wasser geben. Ich hörte die verzweifelten Worte: »Du bist nicht der Einzige, der sie liebt«, aber ich konnte nicht sagen, wer sie gesprochen hatte. Meine aufgesprungenen Lippen öffneten sich, und eine Tasse wurde dagegengedrückt. Eine kalte, eiskalte Flüssigkeit tröpfelte in meinen Mund. Sie war köstlich und schien sich wie ein kühler Balsam auf meine Gliedmaßen zu legen. Nicht genug. Mehr. Ich brauche mehr.

Der Becher wurde wieder an meine Lippen geführt. Lediglich Tropfen, nur ein winziger Teelöffel voll der beruhigenden Flüssigkeit war mir vergönnt. Ich leckte die letzten Tropfen von meinen Lippen, und mein Kopf rollte zurück gegen einen warmen Körper. Ich schlief ein.

Ich erwachte durstig, doch die Hitze war verschwunden, und eine kühle Brise umwehte meine fiebrige Haut. Ich öffnete den Mund, um nach Wasser zu bitten, doch meiner Kehle entrang sich nichts weiter als ein leises Wimmern.

»Sie ist wach. Kelsey?«

Ich hörte Kishan, aber ich konnte weder die Augen öffnen noch mich bewegen.

»Kelsey? Alles wird gut. Du heilst bereits.«

Ich heile? Wie ist das möglich? Der Hai hatte mir die Wade zerbissen. Der untere Teil meines Beins hing nur noch an wenigen Sehnen. Eigentlich hatte ich nicht hinsehen wollen, nachdem ich aufs Boot gezogen worden war, aber ich hatte einfach nicht nicht schauen können.

»Gib ihr mehr Wasser«, schlug Ren vor.

Ren? Er war am Leben. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, den Haien in ihrem Blutrausch zu entkommen.

»Brauchst du auch etwas?«

»Sie zuerst. Ich werd’s schon überleben.«

Er wird überleben? Was ist ihm zugestoßen? Anstelle von Antworten produzierte mein Körper ein jammerndes Stöhnen.

Ich spürte eine sanfte Berührung an meinem Hals und hörte Kishan sagen: »Perlenkette, wir brauchen Trinkwasser.«

Zärtlich hob Kishan meinen Oberkörper an, sodass mein Kopf an seiner Brust ruhte. Ich blinzelte benommen, konnte jedoch erst wieder scharf sehen, als mir ein Becher an die Lippen gedrückt wurde. Kishan hielt ihn für mich, während ich dankbar schluckte. »Es ist gut, dass wir die Halskette haben. Die Goldene Frucht kann kein Wasser herstellen.«

Als die Tasse leer war, flüsterte ich krächzend: »Mehr.«

Er füllte den Becher noch viermal auf, bis ich Kishan mit einem Nicken zu verstehen gab, dass ich keinen Durst mehr hatte. Ich hatte sogar genügend Kraft, um seinen Arm zu packen, während ich den Kopf hob. Dann reichte er Ren den Becher. Es war Abend, und wir trieben auf einem in Mondlicht getauchten Ozean. Ich versuchte, wach zu bleiben und Ren beim Trinken zuzusehen. Als er fertig war, hatten sich meine Augen eingestellt, und aus sechs Rens war einer geworden.

»Du bist verletzt«, sagte ich.

Rens verzerrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein Lächeln, auch wenn der Schmerz immer noch sichtbar war, den er zu verbergen suchte. »Mir geht’s gut.«

Ich warf einen Blick auf seine Brust. Eine sonderbare Narbe zog sich halbkreisförmig von seiner Schulter zu seinem Bauch. Meine Augen wurden groß. »Der Hai hat dich erwischt? Das ist doch eine Bisswunde!«, begann ich zu keuchen, was schließlich in ein feuchtes Husten überging.

Kishan hielt mich, als mein Körper schmerzhaft krampfte. Ren wartete, bis der Husten nachließ, bevor er antwortete.

»Ja. Er hat mich fast in zwei Stücke gerissen. Hat mir alle Rippen auf der linken Seite gebrochen, meinen linken Arm, hat mir die Wirbelsäule zertrümmert und wahrscheinlich auch noch mein Herz und meine Niere durchbohrt.«

»Wie … bist du bei all den Haien im Wasser zurück zum Boot gekommen?«

»Nachdem der Monsterhai dank dir und einem Dreizack im Gehirn tot war, sind ihm viele der Haie gefolgt. Ein paar haben sich mir an die Fersen gehängt, aber sie waren nicht im Angriffs-Modus. Ein kurzes Piksen mit dem Dreizack hat sie in die Flucht geschlagen. Kishan hat mich gesehen und dem Göttlichen Tuch befohlen, ein Seil zu knüpfen. Dann hat er mich ins Boot gezogen, bevor sie mir Arme oder Beine abreißen konnten.«

Ich schauderte und streckte mich nach seiner Hand aus. Er verschränkte seine Finger mit meinen, und ich sank gegen Kishans Brust, schwach wie ein Gänseblümchen nach einem Gewittersturm.

»Du meintest, ich würde heilen. Wie das? Eigentlich müsste ich längst tot sein.«

Ren suchte Kishans Blick und nickte.

Kishan räusperte sich und erklärte: »Wir haben den Nektar der Unsterblichkeit benutzt – die Tropfen aus dem Brunnen der Meerjungfrau. Du lagst im Sterben. Du bist verblutet, und das Göttliche Tuch konnte die Blutung nicht stillen. Dein Herz schlug langsamer, und du hast das Bewusstsein verloren. Dein Leben schwand dahin, und ich konnte nichts dagegen tun. Dann habe ich mich an die Worte der Meerjungfrau erinnert. Ich konnte dich nicht sterben lassen … Deshalb habe ich die Kamandal benutzt. Zuerst war ich nicht sicher, ob es funktionierte. Du hattest nicht genügend Blut, um dein Herz zum Schlagen zu bringen. Ich habe gehört, dass es sich zwischen den Atemzügen nicht füllte. Dann hat deine Herzfrequenz zugenommen. Der Heilungsprozess setzte ein. Dein Bein hat sich vor meinen Augen ganz langsam wiederhergestellt. Farbe ist in dein Gesicht zurückgekehrt, und du bist in einen tiefen Schlaf gefallen. Da wusste ich, dass du überleben würdest.«

»Bedeutet das, dass ich jetzt unsterblich bin? Wie ihr beide?«

Kishan sah zu Ren. »Das wissen wir nicht.«

»Warum glüht meine Haut?«

»Es könnte eine Nebenwirkung sein«, vermutete Kishan.

»Oder einfach nur ein Sonnenbrand«, hielt Ren ihm entgegen.

Ich stöhnte und zwickte mich in den Arm. Die Stelle wurde weiß, dann rot. »Ich tippe auf Sonnenbrand. Wo sind wir?«

»Keine Ahnung«, erklärte Ren, rührte sich und schloss dann die Augen.

»Gibt es etwas zu essen? Ich könnte auch noch ein bisschen mehr Wasser gebrauchen, wenn noch etwas übrig ist.«

Kishan benutzte die Goldene Frucht, um uns Tomatensuppe zuzubereiten, die nahrhaft war, aber nicht zu schwer für unsere geschwächten Körper. Dann verordnete er Ren und mir Schlaf, während er Wache hielt. Kishan wiegte mich in seinen Armen, und mein erschöpfter Körper gehorchte aufs Wort.

Es dämmerte, als ich erwachte. Ich lag auf der Seite, mein Kopf ruhte auf Kishans Oberschenkel. Meine Hand drückte gegen den kalten, glitschigen Boden des Bootes. Glasfaser? Wie konnte die Halskette ein solches Material herstellen? Während ich mit dem Handrücken über die glatte Oberfläche strich, bemerkte ich, wie sich die Seiten des Boots sanft krümmten. Vorsichtig bewegte ich mein Bein und verspürte nichts als einen kleinen, schmerzhaften Stich.

»Wie geht es dir?«, fragte Ren leise.

»Ganz … gut. Heute lasse ich den Marathon zwar lieber ausfallen, aber ich werde überleben. Kannst du nicht schlafen?«

»Ich habe Kishan vor einer Stunde abgelöst.«

Ich strich mit der Hand über den äußeren Rand des Fahrzeugs, das mit zerfurchten Rillen übersät war. Die Mitte des Boots war ein leuchtendes Pink, das zu einem Altrosa und schließlich am Rand zu Alabaster verblasste. Kishan schlief, einen Arm über den Augen, in einer der fünf vertikalen Vertiefungen.

»Es ist eine riesige Venusmuschel«, erklärte Ren.

»Sie ist wunderschön!«

Er lächelte. »Nur du kannst an unserer Situation noch etwas Schönes finden.«

»Das stimmt nicht. Ein Poet findet immer etwas Gutes, worüber er schreiben kann.«

»Ein Poet schreibt nicht nur über Schönheit. Manchmal erzählt er auch von Leid – den hässlichen Dingen der Welt.«

»Ja, aber bei dir klingen selbst schlimme Dinge wunderbar.«

Ren seufzte und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Vielleicht nicht dieses Mal.« Mit entschlossener Miene setzte er sich auf. »Wir sollten nach deinem Bein sehen, Kells.«

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. »Kann das nicht warten, bis wir zurück sind?«

»Wir wissen nicht, wie wir zurückkommen, und wir müssen beobachten, ob sich eine Infektion entwickelt.«

Ich begann zu hyperventilieren. »Das kann ich nicht.«

Sein Ausdruck wurde mild. »Mach einfach die Augen zu. Warum erzählst du mir nicht eine Geschichte, während ich den Verband löse?«

»Ich … kann mich an keine erinnern. Ren, ich habe Angst. Was, wenn ich das Bein verliere? Wenn es nur noch ein Stumpf ist?«

»Kannst du mit den Zehen wackeln?«

»Ja. Zumindest fühlt es sich so an, aber das kann auch nur ein Phantomfuß sein, der mir einen Streich spielt. Ich will es nicht verlieren.«

»Wenn das eintreten sollte, werden wir damit fertig werden. Das einzig Wichtige ist, dass du am Leben bist.«

»Aber ich würde nie mehr richtig gehen können. Wie sollte ich jemals ein normales Leben führen? Ich wäre für immer körperlich behindert.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Was meinst du damit, das spielt keine Rolle? Wie soll ich euch helfen, die Aufgaben zu bewältigen? Wie könnte ich …« Meine Worte blieben mir im Hals stecken.

