4
Die Prophezeiung
Mit dem Rücken gegen einen Baum ließ ich mich im Dschungel nieder. Ich war es leid, von einem Gefühlschaos ins nächste zu stürzen. Der vernünftige Teil meines Gehirns versuchte mich zu überzeugen, dass Ren einen völlig plausiblen Grund haben musste, mich absichtlich aus seinem Gedächtnis zu streichen. Doch da war noch der andere Teil, der das bezweifelte, und diese Stimme wurde immer lauter. Es tat weh. Hätte mich jemand vor Rens Gefangennahme gefragt, ob ich Ren vertraute, hätte ich ohne zu zögern Ja gesagt. Ich vertraute ihm blind, hundert Prozent. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er aufrichtig und ehrlich war.
Aber. Diese negative Stimme flüsterte mir zu, dass ich sowieso nie die Richtige für ihn war und einen solchen Ausgang hätte erwarten müssen. Er war zu gut, um mir bestimmt zu sein. In diesem einen Punkt hätte ich gerne darauf verzichtet, recht zu behalten, aber so war es nun einmal.
Dass er es sich selbst angetan hatte, machte es nur noch schlimmer. Viel schlimmer. Wie hatte ich mich derart in ihm täuschen können?
Vor dem Besuch bei Phet hatte ich mir einreden können, dass Lokesh für alles verantwortlich war. Dass es nicht Rens Schuld war. Dass er mich tief in seinem Inneren immer noch liebte. Jetzt wusste ich, dass er mich absichtlich vergessen hatte. Er wollte mich loswerden und hatte einen eleganten Weg gefunden.
Wie praktisch, seinen Fehler einfach auszuradieren. Das falsche Mädchen ausgesucht? Kein Problem. Einfach markieren und löschen. Keine lästigen Erinnerungen mehr. Könnte man das als Pille verkaufen, würde man Milliardär werden. So viele Menschen haben Dinge getan oder waren mit Menschen zusammen, die sie am liebsten aus dem Gedächtnis streichen würden. Alles vergessen. Das Gedächtnis neu starten!
Nach einer Stunde Selbstmitleid kehrte ich langsam zur Hütte zurück. Als ich durch die Tür kam, wurde es schlagartig still. Beide Brüder beobachteten mich, während Phet begann, emsig Gewürze zu zermahlen.
Ren erhob sich und machte einen Schritt auf mich zu. Ich sah ihn ausdruckslos an, und er blieb wie angewurzelt stehen.
»Es gibt also nichts, was Sie sonst noch für uns tun können?«, fragte ich Phet.
Der Schamane drehte sich zu mir um und legte den Kopf schief. »Phet bedauern«, sagte er nüchtern. »Niemand können helfen.«
»Okay.« Ich wandte mich an Kishan. »Ich würde jetzt gerne aufbrechen.«
Er nickte und schickte sich an, die Rucksäcke zu packen.
»Kelsey.« Ren streckte die Hand nach mir aus und zog sie rasch weg, als er meinen Blick bemerkte. »Wir müssen reden.«
»Es gibt nichts, worüber wir reden müssen.« Ich schüttelte den Kopf und nahm Phets Hand. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft und alles, was Sie für uns getan haben.«
Phet umarmte mich. »Du nicht sorgen, Kahl-see. Du nicht vergessen, Wasser und Erde glücklich zusammen.«
»Das werde ich nicht, aber ich denke, ich bin gerade der Mond. Kein Wasser für mich.«
Phet legte die Hände auf meine Schultern. »Es geben Wasser für Kahl-see. Mond vielleicht, aber Mond ziehen Gezeiten an.«
»Okay«, flüsterte ich leise. »Vielen Dank für Ihren Optimismus. Ich bin sicher, mir geht’s schon bald wieder besser. Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, versicherte ich ihm, als ich ihn ebenfalls an mich drückte. »Auf Wiedersehen.«
»In Zukunft mich besuchen, dann glücklicher, Kahl-see«, sagte Phet.
»Das hoffe ich. Ich werde Sie vermissen. Tut mir leid, dass wir so abrupt aufbrechen, aber ich kann es auf einmal nicht abwarten, diesen Fluch ein für alle Mal loszuwerden.« Ich packte meinen Rucksack und eilte aus der Tür.
