10

Durgas Tempel

Ich lag auf einem harten Untergrund. Das Erste, was ich bemerkte, war, dass ich nicht atmen konnte. Ich keuchte und würgte und wurde rasch zur Seite gerollt. Nachdem ich Unmengen von Salzwasser aus meiner rauen Kehle gespuckt hatte, brannten meine Lungen, aber zumindest bekam ich wieder Luft. Ich holte mehrmals Atem, wurde zurück auf den Rücken gedreht und starrte in Kishans beunruhigtes Gesicht. Er trug immer noch seinen Neoprenanzug, sein Haar topfte.

»Was … ist … passiert?«, hustete ich.

»Schsch«, erwiderte Kishan. »Beruhige dich einfach und atme tief durch.«

Schließlich begriff ich, wo ich war – auf dem Boden des Laderaums im Brunnendeck. Wes und Mr. Kadam standen hinter Kishan, und alle drei beäugten mich eindringlich. Ich hustete wieder und blickte mich um. »Wo ist Ren?«

»Ich bin hier.«

Er stand gegen die Wand gelehnt da, weit weg von mir.

»Kannst du dich aufsetzen, Kells?«, fragte Kishan.

»Ja. Ich denke schon.«

Ich rappelte mich hoch, schwankte jedoch benommen, weshalb Kishan sich neben mich schob und mein Gewicht mit seiner Brust stützte. Wes ging neben mir in die Hocke, betastete meinen Schädel und begann, mir Fragen über mein Alter und meinen Geburtsort zu stellen.

Zufrieden mit meinen Antworten sagte er: »Du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt. Was war dort unten los?«

»Ein Aal hat mich berührt, und ich bin ausgeflippt. Ich habe nicht geschaut, wohin ich tauche, und habe mir den Kopf an dem Felsvorsprung gestoßen. Vielen Dank, dass du mich aus dem Wasser gezogen hast, Wes. Du bist ein guter Buddy.«

»War ich nicht. Das war Ren dort drüben.«

Ich lächelte Ren matt an. »Sieht wohl so aus, als hättest du mir das Leben gerettet. Das wievielte Mal ist das jetzt schon?«

Er erwiderte meinen Blick mit angespannter Miene. »Ich habe dich nur aus dem Wasser gezogen. Kishan hat die Wiederbelebung durchgeführt.« Nach diesen Worten verließ er abrupt den Laderaum.

Kishan half mir auf die Beine. »Wir bringen dich jetzt zurück auf dein Zimmer, Kells. Kadam? Könntest du Nilima Bescheid geben, damit sie Kelsey ein wenig unter die Arme greift?«

»Natürlich.«

Als ich zurück in meine Kabine ging, stellte ich erleichtert fest, dass ich nicht länger auf Kishan als Stütze angewiesen war. Mein Kopf schmerzte an der Stelle, wo ich gegen den Stein geknallt war, doch es war nicht unerträglich, nichts, was nicht ein paar Schmerztabletten in Ordnung bringen konnten. Kishan bestand darauf, dass Nilima in den nächsten paar Stunden bei mir blieb, und sie half mir aus dem Neoprenanzug, damit ich duschen konnte. Dann brachte mir Kishan Essen aufs Zimmer, obwohl ich ihm versicherte, dass es mir gut ging und ich mich auf unseren nächsten Tauchgang freute. Sie schienen allesamt zu glauben, dass ich mir einen oder zwei Tage Pause gönnen sollte. Um sie zu beruhigen, willigte ich schließlich ein, früh ins Bett zu gehen. Dann schlich ich zur Verbindungstür, in der Hoffnung, Ren zu finden. Die ganze Zeit über hatte er nicht nach mir gesehen, und ich wollte aus seinem Munde wissen, was genau passiert war. Alle verhielten sich so sonderbar. Ich konnte nur nicht den Finger darauf legen, was los war.

Ren war nicht in seinem Zimmer. Ich wartete stundenlang in meiner Kabine auf ihn und ließ sogar die Verbindungstür weit offen, doch er ließ sich nicht blicken.

Selbst bei Wes’ Übungsstunde am nächsten Tag tauchte er nicht auf. Wes arbeitete bei Partnerübungen mit Mr. Kadam zusammen und Kishan mit mir. Als ich Mr. Kadam und Kishan fragte, wo Ren steckte, sagten sie, dass Ren auf dem Schiff sei und es ihm gut gehe. Er werde mit mir reden, sobald er dazu bereit sei.

Kurz darauf legte die Deschen ab und machte sich auf den Weg zu unserer nächsten Hafenstadt. Ich ließ das Abendessen ausfallen und ging früh zu Bett. Wie in den Nächten zuvor stand ich lange in unserer Verbindungstür und starrte bedrückt in Rens dunkles Zimmer.

Wo kann er nur sein? Ist er sauer auf mich? Habe ich ihn verletzt? Ist etwas passiert? Ist er irgendwo in Tigergestalt gefangen? Ist etwas zwischen ihm und Wes vorgefallen? Zwischen ihm und Kishan?

Fragen wirbelten in meinem Kopf, und mein Herz schmerzte vor Sorge. Ich hatte versprochen, das Ortungshandy nicht zu benutzen, aber ich durchkämmte eigenhändig das gesamte Schiff, stellte alles auf den Kopf und suchte in jeder Ecke und jedem Winkel. Keine Spur von ihm.

In der dritten Nacht ohne Ren ging ich zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Gegen Mitternacht entschied ich, dass die kühle Meeresbrise mir womöglich helfen könnte, einen klaren Kopf zu bekommen.

Nachdem ich die Außentreppe zum Sonnendeck hochgestiegen war, stand ich eine Weile an der Reling in der Nähe unseres Esstischs. Der Wind wehte scharf, und als ich mir das Haar aus dem Gesicht strich, hörte ich das leise Murmeln männlicher Stimmen. Den Stimmen folgend, schlüpfte ich durch einen schmalen, überdachten Durchgang, nur um wie erstarrt stehen zu bleiben, als ich Ren und Kishan erblickte, die mir den Rücken zugewandt hatten. Ich stand gegen den Wind, und das Wetter war so stürmisch, dass sie mich nicht hören konnten.

Während ich auf sie zuschritt, vernahm ich Kishans Stimme. »Ich glaube nicht, dass sie sich so verhalten wird, wie du erwartest.«

»Sie ist fast so weit. Aus den Augen, aus dem Sinn«, erwiderte Ren.