Er wartete einen Moment. »Wie könntest du was?«

Ich errötete. »Wie könnte ich heiraten und Kinder bekommen? Ich wäre nicht in der Lage, sie im Haus herumzujagen. Mein Mann würde sich für mich schämen. Und das alles natürlich nur, falls ich jemanden überzeugen könnte, mich überhaupt zu nehmen.«

Ren betrachtete mich mit undurchdringlicher Miene. »Bist du fertig? Oder gibt es da noch weitere Ängste, die du bisher nicht angesprochen hast?«

»Das war’s wohl.«

»Du hast also Angst, dass du nicht normal, nicht mehr attraktiv wärst und deinen Verpflichtungen nicht ordentlich nachkommen könntest.«

Ich nickte.

»Ich weiß, was es heißt, nicht normal zu sein, doch wenn mich die Jahrzehnte im Zirkus eines gelehrt haben, dann Folgendes: Normalität ist eine Illusion. Jeder Mensch ist einzigartig. So etwas wie Normalität zu erreichen, wird den meisten Menschen auf Erden nicht gelingen. Ein Ehemann, der sich seiner Frau schämt, hat sie nicht verdient, und ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass du niemals die Bekanntschaft eines solchen Mannes machst.

Was deine Befürchtung angeht, du könntest nicht attraktiv sein oder das Interesse eines Mannes nicht mehr wecken, kann ich dir garantieren, selbst wenn dir beide Beine abgenommen würden, fände ich dich wunderschön und würde mich nach dir verzehren.« Ren lächelte, während ich zusammenzuckte. »Und die Verantwortung für Kinder obliegt beiden Elternteilen. Du und dein Gatte würdet die Dinge so zwischen euch aufteilen, wie es euch beiden behagt.«

»Aber ich wäre ihm eine Last.«

»Das wärst du nicht. Du würdest seine Last schmälern, da du ihn liebst.«

»Er müsste mich ja wie eine alte Oma herumschieben.«

»Er würde dich jede Nacht ins Bett tragen.«

»Du lässt wohl nicht zu, dass ich vor Selbstmitleid zerfließe?«

»Nein. Darf ich mir jetzt dein Bein anschauen?«

»Na schön.«

Er lächelte. »Gut. Halt still.«

Er flüsterte dem Göttlichen Tuch den Befehl zu, die blutverkrusteten Bandagen von meinem Bein zu entfernen und neue, weiche Verbände herzustellen. Dann bat er die Perlenkette, eine Schüssel mit warmem Wasser zu fertigen. Meine Zehen erschienen zuerst, und ich war schrecklich erleichtert, als ich sah, dass sie gesund und fleischfarben aussahen. Doch als sich die Fäden um meine Wade auflösten, schloss ich die Augen und drehte den Kopf weg. Ren sagte nichts, sondern tauchte einen Lappen in das Wasser und wusch mein Bein. Es fühlte sich an, als wäre es völlig in Ordnung, aber ich wollte das Risiko nicht eingehen und blickte stur geradeaus.

»Kannst du mit mir reden? Mich ablenken, damit ich nicht darüber nachdenke?«, flehte ich ihn an.

Er schob mir meinen einst wunderschönen, nun jedoch salzverkrusteten Rock übers Knie und betupfte sanft die Haut um und unter meiner Kniescheibe.

»Sicher. Kürzlich habe ich ein neues Gedicht geschrieben. Wäre das genehm?«

Ich nickte stumm und wimmerte, als Ren eine schmerzempfindliche Stelle berührte.

»Es heißt ›Das Herz hinter Gittern‹.« Er begann, und seine warme Stimme umhüllte mich und spendete mir wie immer Trost.

Das Herz hinter Gittern

Schlägt das Herz hinter Gittern schwächer?

Nein! Es hämmert noch heftiger.

Es pocht

Nicht von Schloss und Eisenstab gefangen

Sondern seiner eig’nen Hand.

Ungezähmt und wild

Kann es Ruhe finden

Erst im Dschungel.

Frieden in der Liebkosung

der blättrigen Arme.

Aber der Weg zum Dschungel ist verloren.

Und so dreht es sich im allerkleinsten Kreise

Starrt in die Ferne

Und wartet auf den Moment

Da es freikommt.

Ren endete und wrang den Lappen aus. »Du kannst schauen, wenn du willst. Deinem Bein geht es gut.«

Zögerlich öffnete ich die Augen und wagte einen Blick. Eine dünne blassrosa Narbe lief von meiner Wade zu meinem Knöchel. Ren berührte sie sanft, fuhr sie bis hinab zu meinem Fuß nach. Ich schauderte.

Er missverstand meine Reaktion. »Sie sieht überhaupt nicht schlimm aus. Oder tut es weh?«

»Nein, nicht wirklich. Sie ist nur ein bisschen wund.«

Er nickte und umfasste meine Wade, drückte sie leicht.

»Das fühlt sich gut an. Vielleicht wäre eine Massage nicht schlecht, sobald die Wunde noch ein Stück verheilt ist.«

»Jederzeit.«

Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Vielen Dank. Ich … Dein Gedicht … Es war wunderschön.«

»Gern geschehen«, lächelte er warmherzig, »und dir vielen Dank, dil ke dadkan

Tieftraurig schob ich mich näher und legte meine Hand auf sein Herz. »In deinem Gedicht geht es nicht um Lokesh, den Zirkus oder das Vergessen, nicht wahr?«

»Nein.« Er legte seine Hand auf meine und drückte sie an sich.

Eine Träne tropfte mir die Wange herab. »Ren … Ich …«

Kishan seufzte im Schlaf, als die Sonne über den Horizont kroch und ihm ins Gesicht schien. Im nächsten Moment setzte er sich auf, rieb sich die schläfrigen Augen und rutschte näher. Dann schlang er mir die Arme um die Taille und zog mich an seine Brust.

»Geh vorsichtig mit ihr um!«, zischte Ren.

»Natürlich, tut mir leid. Habe ich dir wehgetan?«

»Nein. Ren hat mein Bein versorgt. Sieh nur. Es ist schon viel besser.«

Er begutachtete mein Bein. »Ich denke, du bist über den Berg.« Trotz des leisen Knurrens, das von der anderen Seite des Muschelboots kam, schmiegte er seine Nase an meinen Hals. »Guten Morgen, Bilauta. Was habe ich verpasst?«

»Nur ein Gedicht.«

»Zum Glück habe ich verschlafen«, neckte er mich.

Ich bohrte ihm sanft den Ellbogen in die Seite. »Sei höflich.«

»Ja, meine Süße.«

»Das ist schon besser. Wie wäre es mit Frühstück?«

Da Ren und Kishan übereinstimmten, dass wir alle schon wieder auf dem Weg der Besserung waren, bestellten sie eine herzhafte Mahlzeit beim Goldenen Tuch. Nachdem wir gegessen hatten, kauerte ich mich in den natürlich geformten Muschelschalensitz und schaute die Brüder erwartungsvoll an.

»Okay. Und was tun wir jetzt?«, fragte ich.

»Wie wäre es, wenn wir einen Drachen um Hilfe bitten?«, schlug Kishan vor.

»Ich habe das dumpfe Gefühl«, erwiderte Ren, »dass sie uns nicht mehr helfen werden. Außerdem wollen wir doch nicht, dass Lüsèlóng herbeieilt und uns eine weitere Aufgabe stellt, oder?«

»Nein!« Ich schauderte bei der Erinnerung, wie die beiden fast zu verkohltem Drachenfutter geworden wären. »Eines steht allerdings fest. Heute muss ich auf jeden Fall aus der Sonne.« Ich strich mit dem Finger über die Muschelwand, wo sich ein kleines Loch gebildet hatte, und eine Idee formte sich in meinem Bewusstsein.

»Ren? Kannst du mit dem Dreizack drei weitere Löcher wie dieses hier machen? Und zwar gleichmäßig.«

Er kniete sich neben mich und bohrte einen Finger durch das Loch. »Sollen sie dieselbe Größe haben?«

»Ja. Sie müssen groß genug sein, damit ein dickes Seil durchpasst.«

Er schnaubte und begann mit der Arbeit.

Kishan schob sich neben mich. »Was hast du vor?«

»Ich denke, wir sollten den Wind ausnutzen, damit er uns zurück zum Schiff trägt.«

»Gute Idee. Zumindest besser, als sich hier im Haifischbecken einfach treiben zu lassen.«

»Haifischbecken? Ich hoffe, du übertreibst.«

»Ich?« Kishans Brauen zogen sich zusammen, als er die Angst auf meinem Gesicht bemerkte. »Ja, ja, natürlich, das war nur ein Witz.«

»Nein, war es nicht. Sie sind überall um uns herum, nicht wahr?«

Er zuckte zusammen. »Ja. Es wimmelt hier im Wasser immer noch von Haifischfleisch. Ich habe sie die ganze Nacht gehört.«

Unwillkürlich stieß ich einen Laut aus und schloss die Augen, betete, dass mein kleines Experiment uns nicht in das von Haien bevölkerte Meer kippte. Ich bat das Göttliche Tuch, uns ein Segel zu knüpfen und es mit Seilen an den Löchern zu befestigen, die Ren gebohrt hatte. Dann befahl ich dem Tuch, den Wind vorsichtig mit dem Segel einzufangen und uns zurück zur Deschen zu bringen.