Kishan sammelte seine Habseligkeiten auf und holte mich ein. »Kells«, begann er.
»Können wir nicht einfach eine Weile schweigend wandern? Mir ist gerade nicht nach reden.«
Die Blicke aus seinen goldenen Augen glitten über mein Gesicht, bis er schließlich leise sagte: »Okay.«
Es dauerte nicht lange, da trottete der weiße Tiger neben mir her und stupste mit dem Kopf gegen meine Handfläche. Ich weigerte mich, ihn anzusehen, umklammerte krampfhaft die Gurte meines Rucksacks und schritt absichtlich auf Kishans andere Seite. Kishan betrachtete mein angespanntes Gesicht und dann den weißen Tiger, der zurückfiel und hinter uns hertappte. Schon bald hatten wir einen solchen Vorsprung, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte.
Meine Schultern entspannten sich, und ich wanderte wortlos und ohne eine Pause oder etwas zu essen weiter, bis ich keinen einzigen Schritt mehr tun konnte. Nachdem ich mit dem Göttlichen Tuch ein kleines Zelt gefertigt hatte, fiel ich erschöpft auf meinen Schlafsack und ließ das Abendessen ausfallen. Die Brüder müssten sich um sich selbst kümmern. Sie ließen mich in Ruhe – wofür ich ihnen dankbar war, doch zugleich war ich ein bisschen enttäuscht –, und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Ich erwachte, als der Himmel noch immer dunkel war, und sah zum ersten Mal seit Tagen auf mein Handy. Keine Anrufe von Mr. Kadam. Es war vier Uhr. Ich hatte keine Lust, mich noch einmal aufs Ohr zu legen, weshalb ich den Kopf aus dem Zelt steckte und die schwachen Flammen des sterbenden Feuers beobachtete. Weder Ren noch Kishan waren zu sehen. Ich legte ein paar neue Scheite ins Feuer, schürte es, bis es wieder hell prasselte, und wünschte mir eine heiße Schokolade herbei. Bedächtig nippte ich an meinem Getränk und starrte in die Flammen.
»Hattest du einen Albtraum?«
Ich wirbelte herum. Ren lehnte an einem Baum. Sein weißes Hemd leuchtete in der Dunkelheit, doch sein Gesicht war in Schatten gehüllt.
»Nein.« Ich blickte wieder zu den lodernden Flammen. »Ich habe einfach genug geschlafen, das ist alles.«
Er trat in den Schein des Feuers und setzte sich mir gegenüber auf einen umgestürzten Stamm. Die flackernden Flammen tauchten seine bronzefarbene Haut in einen warmen, weichen Glanz. Ich versuchte, seine goldene Schönheit auszublenden. Warum muss er auch so verdammt gut aussehen? Seine blauen Augen beobachteten mich eindringlich.
Ich blies in meinen Kakao und blickte überall hin, nur nicht zu ihm. »Wo ist Kishan?«
»Auf der Jagd. In letzter Zeit ist er nicht sehr oft dazu gekommen, und er liebt es.«
Ich schnaubte verächtlich. »Nun, ich hoffe, er erwartet nicht, dass ich ihm die Borsten eines Stachelschweins aus der Haut ziehe. Wenn das passiert, ist er auf sich selbst gestellt.« Ich nippte wieder. »Warum hast du ihn nicht begleitet?«
»Weil ich auf dich aufpasse.«
»Das musst du nicht. Ich bin ein großes Mädchen. Geh ruhig auf die Jagd. Wenn ich es mir recht überlege, solltest du es wirklich tun. Du bist immer noch zu dünn.«
»Wie schön, dass du mich überhaupt noch eines Blickes würdigst. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass du mich völlig vergessen hast.«
Ich bohrte meine Augen in ihn und rief wutentbrannt: »Dich vergessen? Ich? Dich vergessen? Ich … Weißt du was? Du gehst mir langsam wirklich auf die Nerven!«
»Gut. Du solltest dir einfach mal Luft machen.«
Ich setzte meine Tasse ab und stand auf. »Oh, das würde dir wohl gefallen, nicht? Dass ich dir meine ewige Liebe gestehe, während du mir ins Gesicht lachst und mich verspottest!«
Er erhob sich ebenfalls. »Ich verspotte dich nicht, Kells.«
Aufgebracht warf ich die Hände in die Luft. »Und warum eigentlich nicht? Du hast mir alles genommen, was mir auf dieser Welt von Bedeutung war! Du hast mir das Herz herausgerissen, es zerquetscht und dann den Affen zum Spielen zugeworfen. Ich hätte dir niemals vertrauen dürfen! Welch eine Idiotin ich gewesen bin! Ich habe dir doch tatsächlich abgenommen, dass du echte Gefühle für mich hast. Dass du dir etwas aus mir machst. Dass wir zusammengehören. Aber du bist einfach nur ein … rechteckiges Kissen. Und ich habe vor Kurzem erkannt, dass ich runde mag!«
Er lachte, was mich noch mehr anstachelte.