»Ich denke, du unterschätzt ihre Gefühle für dich.«

»Das spielt keine Rolle. Ich habe meine Entscheidung getroffen.«

»Du bist nicht die einzige Person, die das etwas angeht.«

»Es muss geschehen, Kishan. Ich werde das nicht noch einmal zulassen.«

»Es war nicht deine Schuld.«

»Doch. Ich bin dafür verantwortlich. Ich muss mit den Konsequenzen leben.«

»Es wird sie verletzen.«

»Du wirst da sein, um sie zu trösten.«

»Das wird nicht reichen.«

»Doch, das wird es.« Ren legte Kishan eine Hand auf die Schulter. »Die Zeit … heilt alle Wunden.«

»Du musst es ihr sagen. Wenn du mit Kelsey Schluss machen willst, verdient sie, dass sie es aus deinem Munde hört.«

Schluss machen?

Die letzten paar Schritte flog ich geradezu, stürmte auf die Brüder zu und rief: »Was in aller Welt beredet ihr zwei da? Ich hoffe doch inständig, dass ich schlafwandle und diese Unterhaltung nie stattgefunden hat!«

Beide wirbelten gleichzeitig herum. Kishan sah schuldbewusst aus, während sich Rens Gesichtsausdruck verhärtete, als bereitete er sich auf einen Kampf vor.

Ich bohrte Ren den Finger in die Brust. »Wo hast du die letzten paar Tage gesteckt? Du schuldest mir eine Erklärung, Mister! Und du!« Ich drehte mich zu Kishan um. »Wie könnt ihr es wagen, euch gegen mich zu verschwören und Pläne zu schmieden, ohne mich einzubeziehen! Ihr solltet es besser wissen!«

Kishan verzog das Gesicht. »Es tut mir leid, Kells. Du und Ren, ihr müsst reden. Ich komme später zu dir und lasse mich gerne weiter anschreien.«

»Schön.«

Kishan verschwand in Windeseile, während sich Ren mit entschlossener Miene gegen die Reling lehnte.

»Nun? Bekomme ich jetzt eine Erklärung, oder muss ich sie mit meinem Blitz aus dir herauskitzeln?«

»Du hast gehört, was ich dir sagen will. Ich möchte mit dir Schluss machen.«

Ich konnte an nichts anderes denken als: »Warum?«

»Ich kann nicht … Es wird nicht … Wir sollten nicht … Glaub mir, ich habe meine Gründe, okay?«

»Nein. Nur zu behaupten, du hättest deine Gründe, reicht nicht.«

Etwas flackerte in seinen Augen auf. Schmerz. Aber der Funke erstarb rasch und wurde durch unerschütterliche Verbissenheit ersetzt. »Ich liebe dich nicht mehr.«

»Das glaube ich dir nicht. Da musst du schon mit einer besseren Erklärung aufwarten. Ich habe deine Wünsche auf dem Sternenfest gelesen. Schon vergessen?«

Er verzog das Gesicht. »Ach ja. Aber du musst mir trotzdem glauben. So ist es leichter für uns beide. Kishan hat Gefühle für dich, und es wäre besser, wenn du mit ihm zusammen wärst.«

»Du kannst mir nicht vorschreiben, wen ich lieben und wen ich nicht lieben soll.«

»Du liebst ihn doch längst.«

»Ich liebe dich, du Idiot.«

»Dann hör damit auf.«

»Ich kann meine Gefühle nicht einfach ein- und ausschalten.«

»Deshalb werde ich mich zurückziehen. Ich werde nicht mehr in deiner Nähe sein. Du wirst mich nicht zu Gesicht bekommen.«

»Oh, ich verstehe. Du glaubst, alles wird gut, wenn ich dich nicht mehr sehe?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber es wird helfen.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn bitter an. »Ich kann nicht glauben, dass du mir wirklich rätst, mit deinem Bruder zusammenzukommen.

Das bist nicht du. Sag mir bitte, was ich getan habe, dass du so bist.«

»Du hast nichts getan.« Ren beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Reling. Er schwieg lange, weshalb ich zu ihm trat und mich ebenfalls über die Brüstung lehnte. Schließlich sagte er leise: »Ich konnte dich nicht retten.«

»Wie meinst du das?«

»Ich konnte es nicht. Ich habe versucht, dich wiederzubeleben, aber mir wurde schrecklich übel. Ich konnte dich nicht retten. Kishan musste einschreiten, und in meiner Eifersucht und meinem Zorn habe ich ihn weggestoßen. Ich habe dich beinahe sterben lassen, weil ich nicht wollte, dass er dich berührt. Das war der Moment, in dem ich erkannte, dass ich dich gehen lassen muss.«

»Aber Ren …« Ich wollte seinen Arm berühren.

Ren blickte auf meine Hand und wich zur Seite.

Ich erstarrte und sagte: »Ich bin sicher, du übertreibst.«

»Nein, das tue ich nicht.« Er drehte sich von mir weg, als wollte er gehen.

»Alagan Dhiren Rajaram, du bleibst genau da, wo du stehst, und hörst mir zu!«

»Nein. Kelsey. Nein! Ich kann nicht mit dir zusammen sein! Ich kann dich nicht berühren! Und ich kann dich nicht beschützen.« Er umklammerte die Reling so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. »Du brauchst einen Mann, der all das kann. Und dieser Mann bin ich nicht. Monate sind verstrichen, Kelsey. Ich habe den Trigger nicht gefunden. Wahrscheinlich wird mir das nie gelingen, und du wirst dein ganzes Leben damit vergeuden, auf mich zu warten! Kishan braucht dich. Kishan will dich. Geh zu ihm.«

»Das will ich nicht. Ich habe dich gewählt, und mich interessiert der Rest nicht. Ich bin überzeugt, dass wir für alles eine Lösung finden. Stoß mich bitte nicht von dir weg.«

Panik stieg in mir auf. Ren meinte es ernst. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er noch nie einen Zentimeter davon abgewichen, und ich schien ihm das einfach nicht ausreden zu können. Ich atmete stoßweise, bekam keine Luft, obwohl ich immer hastiger atmete. Tränen liefen mir das Gesicht herab. »Nichts von alledem fühlt sich richtig an. Ich kann nicht glauben, dass du mich freiwillig von dir wegstößt.«

»Sei nicht so starrköpfig, Kelsey.«

Mit Tränen in den Augen lachte ich höhnisch. »Ich denke nicht, dass ich hier diejenige bin, die starrköpfig ist.«

Er seufzte. »Schön. Dann eben auf die harte Tour.« Er drückte die Schultern durch, und seine Lippen kräuselten sich grausam. »Die Menschen machen ständig Schluss, Kelsey. Akzeptier es einfach. Seien wir doch mal ehrlich, eine Weile war es sehr nett, aber es ist an der Zeit, nach vorne zu blicken. Keine vergessenen Erinnerungen können all diesen … Schmerz wert sein. All dieses Unglück.«

