12

Etwas Neues

Essen wir nicht immer gemeinsam zu Abend?«, lachte Kishan.

»Ich … wollte dich auf ein Date einladen«, murmelte ich leise.

Kishan stand still da und starrte mich an, bis ich nervös zu zappeln begann.

Wie schaffen das die Jungs nur immer? Das ist so nervtötend. »Nun?«, fragte ich ungeduldig. »Willst du mit mir ausgehen oder nicht?«

Kishan machte einen Schritt auf mich zu und berührte meine Wange. »Ja, ich würde heute Abend sehr gerne mit dir essen gehen. Sollen wir uns irgendwo in der Stadt treffen?«

Ich dachte einen Moment über seinen Vorschlag nach. »Ja. Das wäre wahrscheinlich die einfachste Lösung.«

»Und wir wären allein.«

Ich nickte. Kishan grinste und nannte mir das Restaurant, in dem wir uns treffen würden. Ich lächelte verunsichert zurück und floh aus dem Fitnessraum. Auf einmal überkam mich das dringende Bedürfnis zu fliehen, vom Schiff zu stürzen und eine Weile allein zu sein. Vielleicht hilft eine kleine Shopping-Therapie, hoffte ich.

Mr. Kadam war einverstanden, dass ich mir den Jeep auslieh und allein in die Stadt fuhr, solange ich mich alle zwei Stunden bei ihm meldete. Er gab mir mehrere Kreditkarten, die auf K. H. Khan ausgestellt waren, denselben Namen, der auch in meinem Pass stand, und ermahnte mich, die Belege richtig zu unterschreiben. Ich parkte den Wagen in der Stadt, überprüfte, ob mein Handy Empfang hatte, und marschierte los.

Ich betrat das erstbeste Kleidungsgeschäft und suchte mir eine malvenfarbene, mit Kristallperlen und Pailletten bestickte Bluse aus. Die langen Ärmel lagen am Oberarm eng an und kräuselten sich am Handgelenk. Passend dazu kaufte ich silberfarbene Sandalen und Kreolenohrringe und suchte im nächsten Geschäft eine dunkle Jeans aus. Es würde schön sein, bei meinem Date etwas Neues zu tragen.

Ich verbrachte einen angenehmen, unbekümmerten Nachmittag, während ich durch die Märkte und Geschäfte schlenderte. Die meisten Verkäufer sprachen zumindest ein paar Brocken Englisch. Ich meldete mich häufig bei Mr. Kadam, damit er nicht in Versuchung geriet, die Kavallerie nach mir auszuschicken, und kaufte einen eisgekühlten Fruchtshake, an dem ich im Gehen nippte.

Dann kam ich an einem Friseursalon vorbei und hörte das angeregte Plaudern und Lachen mehrerer Frauen. Aus einer Laune heraus drehte ich mich um und schlüpfte durch die Tür. Eine hübsche Frau mittleren Alters näherte sich.

»Hallo, Miss. Möchten Sie einen Haarschnitt?«

»Einen Haarschnitt?«

»Oder nur waschen und föhnen?«

Unwillkürlich zog ich an meinem Zopf, der mir über die Schulter hing.

»Ein neuer Haarschnitt? Ja. Warum eigentlich nicht?«

Sie lächelte mich an und führte mich zu einem Stuhl. Seit meiner Abschlussfeier an der Highschool hatte ich keine neue Frisur mehr gehabt. Normalerweise machte ich mir nicht groß Gedanken um meine Haare, aber auf einmal schien es genau das Richtige zu sein. Es war Zeit für eine Veränderung. Die Friseurin brachte mir ein Buch mit verschiedenen Frisuren, die ich mir anschauen sollte, doch ich wehrte ab und bat stattdessen um ihre persönliche Meinung. Sie drehte meinen Kopf in verschiedene Richtungen und Winkel und betrachtete mit ernster Miene meine Gesichtsform.

»Ich denke, ich habe genau das Richtige für Sie. Vertrauen Sie mir, und Sie werden umwerfend aussehen.«

»Okay.«

Nachdem sie mir die Haare gewaschen hatte, reichte sie mir eine Klatschzeitschrift. Einige kurze Artikel waren auf Englisch, aber ich schaute mir lieber die Bilder der Bollywood-Schauspieler und -Schauspielerinnen an. Eine junge Frau kam mit einem Rollwagen voller Nagellacke vorbei und fragte, ob sie mir die Hände maniküren sollte.

»Sicher, warum nicht? Ich habe heute Abend ein Date, also kann ich ruhig etwas Geld verprassen.«

Sie löcherten mich mit Fragen über den Mann, mit dem ich mich treffen wollte, und ich durfte Kishan bis ins kleinste Detail beschreiben. Sie schnatterten aufgeregt und erkundigten sich, ob er nicht einen Bruder hätte. Ich schnaubte und sagte nichts. Anscheinend waren sie alle Single und suchten nach einer guten Partie, waren jedoch bisher nicht fündig geworden. Sie seufzten und beschwerten sich, dass alle guten Männer der Stadt längst vergeben wären. Angeblich gab es hier doppelt so viele Frauen wie Männer, und sie verkündeten, ich hätte Glück, einen solch netten Mann gefunden zu haben.

Ich nickte und biss mir auf die Lippe. Huch. Das erklärt wohl die Mädchentraube um Ren. Auch wenn das im Grunde nicht stimmte. Egal, wo er war, Frauen würden sich immer um ihn reißen. Möglicherweise war er längst verlobt oder hatte zumindest ein Dutzend Anträge bekommen.