»Ich bin ein rechteckiges Kissen? Was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, dass wir nicht füreinander bestimmt sind, das ist alles. Ich hätte wissen müssen, dass du mir das Herz brichst. All die Dinge, die du gesagt hast, all die Gedichte, die du geschrieben hast – sie haben dir nichts bedeutet. Wenn wir nach Hause kommen, werde ich dir jedes einzelne zurückgeben.«
Er versteifte sich. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, dass es keine Rolle mehr spielt. Sie könnten genauso gut im Feuer landen, denn das ist die einzige Wärme, die sie mir je bieten werden.«
»Ich glaube nicht, dass du das tun wirst.«
»Schau gut zu!«
Entrüstet marschierte ich ins Zelt zurück, schnappte mir mein Tagebuch und blätterte es rasch durch, bis ich das Gedicht über die wertvolle Perle fand. Dann lief ich zum Feuer, riss die Seite heraus und starrte sie an.
»Kelsey.« Meine braunen Augen trafen seine blauen. »Nicht.«
»Welchen Unterschied macht es schon? Der Mann, der das hier geschrieben hat, ist bestenfalls tot und schlimmstenfalls ein Heuchler.«
»Das stimmt so nicht. Nur weil ich mich im Moment nicht an dich erinnere, bedeutet das nicht, dass meine Gefühle für dich damals gelogen waren. Es macht keinen Sinn. Denn ich kann dir versichern, dass ich nicht tot bin. Ich bin am Leben und stehe direkt vor dir.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf, wollte seine Worte Lügen strafen. »Für mich bist du gestorben«, sagte ich, ließ die Seite fallen und starrte ihr nach, wie sie zu Boden trudelte. Eine Träne rollte mir die Wange hinab, als eine Ecke des Papiers Feuer fing.
Blitzschnell angelte Ren die Seite aus den Flammen und zerknüllte die brennende Ecke in der Faust, um das Feuer zu löschen. Er atmete schwer, offensichtlich bestürzt. Die Verbrennung an seiner Hand heilte rasch, während ich schweigend die verkohlte Ecke des kostbaren Gedichts betrachtete.
»Warst du schon immer ein solch halsstarriges, blindes Mädchen?«
»Nennst du mich jetzt etwa auch noch dumm?«
»Ja, aber auf eine poetischere Art!«
»Hm, und hier ist etwas Poesie für dich. Verschwinde!«
»Das habe ich doch erst kürzlich unfreiwillig getan! Und für niemanden von uns war das ein großer Spaß. Aber warum siehst du nicht, was genau vor dir ist?«
»Und was genau soll ich sehen? Einen Tiger, der zufällig auch ein Prinz ist? Einen Mann, der mich so sehr hasst, dass er mich absichtlich mit einem Zauber aus seinem Gedächtnis streicht? Einen Mann, der es nicht ertragen kann, sich länger als ein paar Minuten im selben Raum wie ich aufzuhalten? Einen Mann, der bei jeder meiner Berührungen vor Schmerz zusammenzuckt? Ist es das, was ich sehen soll? Denn wenn ja, dann bin ich recht gut im Bilde!«
»Nein, du hitzköpfiges Mädchen! Was du nicht siehst, ist das!«
Er packte mich, riss mich an seinen Körper und küsste mich. Glühend und leidenschaftlich. Seine Lippen waren heiß, als sie sich an meine schmiegten. Ich hatte nicht einmal Zeit zu reagieren, da war es auch schon wieder vorbei. Ren wich zurück und beugte sich vor, klammerte sich an einen Baumstamm. Er atmete schwer, seine Hände zitterten.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, während ich ihm zusah, wie er sich erholte. »Und was genau wolltest du damit beweisen?«