»Ich glaube dir trotzdem kein Wort. Ich weiß, dass du immer noch etwas für mich empfindest.«

»Wie kann ich etwas für ein Mädchen empfinden, wenn sich meine Eingeweide jedes Mal krampfhaft zusammenziehen, sobald ich sie berühre?«

»Daran hast du dich bisher nicht gestört.«

»Du bist das einzige Mädchen, das ich jemals geküsst habe, und ein Kuss, der nur wenige Sekunden dauert, lohnt diese Höllenqual einfach nicht.«

»Weißt du, was ich denke? Ich denke, du hast schreckliche Gewissensbisse wegen der Wiederbelebungssache. Du hattest schon immer diesen unverbesserlichen Beschützerinstinkt, und jetzt hast du das Gefühl, du könntest mich retten, indem du mit mir Schluss machst. Du hast einen überdrehten Superman-Komplex, und deine Lieblingsbeschäftigung ist, unsere Beziehung für meine Sicherheit zu opfern.«

Er schnaubte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Anscheinend drücke ich mich nicht klar genug aus. ICH WILL DICH NICHT. Nicht mehr. Ich bin nicht mal sicher, ob ich im Moment überhaupt eine Freundin will. Vielleicht möchte ich auch eine Weile meine Freiheit genießen, ein paar Herzen brechen. Ich denke, beim nächsten Mal werde ich eine Rothaarige oder eine Blondine ausprobieren.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«

»Ist es das, was du brauchst? Du musst mich mit einer anderen Frau sehen, bevor du mir glaubst, dass ich es ernst meine?«

Ich verschränkte die Arme. »Ja.«

»Schön. Deiner Bitte kann ich liebend gerne nachkommen.«

»Oh … nein … das wirst du … nicht! Wenn ich dich mit einer anderen Frau sehe, werde ich dich höchstpersönlich erwürgen, Tarzan!«

»Ich will dir nicht wehtun, Kelsey, aber du zwingst mich. Ich meine es ernst. Wir gehören nicht zusammen, und bis du das akzeptierst, wirst du mich nicht wiedersehen.« Ren drehte sich um.

»Du Feigling! Versteckst dich vor einem Mädchen, das halb so groß ist wie du.«

Er drehte sich noch einmal zu mir um. »Ich bin kein Feigling, Kelsey. Du hast mich einmal verlassen mit den Worten, dass wir nicht zusammengehören. Dass wir nicht … füreinander bestimmt sind. Allmählich glaube ich, dass du recht hattest. Du passt nicht zu mir. Ich will eine andere. Eine«, sein Kiefer mahlte, »die hübscher ist. Und weniger vorlaut, das wäre auch schön.«

Ich keuchte leise auf, während mir dicke Tränen die Wangen hinabkullerten.

Als Ren sah, dass mein fester Glaube an ihn einen Riss bekommen hatte, setzte er zum Todesstoß an. »Ich bin sicher, dass wir beide schon bald mit der Sache abgeschlossen haben. Vielleicht sogar schon im Laufe der Woche.«

Sprachlos drehte ich mich weg.

»Die gute Nachricht lautet für dich, dass du einen oder sogar zwei Ersatzfreunde hast, die liebend gerne für mich in die Bresche springen werden. Du hast es leicht. Männer scheinen von dir angezogen zu sein wie Bären vom Honig. Sei dankbar.«

Ich drückte mir die Hände auf den Bauch in dem Versuch, den Schmerz niederzukämpfen. Nach einem zittrigen Atemzug fragte ich leise: »Das war’s? Das ist der Abschied? Wir werden einander nichts mehr bedeuten? Du willst nicht einmal mit mir befreundet sein?«

»Das stimmt. Ich werde natürlich helfen, den Fluch zu bannen, aber abgesehen davon solltest du nicht erwarten, mich zu Gesicht zu bekommen. Und sobald Durgas Aufträge erledigt sind, werde ich verschwinden. Du wirst mich nie mehr wiedersehen.«

Er ging ein paar Schritte fort, blieb jedoch stehen, als ich zögerlich sagte: »Ren?«

Er seufzte. »Ja?«

Ich holte ihn ein, damit ich ihm fest in die Augen sehen konnte. Ich starrte in sein wunderschönes Gesicht, suchte verzweifelt nach einem Anzeichen, dass er diesen Unsinn beenden würde. Doch seine Miene war hart wie Stein. Er würde seine Meinung nicht ändern, nicht nachgeben. Ich versuchte eine andere Taktik und drohte: »Wenn du das tust … Wenn du mich schon wieder verlässt, gibt es keine zweite Chance.«

Eine Träne rollte meine Wange hinab. Ren kam einen Schritt auf mich zu und streckte den Finger nach der Träne aus. Unsere Blicke trafen sich, und mein Herz pochte mir unsäglich laut in der Brust. Ich liebte ihn so sehr, dass es schmerzte.

Ren betrachtete die Träne, während er sie zwischen seinem Zeigefinger und dem Daumen zerrieb. Er blickte auf, die blauen Augen wie harte Saphire. »Ich brauche keine zweite Chance. Ich werde mich nie mehr in dich verlieben.«

Vielleicht war er längst nicht mehr mein Ren. Vielleicht hatte ich mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht, etwas gewünscht und herbeigesehnt, was ich nie zurückbekommen würde. Verärgert sagte ich: »Du solltest dir vollkommen sicher sein. Denn wenn ich mich für Kishan entscheide, werde ich ihn deinetwegen nicht verlassen. Das wäre ihm gegenüber unfair.«

Ren lachte trocken. »Ich fühle mich gebührend gewarnt.«

Als er schweigend wegging, flüsterte ich: »Aber ich werde dich weiterhin lieben.«

Falls er mich gehört hatte, so blieb er jedenfalls nicht stehen. Ich lehnte eine geraume Weile gegen die Brüstung, versuchte herauszufinden, wie ich wieder schlucken könnte. Ein Wirrwarr aus Gefühlen hatte sich in meiner Kehle verklumpt, und ich konnte nur winzige Atemzüge tun.

Ren hielt Wort. Ich bekam ihn die gesamte Woche nicht zu Gesicht. Der Rest von uns ging wie vorgesehen tauchen. Alle Augen waren auf mich gerichtet, aber ich hatte mich vorbereitet und machte meine Sache gut. Ich sah sogar einen Ammenhai, der dicht über dem Meeresboden schwamm, und geriet nicht in Panik. Allerdings hatte ich jeden Appetit verloren, und Kishan versuchte ständig, mir Essen in den Mund zu stopfen.