Ich wählte einen malvenfarbenen Nagellack, der farblich perfekt zu meiner Bluse passte, und beobachtete, wie die Kosmetikerin vorsichtig meine Zehennägel lackierte.

Ich keuchte erschrocken auf, als ich die ersten zehn Zentimeter nasses Haar zu Boden fallen sah, fasste mich dann aber und rief mir ins Gedächtnis, dass es Zeit für ein neues Ich war. Die Friseurin föhnte mein Haar und verbrachte fünfundvierzig Minuten darauf, es mit einem Lockenstab zu bearbeiten und hochzustecken. Als sie mir einen Spiegel reichte, war ich geschockt. Sie erklärte, dass mir das Haar nun bis knapp über die Schulter ginge und gestuft wäre. Eine Unmenge an Locken rahmte mein Gesicht und kitzelte meinen Nacken bei jeder Bewegung. Mein Haar fühlte sich leicht und federnd an. Hinter einem Vorhang durfte ich meine neue Kleidung anziehen, und sie boten mir sogar an, mein Make-up aufzufrischen. Ich nahm das Angebot dankend an und verließ den Salon mit einer neuen Garderobe, einem neuen Haarschnitt und einem neuen Ausblick aufs Leben. Nachdem ich den Frauen ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte, fuhr ich zu dem Fischrestaurant Seven Seas, das Kishan ausgesucht hatte.

Ich kam etwas zu früh. Der Kellner führte mich zu einem Tisch und brachte mir eiskaltes Zitronenwasser. Ich beobachtete die Passanten und hörte das Motorrad, noch bevor ich es sah.

Kishan bremste scharf, nahm seinen Helm ab und sah sich um. Er trug dunkelblaue Jeans, die an den Oberschenkeln ausgeblichen waren, sowie ein langärmeliges graues Hemd mit feinen Stickereien an der Brust und dem Rücken. Sein Haar war frisch gewaschen, noch etwas feucht und länger als Rens.

Er war unerhört attraktiv, aber was noch besser war, er war ein guter Mensch, den ich als echten Freund betrachtete. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis ich ihn von Herzen liebte. Er betrat das Restaurant und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Seine Augen glitten über mich hinweg, schossen dann wieder zurück und wurden groß, als er mein verändertes Äußeres bemerkte. Lächelnd kam er auf den Tisch zu.

Er senkte den Kopf und gab mir einen warmen Handkuss. »Du siehst wunderschön aus. Ich habe dich fast nicht wiedererkannt.«

»Vielen Dank.«

Er schob seinen Stuhl zurück.

»Mir gefällt die Farbe«, sagte er mit einem Fingerzeig auf die Bluse. »Sie lässt deine Haut wie Sahne schimmern.«

»Vielen Dank.«

Eingehend betrachtete er mein Erscheinungsbild. »Du hast dir die Haare schneiden lassen.«

»Ja. Gefällt’s dir?«

»Das kommt drauf an. Wie lang sind sie denn?«

Ich zog eine Locke glatt zum Beweis, dass sie nun bis knapp unter die Schulter reichte.

Er schnaubte. »Das ist immer noch lang genug, also gefällt es mir.«

»Lang genug wofür?«

»Lang genug, damit ein Mann mit den Fingern durch dein Haar fahren kann.«

Ich errötete, und er lächelte mich vergnügt an, wobei seine goldenen Augen schelmisch funkelten.

Kishan nahm seine Speisekarte und blickte mich über den Rand hinweg an. »Kann ich dich etwas fragen? Warum wolltest du mit mir ausgehen?«

Der Kellner kam genau in dem Moment, als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, und verschaffte mir Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Kishan bestellte eine Vorspeise für zwei und ein Wasser für sich, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder mir zuwandte, jedoch geduldig meine Antwort abwartete.

Ich nahm meine Serviette und drehte sie nervös in den Händen. »Ich habe dich zu einem Date eingeladen, weil … es der richtige Zeitpunkt war.«

»Bist du sicher, dass es nichts mit Ren zu tun hat?«

Ich verzog das Gesicht. »Ganz ehrlich? Das mag eine Rolle gespielt haben. Ich war gestern Abend sehr wütend, aber mir gefällt dieses Gefühl nicht. Ich würde mich lieber darauf konzentrieren, glücklich zu sein, und mich mit ihm zu befassen, macht mich nicht glücklich.«

Er beugte sich über den Tisch und umfing eine meiner Hände. »Du musst nicht mit mir zusammen sein, Kells. Nur weil ich Gefühle für dich habe, bedeutet das nicht, dass du dich dementsprechend verhalten sollst. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, egal was geschieht.«

»Das weiß ich. Ich fühle mich zu überhaupt nichts verpflichtet. Ich kann nicht sagen, dass es mir leichtfallen wird, ihn zu vergessen, insbesondere da er auf demselben Schiff ist, aber ich würde es gerne versuchen.«

Nachdenklich bohrten sich Kishans goldene Augen in meine. Dann nickte er und wechselte das Thema, als unsere Vorspeise serviert wurde. Das ganze Abendessen hindurch unterhielten wir uns prächtig, und er gab lustige Geschichten zum Besten, wie es damals gewesen war, als Prinz aufzuwachsen und im Dschungel zu jagen.