»Wenn du fragen musst, sind meine Bemühungen wohl kläglich gescheitert.«
»Okay, du hast mich also geküsst. Na und? Das bedeutet rein gar nichts.«
»Es bedeutet alles.«
»Was meinst du damit?«
Er holte tief Atem und lehnte sich gegen den Baum. »Es bedeutet, dass ich allmählich Gefühle für dich entwickle, und wenn ich sie jetzt habe, dann ist die Wahrscheinlichkeit verdammt groß, dass es schon einmal so war.«
»Wenn das wahr sein sollte, dann stell die Blockade ab.«
»Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, wie es passiert ist oder wie ich diesen Trigger ausschalten kann. Irgendwie hatte ich gehofft, es würde reichen, wenn ich dich küsse. Aber dem ist wohl nicht so.«
»Du dachtest, du könntest den weiblichen Frosch küssen, und der würde sich in eine holde Prinzessin verwandeln? Nun, ich hasse es, dich deiner Illusionen zu berauben, aber das, was du siehst, ist das, was du bekommst!«
»Was in aller Welt lässt dich glauben, ich könnte nicht an dem interessiert sein, was ich sehe?«
»Eigentlich möchte ich das nicht noch mal mit dir durchkauen. Das hatten wir schon so oft, auch wenn du dich jetzt nicht erinnern kannst. Dennoch, selbst in deinem Kurzzeitgedächtnis, das dir ja nicht abhandengekommen ist, müsste abgespeichert sein, dass du Nilima als wunderschön bezeichnet hast.«
»Na und? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nur weil ich gesagt habe, dass sie schön ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass du es nicht bist.«
»Es war die Art, wie du es gesagt hast. ›Wie schade, dass ich nicht in Nilima verliebt war … Sie ist wunderschön.‹ Was impliziert, dass ich es nicht bin. Hast du denn überhaupt keine Ahnung von Frauen? Bezeichne niemals eine Frau in der Gegenwart einer anderen als wunderschön.«
»Das habe ich nicht. Du hast uns belauscht.«
»Das ist irrelevant.«
»Schön! Dann sag ich dir, was ich denke, und mich soll der Blitz treffen, falls ich lüge! Du bist wunderschön.«
»Freundchen, dieser Zug ist längst abgefahren, und du hattest kein Ticket.«
Frustriert fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. »Gibt es irgendetwas, das ich sagen könnte, um das hier in Ordnung zu bringen?«
»Wahrscheinlich nicht.« Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum du das getan hast. Wenn du mich wirklich geliebt hättest, warum solltest du das dann tun? Die einzig logische Erklärung lautet, dass du mich nie geliebt hast. Ich wusste immer, du warst zu gut, um wahr zu sein.«
»Was soll das heißen?«
»Das hast du doch selbst zu Kishan gesagt. Du meintest, dir würde nicht im Traum einfallen, dich in jemanden wie mich zu verlieben. Siehst du? Selbst du hast gewusst, dass wir nicht zusammenpassen. Du bist Mr. Perfekt, und ich bin Miss Durchschnitt.«
Er lachte bitter. »Glaub mir, ich bin durchaus nicht perfekt, Kelsey, und du bist ebenso wenig Durchschnitt wie Durga. Ich habe dich kaum gekannt, als ich diese Dinge gesagt habe, und außerdem drehst du mir jedes Wort im Mund um!«
»Ach, wirklich?«
»Ich … was ich meinte … was ich gesagt habe … sieh mal! Du bist nicht dieselbe Person, für die ich dich damals gehalten habe.«
»Ich bin genau diese Person!«
»Nein. Ich habe dich gemieden. Ich habe dich nicht kennenlernen wollen. Ich war …«
Ich zerknüllte eine weitere Seite.