Das starke Tuch bauschte sich und zog uns vorwärts. Wir hüpften auf dem Wasser, und der Wind peitschte uns hin und her, aber Ren balancierte unser Muschelboot geschickt aus. Alles in allem war es eine ziemlich angenehme Fahrt. Ren baute sogar ein Sonnendach, indem er dank des Göttlichen Tuchs ein Stück Segeltuch herbeizauberte und überdimensional große Zuckerstangen in ausgehöhlte Käselaibe steckte, die die Goldene Frucht bereitstellte.

Wir naschten würzigen Pecorino auf Crackern und redeten, während wir die Augen nach der Jacht aufhielten. Ich entspannte mich, da ich wusste, dass wir nun meilenweit vom Hai-Büfett entfernt waren, und tauchte meine Finger sogar in die Gischt. Immer wieder nickte ich ein.

Der Morgen ging in den Nachmittag über, und es gab immer noch keine Spur von der Deschen. Wolken türmten sich auf, und schon bald legte sich ein so dicker Nebel um uns, dass er die Sonne ausblendete.

»Vielleicht sind wir in der Nähe der Insel des blauen Drachen«, sagte ich.

Wir beschlossen, dass ich alle fünfzehn Minuten ein Lichtsignal abgeben sollte, und ungefähr nach dem vierten Mal erklärte Kishan, er habe etwas gehört. Ren und er zogen an einem der Seile, um uns nach rechts zu bugsieren, und baten mich, ein weiteres Leuchtfeuer zu entzünden. Diesmal gab es als Antwort ein schwaches Funkeln. Der Wind flaute mit einem Schlag ab, und unser Segelboot trieb auf dem Wasser.

Ren hievte das Segel zurück ins Boot, als eine weitere Flamme direkt über unseren Köpfen emporschoss. Als die roten Funken verglommen, prallte unsere Venusmuschel gegen die glatte Seite der Jacht. Kishan band uns fest, und ich war so glücklich, ich hätte weinen können.

»Hallo?«, kam eine vertraute Stimme aus dem Nebel.

»Mr. Kadam? Mr. Kadam! Wir sind hier!«

Dann tauchte aus den Dunstschwaden Mr. Kadams geliebtes Gesicht auf.

Er lächelte breit und half Kishan, das Boot näher zu ziehen. »Um Himmels willen, was ist denn das für ein Fahrzeug?«, lachte er.

»Eine Venusmuschel«, erklärte ich. »Die Perlenkette hat sie für uns gefertigt.«

»Nun, dann herein in die gute Stube. Darf ich Ihnen behilflich sein, Miss Kelsey?«

»Das mache ich schon.« Ren hob mich hoch trug mich die Leiter zur Garage hoch, während Mr. Kadam und Kishan das Muschelboot auf die Rampe manövrierten und ins Trockene zogen.

»Miss Kelsey, Sie sind schon wieder verletzt.«

Ich nickte. »Ich denke, ich bin gestorben. Kishan hat mich zurückgebracht. Wir haben Ihnen so viel zu erzählen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Aber zuallererst erlauben Sie mir, Nilima zu holen, damit sie Ihnen unter die Arme greift. Kann sie gehen, Ren?«

»Das hat sie seit der Verletzung nicht versucht.«

»Setz mich ab. Zumindest stehen sollte ich können.«

Behutsam stellte er mich auf die Füße und reichte mir seinen Arm als Stütze, während ich meine ersten Schritte tat. Ich hinkte ein wenig, und es fühlte sich an, als hätte ich einen Krampf im Bein.

»Ich denke, das wird schon wieder, vor allem falls ich später eine hübsche Wadenmassage bekomme.«

»Sehr gerne«, sagten beide Brüder wie aus einem Munde.

Ich lachte. »Zum Glück habe ich zwei Beine.« Ich bückte mich, fuhr die rosafarbene Narbe nach und verglich meine Beine. Mit einem Seufzen bemerkte ich, dass ich nun an jedem Bein eine Narbe hatte, eine von dem Monsterhai und eine von dem Kraken. »Ab hier kann sich Nilima um mich kümmern. Ihr zwei könnt abschwirren. Ich würde mich gerne mit Mr. Kadam unterhalten.«

»Ich bleibe bei dir«, bot sich Ren an.

»Nein. Ich bleibe bei ihr«, wies Kishan ihn in die Schranken.

»Mir geht’s gut. Macht euch keine Sorgen um mich. Wir sehen uns später.«

Widerwillig verschwanden beide Männer, und ich lehnte mich an Mr. Kadams Schulter. Er legte einen Arm um mich und seufzte. »Sie haben es ihnen noch nicht gesagt.«

Ich wusste genau, wovon er sprach. Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben in solcher Gefahr geschwebt, ich wollte sie nicht noch weiter belasten. Das Wissen hätte sie nur angestachelt, Lokesh von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.«

Er nickte. »Sie müssen es aber erfahren … und zwar bald.«

»Ich weiß. Sie sollten sich nur erst mal ordentlich ausschlafen. ›Eine Schlacht nach der anderen‹ ist mein neues Motto.«

»Sie sind ebenfalls müde. Sie sollten sich ausruhen.«

Mr. Kadam bestand darauf, dass wir alle weiteren Gespräche auf den Abend verschoben, und ließ mich in meinem Zimmer allein. Ich drehte den Duschkopf auf und befreite mich von meinem Schmuck. Nilima erschien und half mir mit dem Verschluss an der Schwarzen Perlenkette. Ein Ausruf der Bewunderung entschlüpfte ihr, als sie das Schmuckstück in den Händen hielt.

»Sie ist wunderschön, Miss Kelsey.«

»Ja. Sie kann Wasser erzeugen und Meerestiere herbeirufen. Wir müssen herausfinden, was sie ansonsten noch kann.«

»Darf ich mal?«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Bitte befüll die Wanne für Miss Kelsey mit warmem Wasser.«

Die Badewanne füllte sich augenblicklich, und Nilima klatschte entzückt in die Hände.

Ich lächelte. »Das sieht toll aus, aber ich würde lieber unter die Dusche gehen, um zuerst das ganze Salz wegzuschrubben.«

»Natürlich. Sie können sich ja anschließend in der Wanne entspannen.«

Ich schauderte. Der Gedanke an eine volle Badewanne machte mich nervös. Ich fragte mich verwundert, ob ich jemals wieder tauchen gehen könnte. Bilder des riesigen Hais zuckten vor meinem inneren Auge auf, und ich konnte mir mühelos sein aufgerissenes Maul vorstellen.

»Ich denke, ich würde lieber ein andermal baden. Fürs Erste halte ich mich an die Dusche.«

Nilima zuckte mit den Schultern und half mir aus meinem Kleid. Beim Anblick des ruinierten Stoffs schnalzte sie entrüstet mit der Zunge und strich mit den Händen über die Perlenstickerei. »Es muss so prächtig gewesen sein.«

»Es war hübsch«, gestand ich ein, »aber ich habe mich darin ein bisschen unwohl gefühlt.«

»Warum?«

»Das Oberteil war viel zu kurz.«

»Ach, das Choli. Es gibt viele verschiedene Stile, manche eher modern, andere traditionell. Sie sind nicht kurz, um den Körper einer Frau zu entblößen, sondern um ihr das Leben in der Hitze angenehmer zu gestalten.«

Ich hob eine Augenbraue, und Nilima lachte.

»Okay. Ich gebe zu, es wird gelegentlich angezogen, um die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erregen.«

»Das hat definitiv funktioniert. Zu gut«, murmelte ich.

Sie entfernte den Schmuck aus meinem Haar und begutachtete jedes Stück mit unverhohlener Bewunderung. Dampf stieg von der Dusche auf. Nachdem sie mir das Choli aufgebunden hatte, ließ sie mich allein, und ich nahm mir alle Zeit der Welt, um mir das Haar und die Haut zu waschen. Als ich in meinem dicken Morgenmantel vor dem Frisiertisch saß, kehrte sie mit einer Ladung Kleidung zurück. Sie bürstete mir das lange, nasse Haar, während ich eine kühlende Lotion auf meine sonnenverbrannten Arme und Beine gab.

»Nilima?«

»Ja?«

»Könnten Sie mir die Haare kürzer schneiden? Bitte?« Als sie besorgt den Kopf schüttelte, fuhr ich hastig fort: »Es ist zu lang. Und nicht zu bändigen. Sie müssen es nicht ganz kurz schneiden – nur bis zu den Schulterblättern.«

»Er wird fuchsteufelswild werden.«

»Das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr.«

»Warum nicht?«

Ich seufzte. »Weil wir uns getrennt haben. Ich habe ihm gesagt, dass ich mit Kishan zusammen bin.«

Sie hielt mitten im Bürsten inne und machte dann langsam weiter. »Ich … verstehe

»Kishan ist es gleich, was ich mit meinem Haar anstelle, und selbst geflochten ist es schrecklich nervig, wenn es so lang ist.«

»Na schön, Miss Kelsey. Aber wenn er fragt, dann haben Sie es selbst getan.«

»Abgemacht.«

Sie schnitt mir das Haar genau bis zu den Schulterblättern und flocht mir einen Zopf. Ich zog ein weiches T-Shirt und eine abgewetzte Jeans an und machte mich barfuß auf die Suche nach den anderen.

Nilima hielt Wache auf der Brücke, während sich Mr. Kadam zu uns dreien auf das Sonnendeck gesellte. Wir aßen und wechselten uns ab, ihm unsere Abenteuer zu erzählen. Er machte sich zahlreiche Notizen und bat uns mehrmals, die Anweisungen der Drachen so präzise wie möglich zu wiederholen. Ich zeigte ihm die Schwarze Perlenkette, die er in den Händen drehte und von der er eine sehr akkurate Skizze in seinem Notizbuch anfertigte. Er hielt die verschiedenen Möglichkeiten fest, wie wir sie bisher verwendet hatten, und wollte so schnell wie möglich eine Testreihe beginnen.

»Ich finde es interessant, dass Sie sich von dem Haibiss in diesem Reich nicht erholt haben, wohingegen Sie den Bärenangriff in Shangri-La rasch überwunden haben«, bemerkte Mr. Kadam.