Nach dem Essen fragte er mich, ob ich Lust auf eine Spritztour habe. Die zweite Fahrt war genauso aufregend wie die erste. Wir legten auf einem Hügel eine Pause ein, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Kishan schob mich vor sich, damit ich mich in seinen sicheren Armen an seiner Brust anlehnen konnte.

Er sagte nichts, und ich entspannte mich, genoss die Geborgenheit, die ich in seiner Nähe verspürte. Als wir diesmal auf den dunklen Straßen zurücksausten, empfand ich es nicht mehr als unangenehm, ihm die Arme um die Taille zu schlingen, und ich rückte sogar ein Stück näher an ihn heran. Zurück auf dem Schiff, erinnerte ich mich schlagartig, dass der Jeep noch immer in der Stadt geparkt war. Kishan half mir vom Motorrad und versicherte, dass eines der Crewmitglieder den Wagen am nächsten Morgen abholen würde.

Händchenhaltend spazierten wir ein wenig übers Deck. Später, als Kishan mich zu meiner Kabine brachte, blieb er vor meiner Tür stehen und hob meine Hand an seine Lippen. »Wir können das so langsam angehen, wie du möchtest. Ich will dich auf keinen Fall unter Druck setzen.«

Ich nickte, und vielleicht, um uns beiden etwas zu beweisen, legte ich ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Kishan.«

Er lächelte und wickelte sich eine meiner Locken um den Finger. »Gute Nacht, Bilauta

Am nächsten Tag verließ Wes das Schiff, und ich war wirklich traurig, dass er schon gehen musste. Unser Tauchkurs war beendet, und wir hatten alle mit Bravour bestanden.

Kishan klopfte an unserer Verbindungstür und fragte, ob ich fertig sei. Als ich hinüberging, nahm Kishan mein Haar noch einmal genau unter die Lupe. Ich hatte am Abend alle Haarnadeln herausgezogen, und jetzt fiel es mir sanft über die Schultern. Er strich mit der Hand durch meine Locken, lächelte und küsste meine Stirn.

Als Wes schließlich im Brunnendeck erschien und meine neue Frisur sah, stieß er einen Pfiff aus und grinste, was tiefe Grübchen in seine Wangen zauberte. Ich entschuldigte mich, weil ich ihm seine Party verdorben hatte, worauf er jedoch galant antwortete, dies wäre der beste Teil des Abends gewesen. Kishan und Wes schüttelten sich die Hände, und ich umarmte ihn zum Abschied.

»Viel Glück bei allem, Kelsey«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ich werde ganz sicher ab und an mal an dich denken.«

»Ich werde dich auch vermissen.«

Wes machte einen Schritt nach hinten, tippte zum Gruß mit dem Finger an die Krempe seines imaginären Cowboyhuts und schulterte seinen Rucksack. Dann zwinkerte er mir zu und sagte verschmitzt: »Wenn du diese beiden irgendwann satt hast, ruf mich an.«

»Das werde ich.« Ich lachte.

Während wir Wes nachsahen, wie er die Rampe hinabschlenderte, vernahmen wir das laute Klackern von Stöckelschuhen, das hastig näher kam.

Kishan zerrte ungeduldig an meinem Arm. »Lass uns gehen, Kells.«

»Warum die Eile?«, fragte ich.

Er versteifte sich, und im nächsten Moment hörten wir die gekünstelte, schrille Stimme einer Frau: »Du bist ein solcher Schatz! Mich einzuladen, damit ich ein paar Tage mit dir hier verbringen darf!«

Ich spähte über Kishans großen Bizeps und erblickte Ren, der Arm in Arm mit einer Frau aufgetaucht war. Unsere Blicke verwoben sich für den Bruchteil einer Sekunde, dann straffte er sich und sah mich grimmig an. Ich starrte ebenso wütend zurück, doch Ren schaute rasch weg und lächelte die leicht bekleidete, kurvige Blondine an, die wie ein Blutegel an seinem Arm klebte. Sie stolzierte die Rampe herauf und stöckelte mit herausgestreckter Brust an Kishan und mir vorbei.

»Oh! Die Garage ist so riesig! Ist das ein Motorrad unter der Abdeckplane? Ich liebe Motorräder. Besonders, wenn sie großen, starken Männern gehören«, schnurrte sie.

»Die Garage ist nicht besonders interessant«, sagte Ren. »Komm weiter, Randi. Ich zeige dir lieber den Pool.«

Die blonde Barbie drehte sich zu uns um. Ihr Blick huschte abschätzig über mich hinweg, bevor sie Kishan ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Ihre aufgespritzten Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. »Eine Sekunde, Liebster. Du hast mich noch gar nicht vorgestellt.«

Ren näherte sich steif und sagte: »Das ist mein Bruder, Kishan, und das ist Kelsey.«

»Ich bin entzückt, dich kennenzulernen.« Sie schlenderte herbei und legte Kishan dreist die Hand auf den Bizeps. »O mein Gott, ihr in Indien seid aber prächtig gebaut.«

»Das ist Randi«, beendete Ren die Vorstellungsrunde.

Randi wandte sich mir zu, als ich sie fragte, ob sie aus Amerika stamme.