»Kelsey!« Ren kam auf mich zugerannt und entriss mir das Tagebuch, stöhnte jedoch laut auf, als ihn meine Nähe überwältigte. »Hör auf! Denk nicht mal dran, noch eine Seite zu verbrennen!«
Ich packte das Tagebuch und zerrte daran. »Das ist meins, und ich kann damit tun und lassen, was ich will.«
Er zog ebenfalls. »Du musst aufhören, mich aufgrund von Dingen zu beurteilen, die ich direkt nach meiner Rettung gesagt habe! Ich war traumatisiert und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt hatte ich Zeit, dich besser kennenzulernen und … ich mag dich!«, schrie er. »Ich mag dich genug, dass ich mir vorstellen kann, warum ich dich geliebt habe, obwohl du eine solch schreckliche Nervensäge bist!«
Ich riss an meinem Buch. »Du magst mich … genug? Genug! Nun, genug ist nicht genug für mich.«
Er krallte die Finger um mein Tagebuch. »Kelsey, was willst du denn sonst noch von mir?«
Ich zerrte mit aller Kraft. »Ich will meinen alten Ren zurück!«
Er erstarrte und knurrte: »Nun, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der alte Ren ist für immer fort. Und … dieser neue Ren will dich nicht verlieren.« Er funkelte mich verdrossen an, glitt mit der Hand zu meinem Handgelenk und zog mich näher zu sich. Dann sagte er: »Außerdem hast du gesagt, wir könnten noch mal von vorne anfangen.«
»Ich denke nicht, dass das möglich ist.«
Rens Hände glitten an seinen Seiten herab und ballten sich zu Fäusten. Mit gefährlich leiser Stimme zischte er: »Dann mach es möglich.«
»Du erwartest zu viel.«
»Nein. Du erwartest zu viel.Du willst einfach nicht Vernunft annehmen. Du musst mir Zeit geben, Kelsey.«
Ich blickte zu ihm auf, und unsere Blicke verwoben sich. »Ich hätte dir alle Zeit der Welt gegeben, bis Phet meinte, dass du dir das selbst angetan hast.«
»›Wie arm sind die, die nicht Geduld besitzen! Wie heilten Wunden, als nur nach und nach?‹«
»Shakespeare wird dich diesmal nicht retten, Superman.«
Er sah mich mürrisch an. »Vielleicht hätte ich lieber Der Widerspenstigen Zähmung lesen sollen!«
»Okay, dann gebe ich dir hier eine erste Einführung: ›Mein Mund soll meines Herzens Bosheit sagen. Das Tor ist offen, Herr, da geht der Weg.‹«
»Ich brauche keine Einführung. Ich weiß bereits, wie das Stück endet. Der Kerl gewinnt. ›Denkt Ihr, ein kleiner Schall betäubt mein Ohr?‹« Er krümmte den Finger und winkte mich näher. »›Komm her und küss mich, Kate, dann wollen wir gehn!‹«
Ich verengte die Augen zu Schlitzen. »Du hast den Text falsch aufgesagt, und ich lass mich nicht so leicht um den Finger wickeln wie Caterina.«
Rens Gesicht versteinerte, und er warf unbeherrscht die Hände in die Höhe. »Na schön. Du hast gewonnen. Wenn du mir unbedingt die Gedichte zurückgeben willst, dann tu es. Aber verbrenn sie nicht.«
»In Ordnung! Ich werde sie nicht verbrennen, wenn du versprichst, mich den Rest der Reise in Ruhe zu lassen.«
»In Ordnung! Und nebenbei bemerkt, ich kann nicht verstehen, wie ich auch nur eine Sekunde glauben konnte, du wärst ein warmherziger, liebevoller und mitfühlender Mensch! Du bist so stachlig wie ein Stachelschwein. Jeder Mann, der sich dir nähert, wird mit einem Gesicht voller Borsten enden!«
»Das stimmt! Ein Mädchen muss sich ja irgendwie gegen die Männer verteidigen können, die es zu Mittag fressen wollen. Insbesondere wenn diese Männer wilde Tiger auf der Jagd sind, die nichts weiter als Ärger im Sinn haben.«
Er kniff die Augen zusammen, packte meine Hand und zwickte mir sanft ins Handgelenk, bevor er auf die Stelle einen Kuss drückte. Es war nicht zu übersehen, dass es ihm Schmerzen bereitete.