An einem Morgen ließ ich das Frühstück einfach komplett ausfallen. Wes fand mich an einem kleinen, versteckten Plätzchen auf dem Ruderhaus, von dem ich dachte, ich wäre die Einzige, die es kannte. Er setzte sich neben mich.

»Wow! Das fühlt sich an, als wäre es der höchste Ort der Welt. Ich glaube, von hier oben kann ich sogar die Erdkrümmung sehen.«

Ich nickte.

»Wie mir zu Ohren gekommen ist, hat dein Typ mit dir Schluss gemacht.«

Ich gab keine Antwort, weshalb er fortfuhr: »Gute Kerle sind rar wie Zähne in einem Huhn. Das tut mir wirklich leid, Süße. Ein Kerl, der ein hübsches, liebes Mädchen wie dich abserviert … Nun, das macht einfach keinen Sinn. Der glaubt wohl, dass sich die Welt nur um ihn dreht.«

»Hast du schon mal mit jemandem Schluss gemacht?«

»Einmal. Und ich bereue es bis zum heutigen Tag.«

»Was ist passiert?«

»Sie war meine große Highschool-Liebe. Alle haben angenommen, dass ich nach dem Schulabschluss das College besuchen und sie aufs Community College in unserer Heimatstadt gehen würde. Hinterher, so war der allgemeine Konsens, wäre ich zurückgekommen und hätte ihr einen Verlobungsring an den Finger gesteckt. Mein ganzes Leben war für mich im Voraus geplant. Es war kein schlechtes Leben, aber ich wollte ein Mitspracherecht. Als mich allmählich das Fernweh packte, habe ich sie verlassen, noch bevor ich das College geschmissen habe. Ich habe sie geliebt. Tu ich immer noch. Vielleicht wäre sie sogar mitgekommen. Vermutlich hat sie ein Weile auf mich gewartet, aber als ich weder anrief, noch schrieb, hat sie mich aufgegeben und einen anderen geheiratet.«

»Vielleicht solltest du sie anrufen.«

»Nein, sie hat Kinder. Und sobald der Zug abgefahren ist … Lass es mich so sagen, dann ist es leichter, ihn einfach fahren zu lassen, als ihm nachzulaufen.«

»Ich verstehe. Dennoch ist Reue etwas, womit man nur schwer leben kann.«

»Wahrscheinlich hat sie sich längst damit abgefunden, mich zu hassen. Ich denke, so ist es das Beste.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dich hasst. Ich könnte Ren niemals hassen.«

Er rieb sich das Kinn. »Echt? Hm … Vielleicht schreibe ich ihr irgendwann mal einen Brief.«

»Das solltest du tun.«

»Dein Mr. Kadam möchte mit dir reden. Soll ich dich nach unten begleiten?«

»In Ordnung.«

Wes brachte mich zu Mr. Kadam, der völlig in seine Recherchen vertieft war. Er deutete auf den Sessel neben sich.

»Vielen Dank, Wes. Eigentlich wollte ich Kishan schicken, aber er scheint im Moment nicht auffindbar zu sein.«

»Wahrscheinlich erledigt er Botengänge für den unsichtbaren Mann«, bemerkte ich zynisch.

»Ja. Vielleicht.« Mr. Kadam tätschelte mir mitfühlend die Hand, und Wes verschwand mit einem Nicken.

Ohne Umschweife kam Mr. Kadam direkt zur Sache, drehte den Laptop um und zeigte mir das Bild eines Tempels. »Das ist der Sri-Mangaladevi-Tempel in der Nähe von Mangalore. Wir werden gegen Mitternacht dorthin fahren und versuchen, der Göttin Durga ein weiteres Mal Leben einzuhauchen. Ich bin der Überzeugung, dass die heutigen Gaben etwas mit der Säule zu tun haben müssen, die das Wasser repräsentiert. Hier ein Foto davon. Es ist leicht beschädigt, aber Sie können immer noch die Schnitzereien ausmachen.«

Das Bild zeigte die Göttin Durga auf einer Steinsäule, die kunstvoll mit Seesternen, Muscheln und Fisch-Ornamenten verziert war. Fischer zogen ihre Netze aus dem Meer, ein Fluss entsprang einem Muschelhorn, und Bauernhöfe mit Regenwolken darüber waren zu erkennen, die Dorfbewohner boten der See gefüllte Schalen dar.

Mr. Kadam fuhr fort: »Ich habe mir überlegt, Sie und ich sollten heute auf den Markt gehen, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen, die wir womöglich gebrauchen könnten, und nach der regulären Öffnungszeit verschaffe ich uns Zutritt zu dem Tempel.«

Ich zuckte mit den Schultern. Es kümmerte mich nicht, was wir vorhatten.

Zur verabredeten Zeit stand ich beim Jeep und beobachtete ungerührt, wie die Hafenarbeiter die Rampe herabließen, damit wir direkt vom Boot auf den Anlegesteg fahren konnten. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe, während ich auf Mr. Kadam wartete. Schließlich tauchte er auf und entschuldigte sich für seine Verspätung. Anscheinend hatte selbst er Probleme, Ren ausfindig zu machen.

Na gut. Soll er doch Verstecken spielen. Ich habe Wichtigeres zu tun.

Mr. Kadam und ich verbrachten den Nachmittag in der Stadt und kauften eine Tüte voller Dinge, die in Zusammenhang mit dem Meer oder mit Wasser standen. Wir aßen einen Happen in einem kleinen Café und redeten währenddessen über ganz banale Sachen.

Sobald wir zurück an Bord waren, zog ich mein Ortungshandy heraus. Nun, da Ren und ich nicht mehr zusammen waren, zählte mein Versprechen nicht mehr, und ich schaltete den kleinen Bildschirm ein. Rens blinkender Punkt zeigte, dass er zu den Gästekabinen ein Deck unter uns gegangen war, aber nie lange an einem Ort blieb. Eine Weile verfolgte ich an diesem Nachmittag seinen Punkt auf meinem GPS-Gerät, doch dann begann ich, mich wie eine Stalkerin zu fühlen – die Art durchgeknalltes Mädchen, das auf Parkplätzen rumhängt und nach dem Auto seines Exfreundes sucht. Ich klappte mein Handy zu und ließ ihn in Ruhe.

Am Abend holte ich die Tüte mit unseren Einkäufen heraus und legte die Gegenstände in meinen Rucksack. Wir hatten eine Sonnenbrille besorgt, Flip-Flops, Muscheln, einen Seestern, einen kleinen, versiegelten Kupferkessel mit dem Wasser des Ganges, Sonnencreme, einen lebenden Goldfisch, eine Koralle, ein Päckchen getrockneten Seetang, eine Flasche Wasser, eine CD mit Meeresrauschen, und ich gab noch die Feder eines Meeresvogels hinzu, die ich am Strand gefunden hatte.