Sie klimperte hübsch mit den Wimpern. »Amerika? O ja. Ich bin aus Beverly Hills. Und woher kommst du?«

»Oregon.«

Sie rümpfte die Nase. »Ich könnte niemals in Oregon leben. Ich brauche die Sonne. Oregon ist mir viel zu kalt. Würde ich dort wohnen, könnte ich nicht am Strand liegen. Aber wie man sieht, sonnst du dich sowieso nicht besonders gerne, also ist Oregon vielleicht doch der perfekte Ort für dich. Ich finde, jeder sollte seinen Platz in der Welt kennen. Das würde das Leben so viel einfacher machen, nicht wahr? War nett, dich kennenzulernen.«

Randi lächelte mich boshaft an, so wie die Gewinnerin eines Schönheitswettbewerbs die Zweitplatzierte anlächeln würde.

»Na los, Liebling!« Sie zwinkerte Kishan zu, bevor sie Ren folgte. Randi ging jedoch die Treppe nicht hinauf – sie tänzelte mit wackelndem Hintern nach oben. Dann strich sie mit dem Finger über Rens Arm und zwitscherte: »Willst du schwimmen? Ich habe nur einen Bikini dabei, und der darf eigentlich nicht nass werden.«

»Ich bin sicher, wir können dir einen neuen besorgen«, erwiderte er.

»Oh, du bist ein solcher Schatz.« Sie lehnte sich an ihn und drückte ihm einen feuchten Kuss auf den Mund, da verschwanden die zwei zum Glück auch schon um die Ecke.

Kishan und ich standen einen Moment schweigend da, dann sagte er: »Du kannst den Mund jetzt zumachen, Kells.«

»Was? Wer? Wie? Warum ist sie hier?«

Er seufzte. »Sie ist ein Mädchen, das Ren gestern Abend kennengelernt hat. Eigentlich wollte ich das mit dir besprechen, gleich nachdem Wes abgereist ist.«

»Du wusstest von ihr und dass sie … so ist?«

»Ja und nein. Ich habe sie noch nie gesehen. Ren hat mir nur von ihr erzählt.« Kishan runzelte die Stirn. »Das Schiff ihrer Eltern liegt in Trivandrum im Hafen. Die gute Nachricht lautet, dass die Deschen in ein paar Tagen in See sticht, weshalb sie nicht lange hierbleiben kann.«

»Ich mag sie nicht.«

»Hm. Wir werden uns alle Mühe geben, den beiden aus dem Weg zu gehen. Wie hört sich das an?«

»Fantastisch.«

Aber Ren aus dem Weg zu gehen, wenn er nicht gemieden werden wollte, war schier unmöglich. Später an diesem Nachmittag saß ich draußen an Deck in einem der bequemen Lounge-Sessel und las. Ein Schatten fiel über meine Beine.

»Schon zurück?«, fragte ich in der Annahme, es wäre Kishan.

»Nein.«

Ich beschattete die Augen mit der Hand und blickte auf. Ren starrte wütend zu mir herab. Seine Hände waren an den Seiten zu Fäusten geballt. Ich legte mein Buch weg und fragte: »Ist etwas passiert? Was ist los?«

»Was passiert ist? Was passiert ist? Du hast dir die Haare geschnitten.«

»Ja. Stimmt. Na und?«

»Na und?«, fragte er ungläubig. »Sie sind jetzt so kurz, dass du sie nicht mehr flechten kannst!«

Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und zog eine Locke nach vorne, um sie mir genau anzusehen. »Hm … womöglich hast du recht. Ich könnte mir vielleicht kleine, dünne Zöpfe machen, aber das ist doch egal. Mir gefällt es so.«

»Nun, mir nicht!«

Ich runzelte die Stirn. »Was genau regt dich eigentlich so auf?«

»Ich kann nicht glauben, dass du einfach losgezogen bist und dir die Haare hast schneiden lassen, ohne … irgendjemandem etwas davon zu erzählen.«

»Frauen tun das ständig. Außerdem geht es dich überhaupt nichts an, was ich mit meinem Haar anstelle, und Kishan gefällt es im Gegensatz zu dir.«

»Kishan …«

Sein Kiefer mahlte, und er wollte gerade etwas sagen, als ich ihn unterbrach. »Wenn du ein Mädchen mit Zöpfen sehen willst, warum bittest du dann nicht einfach deine neue Freundin? Ich bin sicher, Miss Beverly Hills wäre entzückt. Sie spielt sicherlich gerne deine Heidi. Wo ist sie überhaupt? Behalt sie lieber gut im Auge, denn ansonsten schleicht sie sich davon und umgarnt jemand anderen. Und jetzt, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne weiterlesen.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Ren mehrmals die Fäuste ballte und löste, während ich so tat, als würde ich mich wieder in mein Buch vertiefen. Schließlich wandte er sich ab und stürmte zornentbrannt durch die Schiebetür.

Ich sah Ren und seine neue Freundin beim Abendessen wieder. Kishan und ich hatten gerade unsere Teller vollgeladen und uns hingesetzt, als sie erschienen. Nilima und Mr. Kadam saßen an der Stirnseite des Tischs und unterhielten sich leise.

»Oh, wie wundervoll! Ich bin am Verhungern«, rief Randi und eilte zum Büfett, wobei sie Ren warnend zuraunte, weder von dem Hühnchen noch den Shrimps zu kosten.

Sie nahm uns gegenüber Platz und erklärte: »Ich achte sehr auf meine Ernährung. Ich esse nur Gemüse und gelegentlich etwas Obst. Ansonsten könnte ich mein Gewicht nicht halten.«

Auf ihrem Teller lagen ein paar Salatblätter und eine dünne Scheibe Mango. Behutsam schob sie mit einem Buttermesser die Croutons weg. Ich sah zu Ren. Er starrte auf seinen Gemüseteller wie ein Mann, der gerade zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.