»Du hast noch nicht erlebt, wie wild ich sein kann, subhaga jadugarni.«
Mit theatralischem Gebaren rieb ich seinen Kuss ab. »Was bedeutet das?«
»Es bedeutet … ›hübsche Hexe‹.«
»So hast du mich noch nie genannt.«
»Wie? Subhaga? Hatte ich denn andere Kosenamen für dich?«
Ich zögerte und antwortete dann vorsichtig: »Ja.«
»Wie habe ich dich denn genannt?« Er legte den Kopf schief und sah mich spöttisch an. »Wahrscheinlich starrköpfig, engstirnig, zickig, ungeduldig …«
Die erloschene Wut loderte in einer mächtigen Flamme wieder auf und brannte so heiß, dass sie mich beinahe verzehrte. Ich wollte ihm wehtun. »Das war’s!« Ich drückte ihm die Hände auf die Brust und schubste ihn, so fest ich konnte, aber er blieb ungerührt stehen und lachte nur über meine vergeblichen Bemühungen, weshalb ich ihn kräftig zwickte.
»Aua! Na gut, Kätzchen, du hast mir deine Krallen gezeigt, dann zeige ich dir jetzt meine.« Er presste meine Hände an meine Hüften, hielt sie fest. Ich prallte gegen seine Brust, und seine Arme wurden zu Eisenketten, die meinen Körper umfingen. Er küsste meinen Hals und murmelte sanft: »Ich wusste, du könntest die Finger nicht von mir lassen.«
Ich keuchte entrüstet auf. »Du … du … Deserteur!«
»Wenn du mit Deserteur meinst, ich möchte dich zum Dessert verspeisen, dann hast du vielleicht nicht ganz unrecht. Natürlich müsste ich dich zuerst noch ein kleines bisschen süßen.« Er lachte, als er meinen Hals erneut küsste.
Ich drückte mich von ihm weg, zitterte vor Wut – zumindest denke ich, dass es Wut war. Ich erwog ernsthaft, ihm genug elektrische Spannung durch den Körper zu schießen, dass ihm die Haare zu Berge standen und es ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht wischte, da krachte Kishan aus dem Unterholz.
»Was soll das ganze Geschrei?«, fragte er.
»Würdest du bitte dem jämmerlichen Abbild deines Bruders sagen, dass ich nicht mehr mit ihm reden will?«
Kishan grinste. »Kein Problem. Sie will nicht mehr mit dir reden.« Er lachte. »Ich hatte schon befürchtet, ihr zwei könntet euch womöglich zu gut vertragen. Ich hätte es besser wissen müssen.«
Rens Lächeln erstarb. Er warf seinem Bruder einen bösen Blick zu und sah mich dann aus schmalen Augen an. »Nicht mit dir zu reden, ist für mich eine Erleichterung, denn es bedeutet, dass ich dir auch nicht zuhören muss.«
Er sah mir in die Augen, während er an mir vorbeistolzierte. Er war atemlos vor Zorn und – Himmel noch mal! – ich konnte an nichts anderes denken, als ihn zu packen und zu küssen.
»Ich habe Mitleid mit Kishan, der den Rest des Weges mit dir an seiner Seite zurücklegen muss«, sagte er leise, als ich ihn finster anfunkelte.
»Ich bin sicher, er wird es überleben«, erwiderte ich säuerlich.
Er blickte zu Kishan und sah seinen Bruder abschätzig von oben bis unten an. »Zweifellos. Wir treffen uns beim Jeep.«
Kishan nickte, da zögerte Ren.
Ich verschränkte die Arme. »Nun? Worauf wartest du? Einen Abschiedskuss?«
Seine Augen schossen zu meinen Lippen. »Pass auf, was du dir wünschst, mohini stri.«
Für eine panische Sekunde glaubte ich, er würde die Herausforderung annehmen, doch dann neigte er den Kopf, lächelte sein unverschämt vielsagendes Lächeln, sprang übers Feuer und war im nächsten Moment wie vom Erdboden verschluckt.
Kishan starrte zu der Stelle im Dschungel, wo Ren verschwunden war. Dann drehte er sich zu mir um und legte mir die Hände auf die Schultern.