Nach unserer Rückkehr und dem Zwischenspiel mit dem Ortungshandy hatte ich ein Nickerchen gemacht und las gerade in der Lounge ein Buch, als Nilima auf mich zukam.

»Hi, Miss Kelsey. Wie geht es Ihnen?«

»Den Umständen entsprechend. Und Ihnen?«

»Sehr gut. Ich hoffe, es stört Sie nicht, aber ich wollte etwas für Sie tun.«

»Und das wäre?«

Sie reichte mir einen wunderschönen Seidenstoff. »Könnten Sie den hier heute Nacht mitnehmen und ihn ebenfalls Durga opfern?«

»Natürlich, aber weshalb?«

»In dem Tempel gibt es für unverheiratete Frauen ein Fasten-Ritual namens Mangala Parvati Vrata. Die Frauen essen mehrere Wochen lang jeden Dienstag im Sommer nichts und bieten dann der Göttin ein Stück Seide dar.«

»Warum tun sie das?«

»Weil sie glauben, dass die Göttin Durga ihnen im Gegenzug einen charmanten und attraktiven Gatten findet, der gut zu ihnen ist.«

»Oh, ich verstehe.«

»Als ich hörte, dass Großvater diesen Tempel ausgesucht hat, habe ich zu fasten begonnen. Nicht für mich, sondern für Sie.«

»Sie haben also gestern gefastet? Am Dienstag?«

Sie warf sich das wunderschöne schwarze Haar über die Schulter. »Nein, ich faste schon viel länger. Womöglich ist es Ihnen nicht entgangen, dass ich nur sehr selten beim Mittagessen oder Frühstück zugegen war, seit wir an Bord des Schiffs sind.«

Ich beugte mich vor und nahm Nilimas Hand. »Wollen Sie etwa sagen, dass Sie seit mehr als zwei Wochen nichts gegessen haben?«

»Ich hatte Wasser und Milch, aber ich habe in der Zeit keine feste Nahrung zu mir genommen. Obwohl ich nicht viele Dienstage aufzuweisen habe, hoffe ich dennoch, dass die vielen Tage des Fastens meine Hingabe beweisen. Mein sehnlichster Wunsch ist, dass Durga Ihnen hilft, Zufriedenheit und Glück zu finden.«

»Nilima, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Ich umarmte sie. »So etwas Wunderbares hat noch nie jemand für mich getan. Es wäre mir eine Ehre, die Seide heute Nacht zu Durga zu bringen.«

Sie lächelte und drückte meine Hand. »Nur für alle Fälle werde ich warten, bis Sie zurück sind, bevor ich mein Fasten beende. Viel Glück heute Abend, Miss Kelsey.«

»Vielen Dank, dass Sie mir eine so gute Freundin sind. Ich hatte nie eine Schwester, aber ich könnte mir keine bessere vorstellen.«

»Und Sie sind mir ebenfalls eine gute Freundin und Schwester. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Nilima ging zu Bett, und ich kehrte zu meinem Sessel zurück. Behutsam strich ich mit dem Finger über den wunderschönen Stoff, den sie mir gebracht hatte, und dachte über ihre Opfergabe nach, bis Mr. Kadam mich abholte. Ich nahm den Rucksack, warf ihn mir über die Schulter und schob Fanindra an meinem Arm hinauf. Dann eilten wir zur Garage hinab und trafen dort Kishan, der in seiner Tasche die Goldene Frucht, das Göttliche Tuch und für alle Fälle die Waffen bei sich hatte.

Kishan öffnete mir die Beifahrertür und setzte sich auf die Rückbank. Unvermittelt wurde die Tür hinter mir aufgerissen, und Ren kletterte in den Jeep. Er sah mich nur ganz kurz an, schloss dann die Tür und schnallte sich an. Die Fahrt in die Stadt verlief sonderbar und schweigsam.

Nachdem wir den Tempel erreicht hatten, parkten wir auf der Rückseite. Das Gebäude war so grell erleuchtet, dass es im Grunde aussah wie eine Attraktion in Disneyland. Das Heiligtum hatte die Form eines Kegels, ähnlich wie die anderen Tempel, die wir bisher gesehen hatten, und zwei quadratische Gebäude schlossen sich zu beiden Seiten an. Die Nebengebäude hatten Glasfenster, die mich an Drive-in-Restaurants erinnerten, nur dass hier goldene Statuen in den Fenstern prunkten.

Im Scheinwerferlicht schien der Tempel orange oder golden zu glühen, doch in Wirklichkeit war er weiß mit goldenen Verzierungen. Als ich meine Bedenken wegen der Beleuchtung äußerte, versicherte mir Mr. Kadam, dass alles arrangiert sei und uns niemand stören werde. Außerdem sei es zu dieser Jahreszeit völlig normal, dass die Tempel die ganze Nacht über angestrahlt wurden.

Wir gingen durch die unversperrte Tür, betraten den Tempel und schritten an mehreren Portalen vorbei. Mr. Kadam führte uns den Gang hinab, bis wir zu einem geräumigen, weitläufigen Raum kamen. Am anderen Ende, hell erleuchtet aus jedem nur möglichen Winkel, saß eine goldene Durga-Statue auf einem goldenen Thron.

Ihre Augen waren geschlossen, und sie war in ein rotes Gewand gekleidet. Kostbare Juwelen waren zusammen mit Blumengirlanden um ihren Hals gewunden. Als ich Mr. Kadam fragte, ob sie aus echtem Gold bestünde, erklärte er, dass sie aus Bronze sei und alle Durga-Statuen entweder aus Stein oder Bronze gefertigt seien. Allerdings gestand er ein, dass sie möglicherweise vergoldet sein könnte.

Durgas hohe, spitze Haube war ebenfalls mit Edelsteinen umrankt, und Blumenketten hingen herab, sodass sie mit ihrem Kopfschmuck aussah wie das weibliche Gegenstück eines Indianerhäuptlings. Ich konnte nur vier ihrer Arme und zwei ihrer Waffen sehen: eine Axt und einen Stab. Zwei ihrer Hände waren an den Innenflächen mit Symbolen verziert. Ihre Lippen waren rot. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Steinstatuen bisher, sodass ich bezweifelte, ob sie überhaupt zum Leben erwachen würde.