Randi fuhr eifrig fort: »Ich habe noch nie Fleisch in irgendeiner Form zu mir genommen. Nicht einmal Eier oder Milch. Tiere sind einfach so schmutzig. Ich kann mir nicht vorstellen, sie zu essen. Ich mag auch keine Haustiere. Insbesondere Katzen sind mir ein Gräuel. Ihr Fell ist so dreckig. Sie lecken jeden Teil ihres Körpers. Und ihre kleinen Pfötchen berühren einen überall.« Sie schauderte. »Ich finde, Tiere sollten in Zoos gehalten werden, ihr nicht auch? Immerhin sind sie zu rein gar nichts nütze.«

Ich kicherte vernehmlich, nahm einen Bissen von meinem Hühnchen und nippte an meinem Papayasaft.

Sie lehnte sich zu mir und sagte in unüberhörbarem Flüsterton: »Du weißt doch hoffentlich, dass du von Papayasaft fett wirst. Mein Personal Trainer sagt, man muss Zucker in jeder Form vermeiden.« Ihr Blick glitt zu meiner Hüfte. »Aber wie es scheint, ist es dir nicht besonders wichtig, auf deine Figur zu achten.« Sie lächelte Kishan zuckersüß an, der verwirrt die Stirn runzelte. »Eine Frau sollte immer versuchen, das Beste aus ihrem Körper zu machen, nicht wahr?«

Ren hob den Kopf, lächelte sie an und sagte: »Ja, und deine Figur ist … umwerfend.«

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, und Ren stocherte wieder in seinem Essen.

Kishan legte seine Gabel beiseite, starrte Ren ungläubig an und sagte: »An Kelseys Figur ist überhaupt nichts auszusetzen.« Dann stand er auf und eilte mit seinem leeren Teller zum Büfett.

Heimlich kniff ich mir in den Bauch. Für mein Empfinden war er ziemlich flach. Natürlich hatte ich nicht die Maße eines Supermodels, aber das ganze Schwimmen und die Trainingseinheiten mit Kishan hielten mein Gewicht stabil. Kishan nahm meine Hand, drückte sie und hauchte einen Kuss auf meine Finger, bevor er sie wieder zurück in meinen Schoß legte. Ich lächelte ihn dankbar an. Er lächelte zurück und machte sich über seinen Nachschlag her. Ren bedachte seinen zur Hälfte geleerten Teller mit einem finsteren Blick. Da erklärte Barbie, sie wolle einen romantischen Spaziergang an Deck machen. Ren erhob sich rasch, führte sie fort, und wir alle konnten endlich aufatmen und den Rest des Abendessens genießen.

Mit Absicht zauberte uns Kishan einen riesigen Eisbecher mit allem erdenklichen Schnickschnack herbei, und wir amüsierten uns blendend, indem wir uns gegenseitig fütterten. Ich verfehlte »versehentlich« seinen Mund und schmierte ihm Eis an die Nase, während er »versehentlich« einen Löffel voll auf mein T-Shirt kleckerte. Anschließend waren wir nicht mehr zu halten. Er schnappte sich die Schüssel mit Schlagsahne, während ich mich mit der Schokoladensoße bewaffnete. Nilima und Mr. Kadam brachen hastig auf, und wir widmeten uns mit Hingabe unserer Essensschlacht.

Nach wenigen Minuten war unser Arsenal aufgebraucht. Wir standen da und bogen uns vor Lachen. Ein großer Klecks Schlagsahne glitt von meinem Haar zu meiner Wange, und Kishan war mit Schokoladensoße überzogen. Ich strich mit dem Finger an seinem Arm hinab und steckte ihn mir in den Mund.

»Mhm, du schmeckst köstlich.«

Er kratzte den Rest der Schlagsahne zusammen und schmierte sie mir auf die Wange. »Hm … Du bist noch nicht ganz fertig.« Er nahm das Fläschchen mit Schokostreuseln und schüttelte sie mit großer Geste über meinem Kopf aus, während ich verhalten lächelnd dastand und darauf wartete, dass er sein Kunstwerk beendete.

»Na schön. Fertig.«

Kishan legte mir die Arme um die Taille und zog mich an sich. Ich blickte in sein wunderschönes Gesicht und spürte, wie eine gewaltige Welle der Dankbarkeit und Liebe über mich hinwegrollte.

»Vielen Dank«, sagte ich leise.

Er lachte. »Wofür? Für die Schokostreusel?«

Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, dass du mich glücklich machst.«

»Jederzeit.« Kishan umarmte mich, und wir standen lange genug im Wind, dass wir anfingen, zusammenzukleben. »Sollen wir eine Runde im Meer schwimmen, um all das Zeug abzuwaschen?«

»Mit großem Vergnügen.«

Während wir zum Pier hinabspazierten, wobei wir die Hintertreppe benutzten, um den Teppich nicht zu beschmutzen, sagte er: »Diese Frau ist verrückt. Wie kann man nur ohne Zucker leben wollen?«

Ich grinste und verschränkte meine Finger mit seinen, als er mir den Arm um die Schulter legte. »Keine Ahnung. Was wäre ein Leben nur ohne etwas Süßes?«

Er pflichtete mir mit einem entschiedenen Nicken bei.