»Aber vergessen Sie nicht, meine Wunden sind auch in Kishkindha nicht verheilt, als ich von einem Kappa gebissen wurde.«

»Allerdings haben Sie sich von dem Krakenbiss erholt, wenn auch etwas langsamer. Einige mögliche Erklärungen hätte ich dafür zu bieten. Nummer eins: Es könnte sein, dass Shangri-La eine besondere Ausnahme darstellt. Das Gesetz des Friedens und der Harmonie konnten dort greifen. Nummer zwei: Vielleicht können nur die echten Wächter der Gegenstände lebensbedrohlichen Schaden zufügen. Nummer drei: Der Heilprozess setzt nur ein, wenn die Wunde nicht tödlich ist. Was auch immer der Grund sein mag, Sie sollten permanent Vorsicht walten lassen, Miss Kelsey. Selbst in den Reichen der anderen Welt können Sie getötet werden. Wir hatten Glück, dass Kishan mit dem Kamandal gesegnet war. Mich beschleicht das Gefühl, wir können nicht länger darauf zählen, dass Ihr Amulett Sie vor Verletzungen schützt oder dass der Aufenthalt in einem magischen Reich hilft, damit Sie von alleine heilen.« Er beugte sich vor und tätschelte mein Knie. »Es wäre undenkbar, Sie zu verlieren, meine Liebe.« Dann ließ er den Blick zu den anderen beiden schweifen. »Wir müssen in Zukunft mehr auf Miss Kelseys Gesundheit achten.«

Die Brüder nickten übereinstimmend.

Als wir mit unseren Berichten fertig waren, lehnte sich Mr. Kadam zurück und presste die Hände aneinander. Wie gewöhnlich klopfte er sich mit den Zeigefingern gegen die Lippe und sagte: »Dann wären wir wohl fertig. Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass die fünf Drachen auf Lady Seidenraupes Tuch verschwunden sind. Nilima und ich haben beobachtet, wie sich die Drachen bei eurer Ankunft in ihren jeweiligen Reichen verwandelt haben, weshalb wir nachvollziehen konnten, wann ihr die Gewässer ihres Herrschaftsbereichs verlassen habt. Vor zwei Tagen haben sich alle fünf aufgelöst.«

Ich blinzelte. »Das war ungefähr der Zeitpunkt, als wir die Siebte Pagode betreten haben.«

Er nickte. »Wir haben immer noch den Sextanten und die Himmelsscheibe, aber ich könnte mir vorstellen, sie lösen sich auf, sobald wir unsere Welt betreten. Nilima und ich hegen die Vermutung, dass es eine Art Durchgang gibt, ähnlich der Ugra-Statue oder dem Geistertor, das unser Schiff zurück in die normale Zeit bringt.«

»Morgen werden wir zu der Stelle fahren, wo wir den roten Drachen getroffen haben, und darauf hoffen, dass er uns hilft, zum Ufertempel zurückzukehren. Allerdings möchte ich diese Nacht noch vor Anker liegen bleiben, sodass jeder von uns eine ordentliche Mütze Schlaf bekommt. Ich habe Grund zu der Annahme, dass in naher Zukunft ein weiterer Kampf auf uns wartet, und ich möchte, dass wir gewappnet sind. Miss Kelsey? Vielleicht ist es nun an der Zeit, die anderen einzuweihen, was in der Vision vorgefallen ist.«

Ich schluckte schwer und wandte mich an Ren und Kishan. »Als ihr mich nach Lokesh gefragt habt, habe ich die Sache bewusst heruntergespielt.«

»Was meinst du damit?«, wollte Kishan wissen.

»Ich … habe gelogen.«

Ren beugte sich vor. »Was ist in Wirklichkeit geschehen?«

»Zuallererst, Kapitän Dixon ist tot.«

Mr. Kadam wartete einen Moment, bis sie die Neuigkeit verarbeitet hatten, und erklärte dann: »Lokesh ist für den Tod meines Freundes verantwortlich. Wir mussten hilflos zusehen, und ich empfinde großes Leid über seinen Verlust. Meine erste Reaktion war, augenblicklich den Rest der Crew zu suchen und mich zu vergewissern, dass sie alle in Sicherheit sind, aber wir können das Risiko nicht eingehen, nach Mahabalipuram zurückzukehren, da wir wissen, dass Lokesh dort war und vermutlich immer noch dort ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er unsere gesamte Mannschaft auf dem Gewissen hat.«

»Was sonst noch?«, fragte Ren.

»Äh … Wie es scheint, will er mehr als nur unsere Amulette«, stammelte ich und hustete.

Mr. Kadam warf mir ein mitleidvolles Lächeln zu und übernahm: »Er hat Miss Kelsey eindeutige Avancen gemacht. Er … begehrt sie.«

Ren sprang abrupt auf, und Kishans Hände ballten sich zu Fäusten.

»Ich werde ihn umbringen«, schwor Ren. »Er wird sie nie bekommen.«

»Ich denke nicht, dass ihn allein die Begierde nach einer Frau antreibt, auch wenn das teilweise der Fall sein mag. Miss Kelsey bedeutet für ihn Macht, und er möchte … einen Sohn mit ihr zeugen.«

Die Reaktion der beiden Männer hätte unterschiedlicher nicht sein können. Ren schäumte vor Wut. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, als wollte er den Magier mit bloßen Händen töten.

Im Gegensatz zu Ren erlag Kishan still seiner Verzweiflung. »Das ist meine Schuld«, sagte er.

Ich berührte ihn am Arm. »Wie meinst das?«

»Ich habe ihn angestachelt, ihn provoziert, als ich bei den Baiga gegen ihn gekämpft habe. Ich war als du verkleidet, während ich die Chakram geschwungen haben.«

»Ich glaube nicht, dass dies der eigentliche Grund ist«, versicherte Mr. Kadam. »Wenn mir die dreiste Hypothese erlaubt ist, so vermute ich, dass er die Familie Rajaram schon immer als sehr mächtig angesehen hat, und er will sich diese Macht aneignen. Er hat euch nie besiegt. Ihr seid ihm viele Male entkommen, und er ist ein sehr schlechter Verlierer. Einen Sohn sehnt er sich schon lange Zeit herbei, wahrscheinlich seit Jahrhunderten. Damals, zu unserer Zeit, hatte er denselben Wunsch, allerdings in Bezug auf eine andere Frau.«

»Mutter«, keuchte Ren leise auf.

»Ja. Er hätte Deschen an sich gerissen, wären wir nicht geflohen, und nun will er Miss Kelsey. Er befindet sich auf einem Boot, und ich vermute, dass er unserer Rückkehr harrt.«

»Er wird sie nicht in die Finger bekommen«, versprach Kishan.

Und Ren fügte hinzu: »Wir müssen sie verstecken.«

»Einen Moment«, unterbrach ich sie. »Ihr braucht mich. Ich habe eine Gabe, und dort draußen warten Dutzende von Lokeshs Piraten auf euch. Wir haben sie gesehen.«

Mr. Kadam klopfte sich mit dem Finger gegen die Lippe. »Ich pflichte Miss Kelsey bei. Wenn wir den Kampf ohne Verluste gewinnen wollen, müssen wir sie blitzschnell und heftig treffen. Ich denke nicht, dass sie uns töten wollen. Höchstwahrscheinlich werden sie wieder Betäubungsgewehre einsetzen. Wir werden den Bug des Schiffs als Schutzschild benutzen und anfangs Miss Kelseys Gabe als Fernwaffe. Der Nahkampf wird unser letzter Ausweg sein. Ich werde an einem ausgefeilten Angriffsplan arbeiten, während ihr drei schlafen geht. Ruht euch so gut als möglich aus. Wir wollen hoffen, dass wir unbemerkt bleiben, doch wir werden uns auf das Schlimmste vorbereiten. Morgen müssen wir kampfbereit sein.«

Ren drehte sich zu einem dunklen Fenster um und fragte: »Warum hast du das vor uns verheimlicht, Kelsey?«

Während ich meine verschwitzten Hände an meiner Jeans abwischte, erklärte ich: »Ich wollte euch nicht ablenken. Falls wir es nicht an die Oberfläche geschafft hätten, hätte es sowieso keine Rolle gespielt. Ich hatte gehofft, mir bliebe noch jede Menge Zeit, um es euch später zu erzählen.«

»Nächstes Mal will ich, dass du einfach mit der Sprache rausrückst. Ich kann verstörende Neuigkeiten besser verkraften, wenn alles offen auf dem Tisch liegt und du ehrlich mit mir bist.«

»Okay«, stimmte ich zu, brach den Augenkontakt jedoch unangenehm berührt ab.

Da das Treffen vertagt war, hastete ich, Kishan an meiner Seite und Ren in gebührendem Abstand hinter uns, zu meinem Zimmer.

»Wir haben die Perlenkette. Ihr zwei könnt jetzt achtzehn Stunden am Tag in Menschengestalt verbringen. Nur noch eine letzte Aufgabe, die auf uns wartet.«

Kishan nickte zerstreut, gab mir einen Kuss auf die Stirn und blieb vor meiner Tür stehen. »Achtzehn Stunden, hm? Das hört sich nach einer echten Ewigkeit an.« Er lächelte. »Ren und ich müssen reden.« Er strich mir mit einem Finger über die Wange. »Wir sehen uns morgen früh, okay?«

Verwirrt nickte ich und ging zu Bett.

Kishan kam nicht in mein Zimmer zurück, und das war vielleicht auch ganz gut so, denn ich schreckte ständig aus Albträumen auf. Schließlich schaltete ich ein sanftes Licht ein, damit ich mir nicht länger vorstellte, ich wäre wieder im schwarzen Wasser. Als ich am Morgen die Verbindungstür öffnete, fand ich Kishan auf dem Bauch liegend vor. Er schlief tief und fest.