Mr. Kadam hoffte, dieses Mal zusehen zu dürfen, war jedoch darauf vorbereitet, jederzeit zu verschwinden. Ich öffnete den Reißverschluss des Rucksacks, holte unsere Opfergaben heraus und legte sie Durga zu Füßen. Zuletzt nahm ich das Stück Seide und legte es ihr behutsam in den Schoß. Niemand stellte eine Frage, was mir eine große Erleichterung war. Diesmal, stellte ich fest, gab es keine Säulen, an denen man sich im Notfall würde festhalten können.

»Seien Sie vorgewarnt«, sagte ich zu Mr. Kadam, »es könnte ein wenig ungemütlich werden.«

Kishan nickte mir zu, und ich strich mit dem Finger über die kleinen Glocken an meinem Fußkettchen. Bei der süßen Erinnerung an das Schmuckstück musste ich schlucken, schob den Gedanken jedoch mit aller Gewalt in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Um mir Mut zuzusprechen, berührte ich mit den Fingerspitzen das Amulett um meinen Hals und streckte die Hand nach Kishan aus. Er trat vor und nahm sie. Ich hielt auch Ren eine Hand hin, aber er hastete auf die andere Seite von Mr. Kadam, der stattdessen meine Hand nahm. Ich biss die Zähne fest zusammen und wartete, bis Ren Mr. Kadams Hand hielt. Dann sagte ich leise: »Durga, wir sind zurückgekommen, um ein weiteres Mal deine Unterstützung zu erbitten, da wir die dritte Aufgabe bewältigen wollen. Hilf uns, den Fluch zu bannen, der auf diesen beiden Männern liegt, und den bösen Magier zu bekämpfen, der sie verhext hat.«

Ich drückte Kishans Hand, und er trat vor. »Wunderschöne Göttin, bitte erscheine uns wieder und gewähre uns die Mittel, die notwendig sind, um einen Sieg gegen all jene zu erringen, die sich uns in den Weg stellen, während wir nach deiner Gabe suchen.«

Ich blickte demonstrativ die Reihe entlang bis zu Ren, der schließlich sagte: »Wir sind gekommen, um deine Weisheit und Stärke zu erbitten. Sei unsere Helferin in der Not.«

»Mr. Kadam? Wollen Sie auch etwas sagen?«, fragte ich.

»Was soll ich denn sagen?«

»Fassen Sie in Worte, wofür auch immer sie von Durga Hilfe benötigen.«

Er dachte ein paar Sekunden nach. »Hilf mir, meinen … Prinzen … zur Rettung zu kommen und ihrem Leiden ein Ende zu setzen.«

»Okay, wenn ihr zwei euch jetzt in Tiger verwandeln könntet.«

Sie versuchten es, doch nichts geschah.

Mr. Kadam fragte: »Was passiert normalerweise als Nächstes?«

»Hm, sobald die beiden Tigergestalt annehmen, setzt eine Art Erdbeben ein oder ein schrecklicher Sturm.«

»Vielleicht ist meine Anwesenheit abträglich?«

»Das glaube ich nicht.«

»Was ist heute anders, abgesehen von meiner Wenigkeit?«

»Die Statue ist golden, nicht aus Stein. Beide, Ren und Kishan, sind hier. Davor war es immer entweder der eine oder der andere.«

»Haben Sie sich zuvor auch an den Händen gehalten?«

»Ja.«

»Lassen Sie uns einen weiteren Versuch unternehmen. Kishan und Ren, wenn ihr Miss Kelseys Hand halten würdet, werde ich diesmal einen Schritt zurücktreten.«

Widerstrebend nahm Ren meine Hand. Er stöhnte leise, und ich glaubte, das Brennen diesmal ebenfalls zu spüren. Wir drei wiederholten rasch unsere Bitten, bevor sich die Brüder erneut in Tiger verwandelten. Mit einem Schlag erzitterte der Raum. Ren nahm genau in dem Moment Menschengestalt an, als ich gegen seine Brust knallte. Er schlang die Arme um meinen Körper, damit ich nicht fiel. Wind peitschte durch den Tempel, und der Boden erbebte wieder. Wir stürzten beide auf Kishan, und alle drei knallten wir in einem Gewirr aus Armen und Beinen zu Boden.

Wasser tropfte nun an der Statue herab. Anfangs war es nur ein Rinnsal, dann schien etwas zu bersten, und ein Strom schoss herab und sammelte sich zu Durgas Füßen. Fluten stürzten aus allen Türen in den Tempel. Wasser klatschte wie Brandung gegen meine Beine, und ein pfeifender Wind riss an unseren Körpern. In dem Augenblick, als die Lichter ausgingen, hämmerten Regentropfen auf unsere Gesichter ein. Schon bald berührten unsere Füße den Boden nicht mehr. Uns blieb keine andere Wahl, als im dunklen Wasser zu schwimmen, während die Wellen immer höher schlugen.

»Kelsey!«, rief Ren. »Halt dich an meinem Hemd fest! Lass nicht los!«

Ich kreischte auf, als etwas mein Bein packte.

»Ich bin’s.«

»Kishan? Wir müssen Mr. Kadam finden!«

Wir drei tauchten auf und ab, wurden von unsäglich hohen Wellen hin und her geschleudert, während wir uns nach Mr. Kadam die Seele aus dem Leib schrien. Schließlich hörten wir ihn. »Ich bin hier.«

Ren ließ mich bei Kishan und benutzte den Abschleppgriff, den Wes uns gezeigt hatte, um Mr. Kadam zu uns zu bringen. Kurz darauf flaute der Wind ab, und die Wellen ließen nach. Da vernahm ich ein saugendes, schmatzendes Geräusch. Nach ein paar Minuten konnte Ren wieder stehen. Kurz darauf hatte auch ich wieder festen Boden unter den Füßen, und wir vier drängten uns in der Dunkelheit aneinander, nass und klamm.

»Ich hätte mich genauer nach den Umständen erkundigen müssen, bevor ich die Entscheidung traf, mich euch anzuschließen«, sagte Mr. Kadam kichernd. »Vielleicht hätte ich es mir dann anders überlegt.«

Das Wasser war jetzt fast verschwunden, und Kishan durchschritt den Raum, um unsere Rucksäcke aufzusammeln. Er zog einen Leuchtstab heraus und untersuchte damit die Statue. Das wunderschöne Gold und die Seide waren nun durchweicht und dreckig. Schlamm und Algen bedeckten Durga, den Boden und uns.

»Kelsey! Hier!« Kishan winkte mich näher.

Ein Handabdruck war auf dem Thron erschienen, der vorher nicht da gewesen war.