Am nächsten Tag gelang es Kishan und mir, Ren und Randi aus dem Weg zu gehen, indem wir unsere Mahlzeiten von der Goldenen Frucht zubereiten ließen und Picknicks veranstalteten. Zum Frühstück aßen wir Ei-Sandwiches und ließen die Beine über die Reling baumeln, und zu Mittag kletterten wir aufs Dach des Steuerhauses. Kishan zauberte mithilfe des Göttlichen Tuchs bequeme Kissen herbei und sprenkelte sie mit Seidenblumen.

Er legte mir eine schwere Leinenserviette auf den Schoß und benutzte eine weitere Serviette, um mir die Augen zu verbinden. Dann fütterte er mich mit einer Auswahl erlesenster Köstlichkeiten und ließ mich raten, was es war. Manche waren einfach, besonders die Früchte. Dips waren schwerer. Es gab sogar eine Birnentorte aus Shangri-La, die ich damals nicht probiert hatte. Ich revanchierte mich und wählte die sonderbarsten Gerichte aus. Er schmatzte jedoch nur genüsslich und erklärte bei jedem Happen, dass dieser besser sei als der letzte. Nachdem wir pappsatt waren, tranken wir erfrischende Traubenschorle, lehnten uns in die Kissen und beobachteten die Wolken.

Am Nachmittag wollten wir schwimmen, doch der Pool war bereits von Randi besetzt, die sich in einem winzigen roten Bikini sonnte, einem Hauch von Nichts, das von goldenen dünnen Kettchen zusammengehalten wurde. Innerlich stöhnte ich angewidert auf. Kishan und ich müssten wohl später schwimmen. Ich wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, da bemerkte sie mich.

»Oh, du bist das! Ich bin so froh, dass du hier bist. Könntest du ein Schatz sein und das Dienstmädchen, diese Nilima, zu mir schicken?«

»Nilima ist kein Dienstmädchen!«

Randi fuchtelte mit der Hand und drehte sich auf den Rücken, wobei sie bis ins kleinste Detail eine bestimmte Sonnencreme beschrieb, die sie unbedingt bräuchte. Ihr Oberteil bedeckte kaum ihren wogenden Busen.

Die beiden Brüste sahen zu perfekt aus, um echt zu sein, und ich fragte mich kurz, wie viel sie wohl gekostet haben mochten. Wow. Und was, wenn eine platzt? Ich kicherte.

»Das ist nicht lustig«, sagte sie matt. »Wenn du auch nur einen Gedanken an deine Haut verschwenden würdest, würdest du verstehen, warum ich ausgerechnet diese Sonnencreme brauche. Es wäre natürlich viel leichter, so unreine, unebene Haut wie du zu haben. Nun, niemand erwartet von dir, dass du hübsch bist. Du stehst nicht unter demselben Druck wie ich. Falten mögen dir vielleicht keine Albträume bereiten, mir schon.«

Kishan trat zu uns und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Kelsey würde mit Falten wunderschön aussehen.«

Randis Ausdruck veränderte sich schlagartig. »Das zu sagen, ist so süß von dir, aber seien wir doch mal ehrlich, Frauen altern nun einmal nicht mit derselben Würde wie Männer. Ohne mit der Wimper zu zucken, tauschen Männer ihre vierzigjährigen Frauen gegen zwanzigjährige aus.«

Kishan zog die Stirn kraus. »Das würde ich niemals tun.«

»Oh, ich weiß, du würdest so etwas nie tun«, hauchte sie schwärmerisch, »aber viele Männer tun es. Ein Mädchen muss das Beste aus dem herausholen, womit sie gesegnet ist.«

»Kannst du nicht einfach Ren schicken?«, fragte Kishan. »Wir sind beschäftigt.«

Sie schniefte. »Er war hier, aber jetzt ist er verschwunden.«

»Wir suchen ihn für dich und sorgen dafür, dass er dir deine Sonnencreme bringt.«

Sie lächelte kokett. »Tausend Dank. Zwei solch aufmerksame Brüder in einer Familie! Deine Mutter muss so stolz sein.«

»War sie«, sagte Kishan abrupt und drehte sich um. »Wie wäre es mit etwas Sport und einer Massage statt schwimmen?«

»Hört sich gut an.« Wir machten uns aus dem Staub und eilten in den Fitnessraum. »Willst du nicht zuerst Ren finden und ihm sagen, dass sie ihn braucht?«, fragte ich Kishan.

»Pah. Das weiß er doch längst. Ich an seiner Stelle würde auch einen großen Bogen um sie machen.«

Auf dem Weg begegneten wir zufällig Nilima, die außer sich vor Wut wegen Randi war. »Sie ist so schrecklich anstrengend! Und sie hat jedes einzelne Mitglied der Crew beleidigt. Den Koch hat sie vor dem gesamten Personal zur Schnecke gemacht, und ich musste ihn anflehen, dass er nicht sofort seine Sachen packt. Der Kapitän sperrt sich bereits in seiner Kommandobrücke ein, und Großvater weigert sich, aus seinem Zimmer zu kommen, bis sie fort ist. Wenn sie sie nicht zur Weißglut bringt, flirtet sie mit ihnen. Ihr ist jedes Mittel recht, um zu bekommen, was sie will. Es interessiert mich nicht, aus welchem Grund Ren sie eingeladen hat. Ich will, dass sie vom Schiff verschwindet!«

Nie zuvor hatte ich Nilima so aufgebracht erlebt. Insgeheim war ich allerdings froh, dass ich nicht die Einzige war, die Randi nicht mochte. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ich könnte allein aus Eifersucht eine Abneigung gegen sie haben, was am Anfang womöglich stimmte, aber jetzt kam mir die Situation geradezu komisch vor. Im Grunde hatte ich sogar ein kleines bisschen Mitleid mit Ren.