Ich schloss leise die Tür und ging frühstücken. Mr. Kadam und Nilima hatten bereits gegessen. Ich machte es mir gerade ihnen gegenüber mit einem vollen Teller gemütlich, als ein frisch geduschter Ren um die Ecke bog. Er häufte sich einen Teller mit Pfannkuchen voll, strich eine riesige Portion Erdnussbutter darauf, schnitt eine Banane in Scheiben und ertränkte alles in Ahornsirup.

Ich verkniff mir ein Lächeln und nippte an meiner Milch. Er setzte sich neben mich und stieß mir freundschaftlich die Schulter in die Seite.

»Hast du gut geschlafen?«

»Ja. Und du?«

»Ich hatte schon bessere Nächte«, sagte er und lächelte, als erinnerte er sich an eine ganz besondere Nacht. »Aber es war in Ordnung. Wo ist Kishan?«

»Schläft noch. Ich wollte ihn nicht wecken.«

Er zog die Stirn kraus. »Er sollte wachsamer sein, was dich angeht. Er hätte aufwachen müssen, sobald du dich rührst.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht so, als würde ich in Gefahr schweben, und ich glaube nicht, dass er fest geschlafen hat. So schläft er auch als Tiger. Außerdem ist es gut möglich, dass er mich gar nicht gehört hat.«

»Warum sollte er dich nicht gehört haben?«

»Er hat gestern in seinem eigenen Zimmer geschlafen.«

Ren grinste. »Habt euch wohl gestritten?«

»Nein. Und wo er schläft, geht dich einen feuchten Kehricht an.«

»Doch, wenn er nicht auf dich aufpasst.«

Ich seufzte und nahm meinen Teller. »Sind wir bereits wieder in See gestochen, Mr. Kadam?«

»Ja. Wir sollten unsere gewählten Koordinaten in wenigen Stunden erreichen. Ruhen Sie sich aus. Ich werde Sie rechtzeitig vorwarnen, bevor wir dort ankommen.«

Ren verputzte das letzte Stück seines Pfannkuchens und fragte: »Möchtest du eine Runde Pachisi spielen, während du darauf wartest …« Er runzelte die Stirn. »Ich meine, während du wartest?«

»Hört sich gut an. Aber kein Pachisi. Ich muss dir das Zug-Spiel beibringen. Das haben wir doch, nicht wahr, Mr. Kadam?«

»Ja, und die anderen ebenfalls, die Sie empfohlen haben.«

Ich hakte mich bei Ren unter. »Komm schon. Ich lass dich auch blau sein.«

Eine Stunde später analysierte Ren das Spielbrett, warf eine Karte ab und setzte seinen letzten Waggon. »Gewonnen«, verkündete er.

»Nicht so schnell. Wir müssen erst noch alle Punkte zusammenzählen.«

»Ich denke, es ist, selbst ohne zu zählen, offenkundig, dass ich gewonnen habe.«

»Nicht notwendigerweise. Ich habe die längste Streckenverbindung und alle Zielkarten erfüllt. Du hast doch nicht Schiss vor etwas Mathematik, oder?«

»Willst du etwa andeuten, dass ich nicht zählen kann?«

»Nein. Aber deine Schulzeit liegt nun mal eine geraume Weile zurück. Tu dir keinen Zwang an, mit der Pfote gegen den Tisch zu klopfen, wie das Pferde beim Zählen tun.« Ich grinste schelmisch.

»Anscheinend bräuchtest du eher eine Lektion in Anstand.«

»Wirst du demnächst ein Gesetz erlassen gegen das Ärgern des Höchsten Prinzen und Protektors des Mujulaainischen Königreiches

»Es heißt Prinz und Höchster Protektor des Mujulaainischen Königreiches, und ja, vielleicht sollte ich das wirklich tun.«

»Und was würdest du machen, wenn ich dagegen verstoße? Mir den Kopf abreißen?«

Er feixte. »Meine Gedanken gingen eher in die Richtung, einen Weg zu finden, dich vom Reden abzuhalten, aber diese Bestrafung würdest du wohl zu sehr genießen.« Er rieb sich das Kinn. »Allerdings könnte ich dich in den Pool werfen.«

Er lächelte, doch seine Miene verwandelte sich schlagartig, als mir das Blut aus dem Gesicht wich. »Was ist los, Kells?« Rasch schob er das Spielbrett beiseite und nahm meine Hand. Die kleinen Waggons purzelten in alle Richtungen, die würden wir wohl heute nicht mehr zählen. »Was ist los?«, wiederholte er leise und streichelte meine Wange.

»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder ins Wasser steigen kann. Gestern Abend konnte ich nicht mal in die Badewanne. Alles, was ich sehe, sind riesige Zähne. Ich hatte die ganze Nacht Albträume.«

»Das tut mir leid, anmol moti. Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?«

»Nein. Nicht wirklich.« Ich seufzte. »Irgendwann komme ich hoffentlich darüber hinweg. Bevor das alles passiert ist, hat mir das Tauchen großen Spaß gemacht.«

Er nickte und stand auf, dann streckte er die Hand nach mir aus. Mit einem verschlagenen Grinsen sagte er: »Dann sollte deine Bestrafung wohl lauten, dass du das Spiel aufräumen musst, während ich dir zusehe.«

»Das ist eine schreckliche Strafe. Ein hundertprozentiges Abschreckungsmittel gegen jegliches Ärgern.«

Ich begann, die Waggons in ihre kleinen Tüten zu sortieren, und trotz seines Erlasses half er mir. Mein Zopf fiel mir über die Schulter, als ich mich hinabbeugte, um den Deckel des Spiels aufzuheben, und Ren zog daran.

»Du dachtest wohl, ich würde es nicht bemerken?«

»Doch, davon bin ich eigentlich fest ausgegangen. Allerdings bin ich überrascht, dass du nicht schon gestern Abend etwas gesagt hast.«

»Ich habe es bemerkt, aber … Es tut mir leid, Kelsey. Ich hätte nicht so auf meiner Meinung beharren dürfen.« Gedankenverloren drehte er mein Haarband um seinen Finger. »Als du dir gleich nach unserer Trennung die Haare abgeschnitten hast, kam es mir vor, als wolltest du jegliche Verbindung zu mir kappen. Als du und Nilima sie ein zweites Mal schneiden wolltet, bin ich in Panik geraten. Ich weiß, das ist nur in meinem Kopf, aber ich habe das Gefühl, als würde die langhaarige Version von dir zu mir gehören und die kurzhaarige Version zu Kishan.«

Er seufzte. »Aber dein Haar ist verlockend, egal wie du es trägst, auch wenn ich schon immer eine Schwäche für deine Zöpfe hatte.« Er schob den dicken Zopf zurück und fuhr mit den Fingern von meinem Kiefer bis zu meinem Hals, bevor er einen Schritt auf mich zukam. Mein Atem setzte aus, derart fasziniert war ich von dem wunderschönen Mann, der mich küssen wollte.

»Kelsey? Kelsey, wo bist du?«, brüllte Kishan, während er die Treppe zu unserem Deck herabsprang.

»Hier drinnen!«, rief ich ihm mit einem panischen Unterton in der Stimme zu, während ich von Ren zurückwich.

Kishan kam zu mir gelaufen, ohne die Anspannung zu bemerken, die zwischen mir und seinem Bruder knisterte, und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wir sind fast da. Mr. Kadam will uns alle auf der Brücke sehen.«

Kishan nahm meine Hand und führte mich aus dem Zimmer. Ren trottete hinter uns her. Ich spürte seine Blicke auf mir, und eine kitzelnde Gänsehaut breitete sich schlagartig auf meinen Armen aus. Ich lauschte auf seine Schritte, und er sprang auf den breiten Stufen an uns vorbei.

Als wir draußen an Deck zur Brücke eilten, fragte Ren: »Kishan, wirst du heute in Kelseys Kabine schlafen?«

Ich spähte verstohlen zu Ren, der aussah, als hätte er gerade etwas schreckliches Bitteres gegessen.

Kishan starrte seinen Bruder mit weit aufgerissenen Augen an, dann richtete er sich auf und verschränkte argwöhnisch die Arme vor der Brust. »Warum?«

»Sie hat Albträume«, erklärte Ren hastig. »Sie schläft besser, wenn ein Tiger in ihrer Nähe ist.«

Ich warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Ren, ich brauche niemanden, der mir …«

»Lass mich dir einfach bei dieser einen Sache helfen, Kells.«

»Na schön. Was auch immer. Ihr zwei feilt an euren Plänen.« Ich hüpfte die Treppe hoch und hörte Kishan und Ren unten flüstern. Seufzend verdrehte ich die Augen, betrat die Brücke und ließ mich in einen bequemen Sessel plumpsen. »Was gibt’s Neues?«, wollte ich wissen.

»Wir stehen kurz davor, das Hoheitsgebiet des roten Drachen zu befahren.«

»Okay.«

Eine halbe Stunde später beobachteten die Brüder und ich, wie Mr. Kadam und Nilima das Schiff geschickt in einem Kreis um das Gewässer des roten Drachen lenkten. Nichts geschah. Wir konnten weder einen Durchgang noch eine irgendwie geartete Markierung entdecken, die uns einen Hinweis darauf gab, was wir tun sollten. Auch Lóngjun trat nicht in Erscheinung. Als der Nachmittag sich dem Ende neigte, wurde ich immer unruhiger und drohte, verrückt zu werden, wenn ich noch länger aufs Meer starren müsste. Meine Finger berührten etwas Weiches, während ich mich vom Fenster abwandte. Lady Seidenraupes Kimono.

Ich fuhr den Stern auf der Vorderseite nach, der nun vervollständigt war. Nachdem ich ihn umgedreht hatte, sah ich, dass die fünf Drachen tatsächlich von der Rückseite verschwunden, ihre Symbole jedoch noch vorhanden waren. Ich strich mit der Hand über die Wolken, zeichnete den Blitzstrahl des grünen Drachen nach, drehte den Kimono dann wieder um und zog eine Linie zum Ufertempel. »Bring uns nach Hause«, flüsterte ich.

Da hörte ich das zischende Ziehen von Seidenfäden und spürte, wie das Schiff mit einem Ruck anfuhr.