»Ich habe dich noch nie so wütend gesehen.«
»Was soll ich sagen? Er bringt das Beste in mir zum Vorschein.«
Kishan runzelte die Stirn. »Sieht ganz so aus.«
»Was bedeuten seine Worte?«
»Mohini stri? Das bedeutet ›Sirene‹ oder ›faszinierende Frau‹.«
Ich schnaubte. »Hätte ich mir denken können, dass er jede Gelegenheit ergreift, um sich über mich lustig zu machen.«
Kishan sah mich verblüfft an. »Ich denke nicht, dass er sich über dich lustig macht.«
»Natürlich tut er das. Und ich warne dich: Ich bin nicht in der Stimmung für einen weiteren Streit. Wenn du ihm also hinterherwillst, dann nur zu.«
»Kelsey, ich habe nicht die Absicht, dich hier allein zu lassen. Und ich will mich nicht mit dir streiten.«
»Nun, zumindest einer von euch ist ein echter Gentleman«, murmelte ich, während ich meine Habseligkeiten zusammenpackte, um mich wieder auf den Weg zu machen. Ich hob das zerknüllte Gedicht auf, glättete reumütig das Papier und steckte mein misshandeltes Tagebuch vorsichtig in den Rucksack.
»Kelsey, egal was du denkst, Ren hätte dich ebenfalls nie allein zurückgelassen. Wäre ich nicht hier, wäre er bei dir geblieben.«
»Ja. Sicher. Warum verteidigst du ihn überhaupt? Ich dachte, du wolltest, dass er von der Bildfläche verschwindet!«
»Das kann man so – nicht sagen.«
»Oh! Ich verstehe. Natürlich hat Kelsey unrecht. Kelsey versteht alles falsch. Dann lass mich sicherstellen, dass ich zumindest deine Absichten richtig deute. Du willst immer noch mit mir zusammen sein, oder?«
Er blickte düster drein. »Die Antwort kennst du.«
»Schön. Dann ist das hier deine Chance! Küss mich!«
Kishan betrachtete eindringlich mein Gesicht und schüttelte dann den Kopf. »Nein.«
»Nein? Willst du denn nicht?«
»Doch, aber ich habe dir versprochen, dich erst wieder zu küssen, wenn ich sicher bin, dass die Sache zwischen dir und Ren vorbei ist. Und das glaube ich nicht.«
»Ha! Aber ich.«
»Nein. Und deine kleine Schimpftirade beweist genau das Gegenteil.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, reckte mich so hoch, dass ich Kishan größenmäßig so ebenbürtig war, wie es überhaupt nur ging. »Na schön. Dann braucht mich keiner von euch beiden zurückzubegleiten.«
Ich schnappte mir meinen Rucksack, kehrte einem völlig perplexen Kishan den Rücken zu, stürmte durch den Dschungel und ließ mich von meiner Wut lenken, bevor ich später mein Handy aus der Tasche fischte und nach Rens Punkt auf der Karte suchte. Kishan folgte mir in gewissem Abstand. Er war weit genug entfernt, dass ich ihn weder sehen noch hören konnte, doch gleichzeitig so nah, um in Windeseile bei mir zu sein, sollte ich ihn brauchen.
Ohne Begleitung durch den Dschungel zu wandern, tat mir gut. Es gab mir Zeit, mich zu beruhigen. Ich war immer noch wütend und schimpfte den ganzen Weg über leise vor mich hin. Als mir bewusst wurde, dass ich im Besitz der Goldenen Frucht und des Göttlichen Tuchs war, grinste ich bei dem Gedanken, dass Ren und Kishan entweder Hunger leiden oder selbst auf die Jagd gehen müssten. Voll Schadenfreude zauberte ich mir im Gehen eine riesige Eiswaffel herbei und besänftigte meine Wut mit Schokoladenbrownies und einem kühlen Milchshake.
Mehrere Stunden später erreichte ich Ren, der lässig gegen den im Schatten geparkten Jeep lehnte. Er beobachtete mich, als ich aus dem Unterholz trampelte. Wahrscheinlich hatte er mich schon vor zehn Minuten gehört. Er blickte über meine Schulter, überrascht, dass ich allein war, dann machte er ein finsteres Gesicht, verwandelte sich in den weißen Tiger und sprang in die Büsche.
Ich sank vor dem Jeep auf den Boden und nahm einen langen Schluck zuckerfreie Limonade aus der Feldflasche. Lieber wäre mir Wasser gewesen, aber das war uns ausgegangen, und die Goldene Frucht konnte kein schlichtes H2O herstellen.
Kishan tauchte auf und warf mir einen unergründlichen Blick zu, bevor er die Türen des Jeeps entriegelte und eine öffnete. Ren kam aus dem Unterholz und sprang geschmeidig und ruhig auf die Rückbank. Ich hatte keine Lust, mich neben Ren zu quetschen, weshalb ich den Beifahrersitz wählte, die Klimaanlage aufdrehte, mir ein Kissen herbeiwünschte und den Sitz nach hinten verstellte. Es war eine sehr stille Heimfahrt.