Am nächsten Morgen kam Kishan in mein Zimmer gestürmt. Ich setzte mich auf und rieb mir verschlafen die Augen. »Was ist los?«

Er war nass und hatte ein Handtuch um die Hüfte geschlungen. »Jetzt ist sie zu weit gegangen.«

»Was hat sie angestellt?« Ich versuchte, den Blick auf seinem Gesicht ruhen zu lassen und den sehr ansprechenden bronzenen Oberkörper zu ignorieren.

»Randi kam ungebeten in mein Zimmer und hat mich beim Duschen gestört!«

Ich runzelte die Stirn. »Warum sollte sie das tun?«

»Sie behauptet, Ren einfach nicht finden zu können.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Da steckt vielleicht ein Körnchen Wahrheit drin. Wahrscheinlich hat sie ihn den Großteil der Nacht wach gehalten, und er muss immer noch zwölf Stunden am Tag Tigergestalt annehmen. Ich bin sicher, dass er sich irgendwo versteckt.«

»Selbst wenn dem so sein sollte, ist das noch lange kein Grund, in mein Bad zu stürmen! Ich werde in deinem fertigduschen. Halt die Augen offen.«

Ich kicherte. »Okay, ich halte die Augen offen nach gefährlichen Frauen. Keine Sorge, ich beschütze dich. Du kannst in Frieden duschen.«

Mit einem Grinsen auf den Lippen duckte er sich durch die Tür. »Nur fürs Protokoll, du dürftest jederzeit in meine Dusche stürmen.«

Ich lachte. »Gut zu wissen.«

Nachdem Kishan sicher zurück in seinem Zimmer war und die Tür hinter sich verriegelt hatte, ging ich zum Frühstück. Auf dem Weg dorthin lief ich Randi in die Arme, die ärgerlich von mir verlangte, dass ich ihr auf der Suche nach Ren half.

»Er ist wirklich ein schrecklicher Gastgeber. Wenn ich es mir recht überlege, musst du mir helfen, ihn aufzuspüren und ihn davon überzeugen, dass er in mich verliebt ist.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Und warum sollte ich das tun?«

Sie lächelte böse. »Weil ich mich ansonsten dem nächsten reichen, heiratsfähigen Mann zuwende, nämlich seinem Bruder, und ich glaube nicht, dass dir das gefallen würde.«

»Kishan würde dich nicht mal mit der Kneifzange anfassen, und ehrlich gesagt, hätte ich dasselbe von Ren gedacht. Außerdem ist es höchste Zeit, dass du deine Koffer packst. Wir haben keine Lust mehr auf deine Spielchen.«

»Du wärst überrascht, wozu ich Männer bringen kann.« Sie richtete ihr knappes Trägerhemdchen, um ihr Dekolleté vorteilhaft zur Schau zu stellen. »Ich habe nichts dagegen, Ren gegen Kishan einzutauschen. Er sieht gut aus, und die Brüder sind ganz offensichtlich reich und haben die besten Beziehungen. Daddy wäre mit beiden einverstanden. Ich bin sicher, ich könnte Kishan schnell für mich gewinnen.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften und funkelte sie zornig an. »Ich liebe sie nicht, weil sie reich sind. Ich liebe sie, weil es süße, gute und ehrliche Männer sind. Und keiner von ihnen verdient es, mit einer Hexe wie dir gestraft zu sein.«

»Oh, du bist so naiv!«, zwitscherte Randi höhnisch und tätschelte mir herablassend die Wange. »Du wirst noch lernen, dass es keine guten Männer gibt, Süße. Männer sind dumm und denken nur an das Eine.«

Sie wackelte mit den Hüften und war aus der Tür, bevor mir eine schlagfertige Antwort eingefallen war, die ich ihr hätte entgegenschleudern können, weshalb ich einfach nur seufzend den Kopf schüttelte. Offensichtlich macht sie sich überhaupt nichts aus Ren. Jemand sollte ihm das sagen, damit er sich ihrer entledigen und sie uns vom Hals schaffen kann.

Rens neue Kabine war leer. Das Bett war gemacht und seine Kleidung fein säuberlich aufgeräumt. Sein eselsohriges Buch mit den Shakespeare-Zitaten lag mit dem Einband nach oben da. Ich drehte es um und stieß auf eine Zeile, die unterstrichen war: »Aber ach, welch bittres Ding ist es, Glückseligkeit nur durch andrer Augen zu erblicken.«

Nachdenklich drehte ich das Buch wieder um, legte es zurück und holte das Handy aus meiner Tasche. Nachdem ich es aufgeklappt hatte, spürte ich Ren mit dem GPS-Tracker auf und fand sein Versteck in der hintersten, dunkelsten Ecke eines Lagerraums im Unterdeck. Zuerst sah ich ihn nicht. Überall waren Schachteln übereinandergestapelt, Eimer, Wischlappen und Besen lehnten gegen Regale voller Kleinteile und Vorräte. Ganz weit hinten, auf einem Teppich, lag mein weißer Tiger.

Ich hockte mich neben ihn. Sein Kopf ruhte auf seinen Pfoten, in seiner Brust grollte es leise.