»Was ist geschehen?«, rief Mr. Kadam.

»Ich habe den Kimono angefasst und gesagt: ›Bring uns nach Hause.‹«

Nilima und Mr. Kadam wichen von den Armaturen zurück, die nun wild blinkten. Der Sextant und die Himmelsscheibe flimmerten und lösten sich auf. Abrupt verwandelten sich Ren und Kishan in Tiger und ließen sich zu meinen Füßen nieder, einer auf jeder Seite. Das Auf und Ab des Fadens an meinem Finger ließ mich zusammenfahren, und ich zeigte Mr. Kadam ein winziges genähtes Boot, das auf einer neuen Linie entlangfuhr, die am Ufertempel endete.

»Dem Anschein nach bewegen wir uns wieder im normalen Raum-Zeit-Gefüge. Auch wenn keines unserer Instrumente funktioniert«, sagte er. »Ich vermute, Lady Seidenraupe zieht uns heimwärts.«

Ich setzte mich jäh auf und stieß den Atem aus. »Bedeutet das, uns bleibt noch etwas Zeit, bis wir zurückkehren?«

»Meines Erachtens, ja. Auf dem Hinweg hat es ungefähr zwölf Stunden gedauert, bis wir die andere Welt erreicht haben.«

»Demnach werden wir also morgen früh ankommen.«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Wenn man bedenkt, was uns dort erwartet, ist das auch gut so. Ren und Kishan müssen noch sechs Stunden in Tigergestalt bleiben.« Ich tätschelte Ren den Kopf und kraulte Kishan hinterm Ohr, wobei ich mich rasch verbesserte: »Nicht dass sie in ihrer Katzengestalt nicht ebenso großartige Kämpfer wären.« Mit einem Grinsen zwickte ich Ren sanft ins Ohr und beugte mich zu ihm hinab: »Kannst mich jetzt wohl schlecht fürs Ärgern bestrafen, oder, Miezekätzchen?«

Ren knurrte auf eine Art, die mir verdeutlichte, dass er meinen Witz verstand und mich später dafür bezahlen lassen würde. Ich kicherte.

Fahrig wandte sich Mr. Kadam zu seinen Landkarten um, während ich über den Kimono auf meinem Schoß strich. Als ich ihn umdrehte, sah ich, dass die fünf Drachen zurück waren. Der blaue schnarchte, der weiße nickte und lächelte mich warmherzig an, der rote grinste, der grüne zwinkerte mir zu und der goldene geriet in Panik und tauchte seinen Kopf in einen Haufen Edelsteine.

»Ich freue mich auch, euch alle wiederzusehen«, lachte ich.

Ich aß mit meinen Tigern zu Abend und kicherte, als beide es vorzogen, von Hand gefüttert zu werden. Ich hatte diese Version von ihnen vermisst und zog sie auf, dass sie riesige, verzogene Miezekätzchen seien, während sie mir den Saft der Fleischstücke von den Fingern leckten, mit denen ich sie fütterte.

Später las ich ihnen aus Grimms Märchen vor, wobei ich Ren als Kissen benutzte. Kishan lag neben mir, sein Kopf ruhte auf meinem Bein. Schon nach kurzer Zeit wurde sein Gewicht unangenehm, und ich bat ihn, den Kopf auf den Boden zu legen.

»Tut mir leid, aber mein Bein tut immer noch ein bisschen weh.«

Als Antwort knurrte Ren leise.

»Du bist still«, ermahnte ich den weißen Tiger und gab ihm spielerisch einen Klaps auf die Schulter. »Das wusste er nicht, und jetzt weiß er es.«

Sie machten es sich beide wieder bequem, und ich verbrachte die nächste Stunde damit, ihnen die Märchen vom Froschkönig, dem Däumling und der Lady und dem Löwen vorzulesen, das war meine Lieblingsversion des Märchens Die Schöne und das Biest. Danach taumelte ich schläfrig, gefolgt von beiden Tigern, in meine Kabine.

Kishan machte einen Satz aufs Bett, und Ren legte sich auf den Boden. Im Badezimmer zog ich meinen Pyjama an und schlüpfte dann rasch unter die Decke. Kishan war bereits eingeschlafen, aber Ren hob den weißen Kopf von seinen Pfoten, damit ich ihm die Ohren kratzen konnte.

»Gute Nacht«, flüsterte ich und fiel in einen traumlosen, heilsamen Schlaf.

Kurz nach Sonnenaufgang kam das Schiff mit einem solch heftigen Ruck zum Stehen, dass ich aus dem Bett rollte und auf Ren landete. Augenblicklich verwandelte er sich in einen Menschen und zog mich hastig aus der Gefahrenzone, als ein Regal mitsamt allen Büchern auf die Stelle knallte, wo wir noch eine Sekunde zuvor gelegen waren.

Kishan sprang in Tigergestalt zu Boden und verwandelte sich sofort in einen Menschen. »Wir treffen uns auf der Brücke!«, rief er und stürzte aus dem Zimmer.

Ren sammelte unsere Waffen zusammen, während ich mich umzog. Ich tauchte aus meinem begehbaren Kleiderschrank mit einer Beule an der Stirn auf. Eine weitere Welle hatte das Schiff getroffen, und ich hatte mir den Kopf an einem Kleiderhaken gestoßen.

»Das ist sonderbar.« Ich bahnte mir einen Weg zu Ren, als sich das Schiff wieder in die Horizontale brachte. »Es fühlt sich fast so an, als wären die Wellen zeitlich abgestimmt. Es kommt mir nicht wie ein Sturm vor.«

»Du hast recht. Es ist unnatürlich.« Ren schob Fanindra an meinem Arm hoch, legte mir die Perlenkette an, band mir das Göttliche Tuch um die Taille, stopfte die Frucht in den Köcher mit den goldenen Pfeilen auf meinem Rücken und reichte mir meinen Bogen. Der Dreizack hing von einer Schlaufe an seiner Hüfte, und in der Hand trug er die Gada.

»Hast du alles, was du brauchst?«, fragte ich, während ich mich im Türrahmen gegen das Schaukeln des Schiffes stemmte.

Er lächelte und berührte zärtlich meine Wange. »Ja. Alles, was ich brauche, ist genau hier.«

Ich bedeckte seine Hand mit meiner, die er an seine Lippen führte. Ich lehnte mich zu ihm, da warf mich eine weitere Welle in seine Arme. »Wir müssen gehen«, sagte ich.

»Ja.« Er machte keine Anstalten zu gehen.

Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Komm schon, Tiger. Wir … reden später weiter.«

Er grinste und schob mich aus der Kabine. So schnell wir konnten, rannten wir die schwankenden Stufen zum Steuerhaus hinauf.

»Werden wir angegriffen?«, fragte ich. »Noch ein Meeresungeheuer?«

Bevor Ren antworten konnte, hatten wir das Sonnendeck erreicht, und ich blieb einen Moment erschrocken stehen. »Der Ufertempel! Wir sind zu Hause!«

Die Stadt Mahabalipuram erstreckte sich am Ufer vor uns. Innerhalb weniger Augenblicke flogen wir an der Stadt vorbei und folgten der Küstenlinie. Wohin auch immer wir fuhren, wir schossen in Windeseile auf unser Ziel zu.

»Kelsey! Komm weiter!«

Ich holte Ren ein und packte genau in dem Moment seine ausgestreckte Hand, als eine weitere Welle gegen das Schiff schlug. Während sich das Schiff gefährlich zu einer Seite neigte, verlor ich das Gleichgewicht. Ren stützte sich an der Reling ab und riss mich an sich, bis er die Arme um mich schlingen konnte.

»Danke«, flüsterte ich gegen seine Brust, als meine Füße wieder sicheren Boden fanden.

»Jederzeit wieder.« Mit einem Grinsen zwickte er mich in die Hüfte.

Wir stürmten in die Brücke, wo ein hektischer Mr. Kadam uns erklärte: »Wir wurden entdeckt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass er über diese Art von Kräften verfügt.«

Riesige Wellen stürzten auf uns zu, eine nach der anderen, jede so stark, dass sie uns zu versenken drohten. Schwarze Wolken zogen aus dem Nichts auf und verdunkelten den leuchtenden indischen Himmel. Wind peitschte mit solcher Gewalt gegen das Schiff, dass die Fenster klirrten.

»Es ist Lokesh?«, rief ich über den Lärm.

Mr. Kadam nickte. »Meine Berechnungen waren falsch! Wir haben den Ufertempel im Morgengrauen erreicht – früher als erwartet. Für alle Fälle wollte ich einen großen Bogen um die Stadt machen, aber er hat uns am Tempel aufgelauert und sofort angegriffen! Wir müssen versuchen, sein Schiff außer Gefecht zu setzen, bevor er uns zerstört!«

Er hat uns gefunden.

Ich eilte zusammen mit Ren zum Dach des Steuerhauses. Kishan sprintete uns hinterher. Als Erstes band ich uns drei mithilfe des Göttlichen Tuchs an der Brüstung fest. Dann trug ich Ren auf, das Tuch zu benutzen und Kishan die Frucht, während ich meine Feuerkraft einsetzen würde, sobald Lokeshs Schiff in Reichweite käme. Außerdem wollte ich die Halskette einsetzen.

Ich konzentrierte mich auf das schwarze Schiff, das schnell näher kam. Es war immer noch zu weit entfernt für meinen Blitzschlag, weshalb ich der Perlenkette zuflüsterte, ihr Boot mit Regengüssen zu bombardieren und sie in einen Strudel zu ziehen. Als Nächstes bat ich alle Geschöpfe des Meeres, die dem Ruf der Halskette folgten, uns zu Hilfe zu eilen. Ren fertigte eine riesige Abdeckplane an, die er über Lokeshs Schiff abwarf, während Kishan die Decks mit Öl bedeckte und jeden freien Zentimeter mit Frischkäse bestrich.