»Okay. Tritt zurück.«

Kishan wich nur einen winzigen Schritt zurück, als ich meine Hand auf den Abdruck legte und meinen Blitzschlag heraufbeschwor. Meine Hand wurde blau und schimmerte dann durchsichtig, bevor Phets Zeichnung wieder erschien. Ich spürte, dass sich etwas in der Statue bewegte, da zerrte mich Kishan fort. Ein sanfter Regen fiel von oben. Durgas durchnässter Kopfschmuck und die goldene Krone schmolzen dahin. Der goldene Thron löste sich ebenfalls auf und verwandelte sich in einen Stuhl aus Korallen, der mit Muscheln, Seesternen und Juwelen besetzt war. Von Durgas Armen tropfte Regenwasser, und zwei von ihnen erwachten zum Leben.

Die Göttin wischte sich Wassertropfen von den Armen, und bei jeder Berührung erhellte ihre gleißende, funkelnde Haut den Raum, und wir konnten sie klar erkennen. Ihre Haut hatte die Farbe von glänzendem Alabaster, und sobald sie sich bewegte, schillerte sie in allen nur erdenklichen Blau-, Grün- und Purpurtönen. Sie drehte sich leicht, und ein Lichtschein strahlte so gleißend, dass ich die Augen schließen musste. Als ich sie wieder öffnete, erinnerten mich die wirbelnden Muster auf ihrer Haut an einen Perlmuttnagellack oder die Schuppen eines Fisches. Was auch immer es war, es war unglaublich.

Durga schob die Reste ihres Kopfschmucks fort und strich sich das Haar im Regen zurück, als würde sie duschen. Fasziniert sah ich ihr zu, während all ihr Gold weggewaschen wurde und das wunderschöne lange dunkle Haar der Göttin zum Vorschein kam. Sie trug ein einfaches meergrünes Kleid und einen Kranz aus Lotosblüten. Ihre Füße waren nackt. Als der Regenschauer nachließ, wrang sie sich das Wasser aus dem Haar und schob sich die tropfende Masse über die Schulter.

Mit der Stimme einer sanft säuselnden Meerjungfrau lachte Durga. »Ah, Kelsey, meine Tochter. Deine Opfergaben wurden angenommen.«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Gegenstände überall im Raum flimmerten, wo auch immer das Wasser sie hingespült hatte.

Durga schnalzte mit der Zunge. »Oh, in welch misslicher Lage ihr seid.« Sie klatschte in ein Paar Hände, und als sie sie wieder löste, erschien ein Regenbogen. Sie stupste ihn an, und er wand sich wie eine Schlange in unsere Richtung und kreiste uns ein. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir sauber und trocken. Der Regenbogen rotierte auch um Durga selbst, bevor er sich auflöste und sie trocken, mit korallenroten Lippen und rosigen Wangen zurückließ.

Die Göttin winkte mich mit einem gekrümmten Finger zu sich. Fanindra erwachte zum Leben, glitt von meinem Arm auf Durgas Schoß und wand sich dann um ihr Handgelenk.

Durga tätschelte der Schlange beim Reden den Kopf. »Ich vermisse dich ebenfalls.« Sie hob Nilimas Stück Seide hoch und drückte es sich an die Wange.

Mit einem Wink auf die Seide sagte sie: »Das hier werden wir später besprechen. Aber zuerst sollte ich jemanden kennenlernen.«

»Ja. Das ist Mr. Kadam«, sagte ich und zeigte auf ihn.

Mr. Kadam kam näher und kniete sich auf den Boden.

»Erhebe dich bitte.«

Er stand auf, presste die Hände aufeinander und verneigte sich.

»Ich bin froh, dass du den Weg zu mir gefunden hast. Du hast viel geopfert und wirst bald vor die Wahl gestellt, ob du noch mehr zu opfern gedenkst. Bist du dazu bereit?«

»Mir ist kein Opfer zu groß.«

Die Göttin lächelte ihm zu. »Gut gesprochen. Gäbe es nur mehr Männer, mehr Väter wie dich. Das ist der größte Segen und die wahre Erfüllung, die ein Vater erleben darf: Jahre, in denen man seine Kinder erziehen und pflegen darf, um dann die Früchte seiner Mühen zu sehen – starke, edle Söhne, die des Vaters Wissen in Ehren halten und es an ihre eigenen Kinder weitergeben. Das ist alles, was sich ein guter Vater wünscht. Man wird sich mit viel Respekt und Liebe an deinen Namen erinnern.«

Eine Träne tropfte an Mr. Kadams Wange herab, und ich drückte ihm die Hand. Durga wandte ihre Aufmerksamkeit Kishan zu.

»Mein ebenholzschwarzer Freund, tritt näher.«

Mit einem breiten Grinsen trat Kishan auf die Göttin zu. Sie streckte ihm lächelnd eine Hand für einen Kuss entgegen. Für eine Sekunde glaubte ich, es wäre mehr als nur ein Göttinnen-Untertanen-Lächeln. »Das ist für dich«, sagte Durga. Sie nahm eine dünne Halskette und legte sie Kishan um. Eine Nautilusmuschel hing daran.

»Was ist das?«, wollte er wissen.

»Das ist ein Kamandal. Einmal eingetaucht in den Ozean der Milch, wird er nie leer werden.«

Kishan verbeugte sich. »Vielen Dank, meine Herrin.«

»Weißer Tiger, komm zu mir.«

Als Ren sich ihr näherte, schob ich mich auf die andere Seite von Kishan.

»Auch für dich habe ich etwas.« Ein weiterer Arm materialisierte sich hinter ihrem Rücken und reichte Ren eine goldene Waffe, die aussah wie eines der Sai, die zu Hause in Mr. Kadams Schwertkollektion hingen. Ich vernahm ein Klicken, als sie das Messer drehte und sich die gefährlichen Klingen trennten. Nachdem sie wieder vereint waren, drehte Durga am Schaft, woraufhin er sich in die Länge zog und die Waffe zu einem Dreizack wurde. Sie zielte in eine andere Richtung und drückte auf den Knauf. Ein langer, dünner Speer schoss aus dem Mittelzinken und bohrte sich in die Steinwand. Ein Ersatzspeer tauchte wie aus dem Nichts auf. Sie drehte wieder am Griff, und er schrumpfte zu seiner Ursprungsform zurück. Verblüfft nahm Ren die goldene Waffe aus ihrer Hand entgegen.