»Deine neue Freundin sorgt ganz schön für Trubel.« Ich konnte mich nicht zurückhalten, streckte den Arm aus und kraulte seinen Kopf. »Ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast. Sie mag noch nicht mal Katzen.« Ich grinste schief, dann seufzte ich. »Kishan und ich werden versuchen, sie dir für ein paar Stunden vom Leib zu halten, damit du weiter in Tigergestalt bleiben kannst. Aber dann schuldest du uns etwas. Sie bedeutet nichts als Ärger. Im Vergleich zu ihr sind die Hexen aus Macbeth brave Klosterschwestern.«

Ren begann zu schnurren, als ich ihn hinter dem Ohr kratzte. Dann verstummte das Geräusch abrupt, und er schob sich von meiner Hand weg.

Ich stand auf. »Wir sehen uns später«, sagte ich und ging frühstücken.

Als ich Kishan fand, war er so glücklich, mich zu sehen, dass ich lachen musste.

»Ren muss noch ein Weilchen Tiger sein, und ich habe ihm versprochen, dass wir sie auf Trab halten«, flüsterte ich.

»Weil du mich darum bittest«, schnaubte er und küsste mich auf die Stirn. »Ich werde dir helfen, sie zu unterhalten und mein Möglichstes tun, um ihr unablässiges Geschnatter und ihre nervtötenden Annäherungsversuche zu ertragen.«

Ich lächelte. »Ich wusste, es gab da einen Grund, warum ich dich mag.«

Er legte mir einen Arm um die Schulter. »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.«

Kishan schlug vor, wir sollten uns alle einen Film ansehen. Randi stimmte zu, setzte sich auf die Couch und klopfte auf den freien Platz neben sich, aber er nahm stattdessen in einem der Fernsehsessel Platz, umklammerte mein Handgelenk und zog mich neben sich.

Keiner von uns zollte Randi Aufmerksamkeit, die auf der Couch schmollte und nach der ersten halben Stunde mäkelte, dass ihr langweilig sei. Wir gaben resigniert auf und entschieden, lieber schwimmen zu gehen.

Kishan und ich tauchten ins Wasser und drehten zügig unsere Runden. Randi kam herüber und setzte sich an den Poolrand, lehnte sich zurück, um sich angeblich in den Sonnenstrahlen zu baden, doch ich vermutete, dass sie im Grunde nur ihren künstlichen Busen präsentieren wollte.

Während einer Pause machte ich in ihrer Nähe halt und beobachtete, wie Kishan geschmeidig durchs Wasser pflügte.

»Ich wickle ihn schon noch um den Finger. Entweder ihn oder den anderen. Mir ist in meinem ganzen Leben kein Junge begegnet, den ich nicht haben konnte. Du solltest wirklich nicht ohne Badekappe schwimmen. Das Chlor macht dein Haar ganz spröde.«

Ich setzte ein falsches Lächeln auf, nickte und schwamm weiter meine Runden, bis mich eine Hand am Fußknöchel packte und mich unter Wasser riss. Dann schlangen sich muskulöse Arme um mich und zogen mich an die Oberfläche.

Kishan grinste. »Wir haben genug babygesittet. Bei der letzten Bahn ist Ren aufgetaucht und hat sie abgeholt.«

Ich blickte über seine Schulter und tatsächlich, Randi war verschwunden.

»Nun … Wie fändest du es, wenn du dich verwandelst und wir im Medienraum dort weitermachen, wo wir aufgehört haben?«

»Ich dachte schon, du würdest nie fragen.« Ich kreischte, als er mich hochhob, die Stufen des Schwimmbeckens hinaufraste und mich unter die Dusche schickte.

An diesem Abend, als die Deschen die Anker lichtete, stellten Kishan, die Crew und ich sicher, dass Ren seine Randi vom Schiff eskortierte.

Ren lächelte und beugte sich hinab, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Er murmelte ihr etwas ins Ohr und drückte sie zum Abschied noch einmal fest an sich. Kishan lächelte geheimniskrämerisch.

»Was? Was ist?«, fragte ich.

»Ren hat sie seine sukhada Motha genannt«, flüsterte er, »sein ›reizendes Unkraut‹.«

Ich lachte. »Er hat ein Händchen für Kosenamen.«

Randi trippelte auf uns zu und packte Kishan am Arm. In unüberhörbarem Flüsterton sagte sie: »Ich hoffe, deine kleine Freundin hat sich nicht daran gestört, dass ich dir beim Duschen zugesehen habe. Ich bin sicher, sie versteht das. Ruf mich jederzeit an.« Mit diesen Worten steckte sie ihm eine rosafarbene Visitenkarte zu und drückte ihren üppigen Busen an seine Brust, während sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte, der jedoch absichtlich seinen Mundwinkel traf. Sie zwinkerte mir vielsagend zu und stolzierte die Rampe hinab, wobei sie die Hüften wie Kirchturmglocken schwingen ließ.

Sobald Randis Stöckelschuhe außer Sicht waren, erscholl das Gemurmel der Crewmitglieder, man solle die Rampe einfahren und verriegeln, nur für den Fall, dass sie es sich anders überlegte.

Kishan wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und ächzte: »Meine Mutter hätte sie zum Frühstück gefressen.«

»Wirklich?« Der Gedanke entlockte mir ein Lächeln.

»Ja.« Er grinste. »Dich hingegen hätte sie geliebt.«

Er legte mir den Arm um die Schultern, und als wir die Treppe wieder hochgingen, blickte ich mich nach Ren um, aber er war verschwunden.