Ich grinste bei dem Gedanken, welche Panik wir hervorgerufen haben mussten, runzelte dann jedoch die Stirn, als der Wind das Segeltuch erfasste und fortpeitschte und ich große Flossen sah, die auf unser Schiff zusteuerten. Ren berührte meine zitternde Hand.

»Was ist los?«

Mit kaum vernehmbarer Stimme flüsterte ich: »Haie.«

Sein Griff wurde stärker. »Sieh nicht hin.«

Doch ich konnte nichts dagegen tun. Ich starrte gebannt zu ihnen hinab, wie sie unser Schiff umkreisten, und erstarrte. Ich hörte, wie Ren mit Kishan redete, auch wenn ich ihre Worte nicht ausmachen konnte.

Da erklärte Kishan: »Ich habe eintausend Pfund rohes Steak ausgekippt, aber sie weigern sich, das Fleisch anzurühren.«

Steak? Oh. Er hat versucht, die Haie abzulenken. Natürlich funktioniert das nicht. Sie interessieren sich nicht für Nahrung. Sie wollen uns. Schwere Regentropfen klatschten auf meine Wangen und meinen Kopf. Die Wellen legten sich, aber Lokesh entfachte einen schrecklichen Sturm. Endlich riss ich mich aus meiner Haifixierung und lenkte den Regen zurück zum anderen Schiff. Das war der Moment, als ich Lokeshs Macht spürte, die sich wie Finger nach mir ausstreckte. Regen traf auf Regen. Seine Macht stieß auf meine, und ich stemmte mich dagegen. Sie war … einschüchternd. Aufdringlich.

Ich kämpfte heftiger, und er tat es mir gleich. Der Regen streichelte grob meine Wangen, als würde Lokesh selbst mich mit seinen schmierigen Händen anfassen, und ich konnte regelrecht sein Lachen in den Tropfen hören, als sie auf das Deck trafen.

Er stieß so hart zu, dass ich wimmerte, doch Ren legte den Arm um mich, und ich spürte, wie neue Stärke mich durchströmte. Ich schob Lokeshs Macht fort, indem ich all meine Energie einsetzte, und spürte, wie er die Verbindung löste, auch wenn ein Teil von mir wusste, dass er Vergnügen an der Demonstration meines Muts empfand und mich hatte gewinnen lassen. Mit einem Schlag hörte der Regen auf, und die Wolken zerteilten sich. Die Sonne schien auf uns herab, und ich neigte den Kopf, wollte ihre Wärme in mich aufsaugen, um mich während der kurzen Gnadenfrist zu stärken.

Meine Gedanken arbeiteten fieberhaft, während ich mir eine neue Strategie ausdachte. Ich versuchte, Lokesh zu versenken, indem ich seine Decks mit Wasser flutete, aber er ließ die Wogen abprallen und schickte sie zusammen mit einigen seiner Männer zurück in den Ozean. Er kam erschreckend schnell näher, flog mit unfassbarer Geschwindigkeit übers Meer. Wie können wir ihn schlagen?

Kishan schaute bei Mr. Kadam vorbei und kehrte mit finsterem Blick zurück.

Ich berührte ihn am Arm. »Was ist los?«

»Uns geht der Treibstoff aus. Wir können ihnen nicht entfliehen.«

»Wie lange haben wir noch?«, fragte ich.

»Eine halbe Stunde. Bestenfalls eine Stunde.«

Wir drei steckten die Köpfe zusammen und besprachen unsere Möglichkeiten. Kishan schlug vor, das Schiff auf Grund laufen zu lassen und sie an Land zu bekämpfen. Ren hingegen wollte die Jacht in ihr Schiff rammen. Ich befürwortete die Landoption, weil wir so zumindest den Haien entgingen. Unsere ruhige Planung wurde von dem Geräusch mehrerer herausspritzender Wasserfontänen durchkreuzt. Atemlöcher der Wale!

Ich beschattete die Augen und konnte mindestens ein Dutzend Grauwale ausmachen, die auf das schwarze Schiff zusteuerten. Sie umkreisten es und knallten mit ihren schweren Körpern dagegen, sodass Lokeshs Boot an Fahrt verlor.

»Dann mal los!«, sagte ich. »Die Wale halten sie auf. Wir fahren, so weit uns unser Treibstoff bringt, und dann nehmen wir das Jetboot zum Ufer und verschwinden im Dschungel.«

Sie stimmten zu, und Ren hastete hinab zu Mr. Kadam, um ihm unseren Vorschlag zu präsentieren. Da erregte etwas meine Aufmerksamkeit.

»Die Haie! Kishan, wo sind sie?«

»Da.« Er zeigte aufs Meer, und ich sah mehrere große Flossen, die zum schwarzen Schiff abdrehten. »Er lässt sie die Wale angreifen.«

»Nein!« Das Wasser verfärbte sich rasch rot, als ein Jungtier seiner Mutter entrissen und getötet wurde. »Aufhören!«, schrie ich. Ich berührte die Perlenkette an meiner Kehle und schickte die sanftmütigen Geschöpfe zurück in die Tiefen des Ozeans. Kurz darauf nahmen die Haie wieder unsere Verfolgung auf. Ren kehrte zurück, und ich erklärte ihm niedergeschlagen: »Die Wale sind fort. Ich konnte nicht zulassen, dass sie sich für uns opfern.«

»Ich verstehe.« Ren tätschelte mir sanft den Arm. »Wir werden ihm Mann gegen Mann gegenübertreten. Anscheinend ist es das, was er will.«

Ich nickte. »Er will mich lebend.«

»Er wird dich niemals in die Finger bekommen.«

Wir sahen uns einen kurzen Moment tief in die Augen, und ich nickte in der Hoffnung, dass seine Entschlossenheit allein genügen würde.

Lokeshs Schiff war nun nahe genug, dass ich Gestalten auf dem Deck ausmachen konnte. Es war nicht so groß wie unseres, aber sehr leistungsstark und schnell. Eine riesige Harpune war auf dem Oberdeck montiert. Männer drängten sich über die Takelage und auf den Decks, suchten Schutz hinter Boxen und Kisten. Nur Lokesh stand aufrecht und unerschrocken da, während das Boot sich uns näherte. Als er mich entdeckte, verschwamm sein Bild und zeigte eine jüngere Version seiner selbst. Unverfroren und forsch grinste er mich an, streckte die Hand nach mir aus und winkte mich zu sich.

Ich trat zwischen Ren und Kishan und schüttelte den Kopf. Lokesh runzelte die Stirn und erteilte einen Befehl. Die Brüder waren bereit. Kishan warf die Chakram, und Ren benutzte das Göttliche Tuch, um die Männer festzubinden und sie in Reichweite der Haie über der Reling baumeln zu lassen. Leider ließen sich die Haie nicht ablenken. Ihre weit aufgerissenen Kiefer schnappten nach uns, sobald sie an die Oberfläche kamen. Die Chakram trennte einem unserer Gegner den Arm ab und schlitzte einem anderen die Brust auf, bevor sie in einem weiten Bogen zurückkehrte.

Rens Blicke ruhten allein auf Lokesh, der ihn anlächelte und mit ausladender Handbewegung zu sich an Bord einlud. Ich zückte den Bogen und schoss eine schnelle Abfolge an Pfeilen ab, einer sogar mit meinem Blitz aufgeladen. Ich traf zwei Männer und verursachte eine kleinere Explosion am Heck, aber eigentlich hatte ich auf Lokesh gezielt. Er schien sich des Windes zu bedienen, um den Kurs unserer Waffen abzulenken.

Lokesh bewegte den Arm, und sein Schiff schnellte vorwärts. Die Jacht schaukelte heftig, als sich das schwarze Boot in einer Explosion aus gesplittertem Holz und kreischendem Metall in unsere Seite rammte. Hastig wurde eine Rampe zu unserem Schiff gelegt, und Kampfgeschrei erscholl, als unzählige Männer unser Oberdeck fluteten.

Ren sprang vom Dach des Steuerhauses und ließ sich sechs Meter in die Tiefe fallen, wo er geschmeidig auf dem Deck darunter landete. Kishan folgte ihm, und ein weiterer Schlachtruf hallte in der Luft – der Schlachtruf des Hauses Rajaram. Ich kletterte die Leiter hinab und stürzte ihnen hinterher. Kishan benutzte die Chakram und seine Klauen, verwandelte sich zwischen jedem Wurf rechtzeitig von einem Tiger in einen Menschen zurück, um sie wieder aufzufangen. Sobald die Angreifer den wilden schwarzen Tiger erblickten, blieben einige taumelnd stehen und kamen zu dem Entschluss, lieber Ren zu bekämpfen, doch der war ebenso gefährlich.

Ren benutzte die Spitzen des Dreizacks wie Sai-Messer, stürzte sich ins Kampfgewühl wie ein Fuchs in einen Hühnerstall. Seine Messer wirbelten so schnell, dass er wie ein menschgewordener Mixer aussah, während er alles aufschlitzte, was in seine Nähe kam. Ich ging in Deckung und schaltete unsere Gegner entweder mit Pfeilen oder meinem Blitzschlag aus. Lokesh war verschwunden. Ich suchte nach ihm, doch er hielt sich irgendwo versteckt.

Wir hatten zwei Dutzend Männer niedergemetzelt, aber ein unerschöpflicher Strom an Gegnern tauchte auf unserem Schiff auf. Diesmal trugen sie keine Schusswaffen, was mich wunderte. Lokesh wusste, dass Ren und Kishan nicht getötet werden konnten. Und obwohl es sich bei diesen Männern um moderne Piraten handelte, kämpften sie mit Messern, Macheten und anderen altertümlichen Waffen. Ich konnte nirgends eine Pistole sehen. Es war mehr ein Blutbad denn ein echter Kampf. Die schiere Überzahl der Piraten war der einzige Grund, weshalb wir noch nicht gewonnen hatten.

Mr. Kadam und Nilima gesellten sich zu mir an Deck. Sie war mit einem Messer bewaffnet, er mit einem Samurai-Schwert.