»Sie wird Trishula oder Dreizack genannt.«

»Vielen Dank, Göttin.« Ren wich zurück, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Einen Moment lang beäugte sie ihn nachdenklich, dann wandte sie sich mit einem Lächeln mir zu. »Jetzt würde ich gerne allein mit meiner Tochter sprechen.«

Die Männer nickten. »Wir werden im Wagen auf Sie warten, Miss Kelsey. Wir haben viel Zeit, bevor wir zurück zum Boot müssen.«

Ren war der Letzte, der verschwand. Kurz blickte er zur Göttin und zu mir, bevor er mit den anderen aus dem Saal ging. Als ich mich zu Durga umdrehte, streichelte sie Fanindra und gurrte der Schlange ins Ohr. Ich ließ sie eine Weile plaudern und fragte mich verwundert, was ich über die Opfergabe aus Seide sagen sollte.

Schließlich wandte sie mir wieder ihre Aufmerksamkeit zu, streckte einen Finger aus und hob sanft mein Kinn an. »Warum bist du immer noch so traurig, meine Liebe? Habe ich denn mein Versprechen nicht erfüllt und eine schützende Hand über deinen Tiger gehalten?«

»Doch. Er ist in Sicherheit, aber er erinnert sich nicht an mich. Er hat mich verdrängt und meint, wir wären nicht füreinander bestimmt.«

»Was zusammen sein soll, soll zusammen sein. Alles in diesem Universum ist vorbestimmt, und dennoch streben die Sterblichen danach, selbst ihre Bestimmung zu finden und sie treffen Entscheidungen, die sie auf einen Weg ihrer Wahl führen. Ja. Dein weißer Tiger hat die Entscheidung getroffen, dich aus seinem Gedächtnis zu streichen.«

»Aber warum?«

»Weil er dich liebt.«

»Das macht keinen Sinn.«

»Das scheint häufig so, wenn man mit der Nase davorsteht. Geh einen Schritt zurück und versuche, das Gesamtbild zu sehen.« Sie rieb den Seidenstoff zwischen den Fingern. »Große Opfer wurden dir abverlangt. Viele junge Frauen kommen zu diesem Schrein, um meinen Segen zu erbitten. Sie wünschen sich einen tugendhaften Gatten und streben nach einem guten Leben. Was ist mir dir, Kelsey? Wünschst du dir einen ehrlichen, großherzigen jungen Mann als Begleiter fürs Leben?«

»Ich … habe nie wirklich über eine Heirat nachgedacht, um ehrlich zu sein. Aber ja, mein Begleiter fürs Leben sollte ehrlich und großherzig und mit mir befreundet sein. Ich will ihn ohne jegliche Reue lieben.«

Sie lächelte mich an. »Reue zu empfinden, bedeutet, enttäuscht von sich selbst und seinen Entscheidungen zu sein. All jene, die weise sind, sehen ihr Leben so, als würden sie auf Steinen über einen breiten Fluss springen. Jeder macht von Zeit zu Zeit einen Fehltritt. Niemand kann den Fluss überqueren, ohne nass zu werden. Erfolg wird an der Ankunft am anderen Ende gemessen, nicht daran, wie schlammbeschmiert die Schuhe sind. Reue wird von jenen empfunden, die den Sinn des Lebens missverstehen. Sie sind so enttäuscht, dass sie einfach im Fluss stehen bleiben und den nächsten Schritt nicht wagen.«

Ich nickte.

Durga beugte sich vor und strich mir übers Haar. »Hab keine Angst. Er wird dein Freund sein, dein Begleiter in jeder Hinsicht. Und du wirst ihn inbrünstiger lieben als jemals zuvor. Du wirst ihn so sehr lieben, wie er dich liebt. Du wirst glücklich werden.«

»Aber von welchem Bruder redest du?«

Sie lächelte und überging meine Frage. »Ich will mich auch um deine Schwester Nilima kümmern. Eine Frau, die eine solche Hingabe an den Tag legt, braucht Liebe. Nimm dies.« Sie reichte mir ihren Kranz aus Lotosblüten. »Er hat keine besondere Macht, außer dass die Blüten nie welken, aber er wird seinen Zweck auf eurer Reise erfüllen. Ich möchte, dass du die Lehre der Lotosblüte verstehst. Diese Blume wächst in schlammigem Wasser. Sie streckt ihre zarten Blütenblätter der Sonne entgegen, und ihr Duft erfüllt die Luft, während sich gleichzeitig ihre Wurzeln am urwüchsigen Dreck festkrallen. Sie ist der Inbegriff des menschlichen Daseins. Ohne die Erde würde die Blume verdorren und sterben.«

Sie legte mir den Kranz um den Hals. »Grabe tief und lass starke Wurzeln wachsen, meine Tochter, denn du wirst dich nach oben strecken, aus dem Wasser sprießen und am Ende Frieden auf der ruhigen Oberfläche finden.«

Ich nickte und wischte mir eine Träne aus dem Auge. Durgas Arme begannen sich zu bewegen und dann zu versteifen, und einer nach dem anderen nahm wieder einen Goldton an. »Es ist an der Zeit für dich zu gehen, meine kostbare Tochter. Nimm Fanindra.«

Die Schlange züngelte ein paarmal, wand sich dann von Durgas Handgelenk und schlang sich um meinen Arm. Flüssiges Gold stieg an den Seiten des Throns empor, bedeckte die Korallen und Muscheln.

»Wenn du zur Stadt der Sieben Pagoden kommst, such den Ufertempel auf. Eine Frau erwartet dich dort. Sie wird dir auf deiner Reise den Weg weisen.«

»Vielen Dank. Für alles.«

Durgas korallenrote Lippen lächelten wieder und versteinerten. Flüssiges Gold glitt über ihren Körper und ihr Gesicht, und im nächsten Moment war sie eine Statue. Das Stück Seide hielt sie immer noch in der Faust, als hätte es ihr jemand in die Hand gedrückt.

»Auf Wiedersehen.« Ich drehte mich von der Statue weg und tätschelte Fanindra den Kopf. Die Lichter gingen flackernd an, und der Saal sah aus, als wäre nie etwas geschehen. Ich atmete den süßen Duft der Lotosblumen ein, während ich zurück zum Jeep ging. Die Blüten rochen nach Zitrone oder vielleicht Grapefruit. Der Geruch war zart und blumig und feminin. Ich dachte so angestrengt über die Worte nach, die Durga mir mit auf den Weg gegeben hatte, dass ich erschrocken auffuhr, als mich eine warme Hand berührte.

»Geht’s dir gut?«

»Ja. Du hättest nicht auf mich warten müssen, Kishan.«

Er küsste mich auf die Stirn. »Natürlich, aber ich wollte es. Komm. Die anderen sind im Auto. Lass uns zurück zum Schiff fahren.«

Als wir auf der Jacht waren, gab Ren seinem Bruder den Dreizack, bevor er im nächsten Moment wieder verschwunden war.