Sobald wir vor dem Anwesen hielten, sprang ich aus dem Wagen, knallte die Tür zu und stürmte ins Haus.
»Wir sind zurück, Mr. Kadam! Ich werde erst mal duschen!«, rief ich und verschwand in meinem Zimmer.
Nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, zauberte ich mir eine Schale Fruchtsalat sowie ein Geflügelsandwich herbei und ging auf der Suche nach Mr. Kadam ins Pfauenzimmer.
»Mr. Kadam? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich es vermisst habe, mit einem Gentlem…«, sprudelte es aus mir heraus, bevor ich mitten im Satz innehielt, als ich bemerkte, dass ein frisch geduschter Ren zugegen war.
»Miss Kelsey, kommen Sie herein«, bedeutete mir Mr. Kadam und kam mit offenen Armen auf mich zu.
Ich machte einen unbeholfenen Schritt nach vorne, umarmte Mr. Kadam und funkelte Ren finster an. Sein Haar war feucht nach hinten gekämmt, und er trug ein perfekt geschnittenes T-Shirt mit V-Ausschnitt in schillerndem Blau über einer grauen Designer-Röhrenhose mit Fischgrätmuster. Er war barfuß und der schönste Mann, den ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er verschränkte die Arme vor der Brust, was seine durchtrainierten Oberarmmuskeln zum Vorschein brachte. Ich blickte ihn griesgrämig an.
»Ich lasse euch zwei allein«, sagte Ren mit spöttischem Gebaren und verschwand, wobei er absichtlich mit dem Arm gegen meinen stieß.
»Ich hoffe, das hat wehgetan«, murmelte ich leise und hörte sein sanftes Lachen, während er in die Küche schritt.
Mr. Kadam schien von unserem Schlagabtausch nichts mitbekommen zu haben. »Miss Kelsey! Kommen Sie und setzen Sie sich. Ich muss Ihnen etwas zeigen!«
»Was denn?«
»Ich habe endlich die dritte Prophezeiung entschlüsselt und würde gerne hören, was Sie dazu sagen«, erklärte Mr. Kadam und schob mir seine Übersetzung über den Schreibtisch zu.
Die Worte waren in wunderschöner Kalligrafie geschrieben. Sie lauteten:
Eine Kette aus schwarzen Steinen
Sah man glänzend um ihren Hals sich ranken.
Doch ein Schurke näherte sich der Reinen,
Sodass die Gemmen in die Tiefe sanken.
Im Meer nun liegen die Perlen vergraben.
Allein ein tapf’rer Mann bringt sie zurück ans Licht.
Tod bringende Ungeheuer beißen und schaben –
Verschonen ihren Gegner nicht.
Doch schwinge den Dreizack, koste das Kamandal mit Bedacht,
Von der Weberin der Seide lass dich führen,
Denn dem Ozean der Milch in all seiner Pracht
Soll der gewundene Kranz gebühren.
In fünf Ozeanen suche die Drachen
Beim Tauchen möge das Glück dir lachen:
Der Rote Drache –
enthüllt die Sterne, die in Astralzeit reisen,
Der Blaue Drache –
wird den Weg zu deinem Ziel dir weisen,
Der Grüne Drache –
schult den Geist, bis er das Wesen der Dinge durchschaut,
Der Goldene Drache –
bewacht die Stadt, die unter Wellen erbaut,
Der Weiße Drache –
dich durch verschlossene Türen zu eisigen Lichtern schickt.
Nimm Durgas Waffen und gib bloß acht,
Dass du gewinnst ihr reines Glück.
Erring die Kette mit aller Macht,
Kehr nach Hause dann zurück.
Mit kostbarem Tau kühle Indiens Reiche,
Bis strömender Regen Flüsse und Bäche schafft.
Trockenes Land und müdes Herz mit deinem Nass erweiche,
Sonst regt sie sich nicht, die heilende Kraft.
Vorsichtig ließ ich die Seite in meinen Schoß gleiten und blickte Mr. Kadam mit blankem Entsetzen an. »Drachen?«, war alles, was ich herausbrachte.