»Wer lenkt das Schiff?«, flüsterte ich, während ich einen Pfeil abfeuerte und mich über den spitzen Schmerzensschrei des Piraten freute, der Kishan gerade ein Messer in den Rücken hatte rammen wollen.

»Das ist unnötig«, entgegnete Mr. Kadam. »Uns ist der Treibstoff ausgegangen. Wir haben den Anker geworfen und wollten Ihnen helfen, das Schiff von diesen Halunken zu befreien.«

»Aber Nilima …«

»Ist voll ausgebildet im Kampfsport und in der Waffenkunst. Ihr wird nichts geschehen. Und es ist höchste Zeit, dass dieser alte Mann hier aufhört, an der Seitenlinie zu sitzen, während die jüngeren Männer den ganzen Spaß haben.« Mr. Kadam grinste.

Gemeinsam stürzten wir drei uns ins Schlachtgewühl. Nilima war tödlich. Die Männer blieben tatsächlich stehen, sobald sie auftauchte, und lächelten die wunderschöne Frau an. Sie hingegen streckte einen Gegner nach dem anderen nieder, die ihr tot vor die hübschen Füße fielen.

»Zumindest sterben sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht«, schnaubte ich.

Mr. Kadam kämpfte wie ein echter Schwertmeister. Würdevoll und elegant entschlüpfte er seinen Angreifern, bevor sie ihn auch nur berührten. Er hielt sich nicht mit Kämpfen auf, sondern entwaffnete die Männer so schnell wie möglich und kümmerte sich dann um den nächsten. Sein leuchtendes Schwert funkelte in der Sonne.

Nachdem wir uns der Piraten entledigt hatten, fand ich mich Rücken an Rücken mit Ren wider. Erneut rätselte ich über Lokeshs Plan. Da musste es etwas geben, das ich übersah. Die Piraten hatten offensichtlich den Befehl bekommen, mir kein Härchen zu krümmen, auch wenn mehrere von ihnen erfolglos versucht hatten, mich zu entführen. Leichen pflasterten das Deck. Warum benutzen sie keine Betäubungsgewehre? Dieser Kampf ist ein Kinderspiel.

Ren besiegte einen riesigen Angreifer und zischte: »Ich will nicht, dass du hier oben bist. Wir kommen gut zurecht. Geh wieder in Deckung, so wie vorher. Dann bist du zumindest außer Sichtweite.«

»Du brauchst mich.«

»Ich werde dich immer brauchen. Das ist der Grund, weshalb ich dich in Sicherheit wissen will. Bitte geh zurück.« Er drehte dem Mann den Rücken zu, der ihn gerade angriff, und flehte mich mit seinen Augen an. Ich seufzte und pustete den Mann mit meinem Blitzstrahl um, dann nickte ich mit dem Kopf. Der Kampf wäre sowieso bald vorüber. Mit Nilima und Mr. Kadam an ihrer Seite bliebe mir fast nichts zu tun.

»In Ordnung, aber hebt ein paar für mich auf.«

Ren grinste. »Kein Problem. Und, Kelsey?«

»Was gibt’s noch?«, fragte ich, während er einem Kerl den Ellbogen ins Gesicht rammte, ohne ihn überhaupt eines Blickes zu würdigen.

»Ich liebe dich.«

Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich liebe dich auch.«

Ren stürzte sich mit einem Freudenschrei in die Menschenmenge. Ich schulterte meinen Bogen und joggte zurück zu meiner kleinen Nische, wo ich einen Pfeil zog und mir ein neues Opfer suchte. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich ihnen Deckung gab und mich um die Männer kümmerte, die den anderen gefährlich nahe kamen. So fühlte ich mich immer noch als Teil des Kampfes, auch wenn ich außen vor war. Meine goldenen Pfeile flogen schnurgerade, und meine Blitzkraft traf stets ins Schwarze.

Ich schloss ein Auge, visierte mit dem anderen das gegnerische Schiff an – und keuchte auf. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, aber es war zu spät. Der Mann, den ich gesichtet hatte, hatte die Harpune bereits geladen und feuerte. Der riesige Bolzen schwirrte auf Nilima zu. Er würde sie töten.

Mr. Kadam sah ihn ebenfalls. Er rief: »Nilima!« und trat vor sie, riss sie an seine Brust.

Ich kreischte: »Vorsicht!«, ließ meinen Bogen fallen und taumelte aus meinem Versteck.

Sie waren fort! Ich suchte das Deck nach ihren gepfählten Körpern ab, aber sie waren nicht da. Die Harpune hatte das Deck gestreift und sich tief in das zersplitterte Holz gebohrt, doch Mr. Kadam und Nilima waren verschwunden.

Eine Stimme hinter mir sagte: »Da ist sie!« Drei Nadelstiche trafen mich. Einer in die Schulter, einer in den Oberschenkel und einer in den Arm.

»Nein!« Ich stolperte zur Wand und presste eine zitternde Hand dagegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Wütend riss ich mir die Pfeile aus dem Körper. Schwere Arme hoben mich hoch und warfen mich über eine kräftige Schulter. Ich versuchte zu rufen, aber meine Stimme war ein leises Wispern im Vergleich zu dem Wirbelsturm an Geräuschen im Kampfgeschehen.

Der bullige Mann kletterte mit mir über der Schulter auf wackeligen Beinen die provisorische Leiter hinunter, die sie benutzt hatten, um an Bord zu kommen. Ich versuchte, ihn mit einem Blitzschlag zu verwunden, doch meine Kräfte versagten. Ich drosch mit den Armen auf ihn ein, aber er lachte nur über meinen kläglichen Versuch.

Lokesh war nicht bei ihnen, was eine Erleichterung war, auch wenn ich wusste, ich würde ihn in nicht allzu ferner Zukunft zu Gesicht bekommen. Jetzt wusste ich auch, warum der Kampf, wenn auch blutig, so doch sehr einseitig verlaufen war. Es war eine Falle gewesen. Es kümmerte ihn nicht, ob all diese Männer starben. Mein Körper fühlte sich schwer an, und meine Augen begannen, sich flackernd zu schließen. Die Zeit drängte.

Nachdem sie mich mit drei Betäubungspfeilen getroffen hatten, waren die Männer so selbstgefällig, mich nicht zu fesseln. Stattdessen waren sie damit beschäftigt, das Boot zu starten und die Haie mit Rudern abzuwehren. Anscheinend waren die Haie meine persönliche Eskorte. Zitternd hob ich langsam die Hand an meinen Hals, und als das Boot über eine kleine Welle hüpfte, riss ich mir das Amulett ab. Ich wimmerte und drehte mich auf die Seite, als würde ich das Bewusstsein verlieren, und flüsterte der goldenen Schlange an meinem Arm meine Befehle zu.

Langsam, vorsichtig streifte ich Fanindra von meinem Arm und schlang ihr die Kette mit dem Amulett mehrmals um den Hals. Mein Arm war schwer, und sie zum Rand des Boots zu heben, schien unmöglich. Ich versuchte es und scheiterte. Mein betäubter Arm zuckte.

»He! Was tust du da?« Ein Pirat drehte sich um, packte meinen Ellbogen und quetschte ihn schmerzhaft. Seine Augen leuchteten auf, als er das Aufblitzen von Gold sah. Er beugte sich herab, und Fanindra erwachte zu Leben, spreizte die Haube und zischte.

»Vorsicht, Schlange!«, bellte er und flitzte zur anderen Seite des Boots. Ich nutzte den Vorteil aus, dass er mehrere Schritte entfernt war, konzentrierte mich auf Fanindra, schluckte schwer und versuchte mit aller Gewalt, die Wellen der Dunkelheit, die gegen mein Bewusstsein schlugen, zu vertreiben. Mit allerletzter Kraft schob ich Fanindras goldenen Körper über den Rand des Boots und lächelte, als ich hörte, wie sie mit einem lauten Platschen aufs Wasser auftraf.

»Das wird dem Boss nicht gefallen«, sagte einer der Männer.

»Dann werden wir es ihm nicht erzählen, okay? Ich habe nicht vor, als Haifutter zu enden.«

»Einverstanden. Das bleibt unser Geheimnis.« Der Mann beugte sich vor, und sein muffiger Atem hüllte mich ein wie eine Wolke. »Keine Tricks mehr, Lady. Der Boss hat uns alles über dich erzählt.«

Ich konnte nicht antworten, obwohl mir ein paar ausgewählte Worte auf der Zunge lagen. Wir glitten über eine Welle, und mein gelähmter Körper knallte auf den Boden des Bootes. Meine letzten Gedanken galten Ren und Kishan.

Ich wusste, sie hatten den Kampf überlebt und waren listig genug, um zu entfliehen. Zumindest hatte ich geholfen, ihnen achtzehn Stunden zurückzugeben. Eine Träne quoll aus meinen geschlossenen Augen und rollte meine Wange hinab. Eine weitere fiel auf die andere Seite. Ich fand es nur richtig, dass ich eine Träne für jeden meiner Tiger vergoss, denn ich liebte sie beide.

Phet meinte, ich müsste mich entscheiden. Etwas, worüber ich mir monatelang den Kopf zerbrochen hatte. Aber damals hatte ich seine Worte nicht verstanden. Jetzt wusste ich, was er gemeint hatte. Ich musste mich nicht zwischen ihnen entscheiden. Ich konnte mich einfach dafür entscheiden, sie zu retten. Beide. Sie würden leben, wenn ich mich Lokesh opferte. Nicht dass ich nicht kämpfen und alles geben würde zu fliehen, aber käme eine Flucht nicht infrage, wäre dies das letzte Geschenk, das ich meinen Tigern machen konnte.

Durga hatte gesagt: »Reue wird nur von jenen empfunden, die den Sinn des Lebens missverstehen.«

Ich kenne jetzt den Sinn meines Lebens, und ich bereue nichts. Wenn sie leben, wird sich mein Opfer gelohnt haben. Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und ich kämpfte nicht länger gegen die Bewusstlosigkeit an, sondern versank in einem dunklen Schlaf.