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Ein zweites
Kennenlernen

Ein paar Tage später berief Mr. Kadam eine Versammlung im Esszimmer ein. Während wir uns setzten, hoffte ich im Stillen, dass keine schlechten Neuigkeiten der Anlass waren und Lokesh uns nicht gefunden hatte.

»Ich würde euch gerne eine Idee unterbreiten«, begann Mr. Kadam. »Ich habe eine Möglichkeit ausgemacht, wie wir einander finden können, falls einer von uns noch einmal verschleppt werden sollte. Die Sache ist mit gewissen Unannehmlichkeiten verbunden, aber ich denke, dies ist ein kleiner Preis für die Sicherheit, dass keiner von uns verloren geht.«

Er öffnete eine Schachtel und holte ein in Blisterfolie eingeschlagenes Päckchen heraus. Im Innern befand sich ein schwarzes Samttäschchen mit fünf dicken Spritzen von der Größe riesiger Stachelschweinborsten.

Nervös fragte ich: »Äh, Mr. Kadam? Was genau verstehen Sie unter gewissen Unannehmlichkeiten?«

Er zog die erste Spritze auf und nahm eine Flasche mit Kochsalzlösung und Desinfektionstücher zur Hand. »Haben Sie schon einmal von RFID-Tags gehört?«

»Nein«, erwiderte ich besorgt, während ich beobachtete, wie er sanft Kishans linke Hand nahm, die Stelle zwischen seinem Daumen und Zeigefinger mit einem Desinfektionstuch reinigte und sie dann mit einer gelben Creme bestrich.

»Es ist das Akronym für ›Radio Frequency Identification Tags‹, eine Identifizierung mithilfe elektromagnetischer Wellen. Das Verfahren wird häufig zur Ortung von Tieren eingesetzt.«

»Ein Gerät, um Wale und Haie aufzuspüren? So etwas in der Art?«

Ren beugte sich vor und hob einen Chip von der Größe eines Reiskorns auf. »Sieht aus wie das, was Lokesh mir eingepflanzt hat.«

Er legte den Chip zurück und rieb die Hände langsam aneinander, während er wie erstarrt in die Ferne blickte.

»Hat es wehgetan? Konntest du es in deiner Haut spüren?«, fragte ich zögerlich, versuchte, ihn von dem dunklen Ort zurückzuholen, an dem er nun war.

Ren stieß den Atem aus und schenkte mir ein verhaltenes Lächeln. »Der Schmerz war nicht der Rede wert, aber ja, ich konnte ihn unter der Haut spüren.«

»Dieser Chip hier ähnelt mehr den RFID-Tags, die bei Tieren Einsatz finden. Er sendet eine Frequenz aus, für gewöhnlich eine zehnstellige Nummer, die durch die Haut hindurch gescannt werden kann.

Der Chip ist in biokompatibles Glas eingelassen, damit er nicht mit Flüssigkeit in Berührung kommt. RFID-Tags für Menschen sind noch nicht gang und gäbe, werden jedoch immer öfter für medizinische Zwecke eingesetzt. Auf ihnen werden die Krankengeschichten, die Allergien und alle Medikamente gespeichert, die ein Patient gerade einnimmt.«

Er zog etwas Kochsalzlösung in die Spritze und tauschte die kleinere Nadel mit der riesigen aus. Dann legte er einen winzigen Chip in die Kanüle. Er drückte die Haut zwischen Kishans Daumen und Zeigefinger zusammen und führte behutsam die Nadel ein. Ich senkte den Blick.

Unbeirrt fuhr Mr. Kadam fort: »Nun, für die großen Meerestiere, von denen Sie sprachen, benutzen die Forscher Satellitenchips, die alles, von der gegenwärtigen Position bis hin zur Dauer des Tauchgangs oder der Schwimmgeschwindigkeit, übertragen. Diese Art Chip wird äußerlich angebracht und besitzt eine eingebaute Batterie. Ein Großteil dieser Chips hält nur sehr kurze Zeit.«

Er drückte einen Wattebausch auf Kishans Hand, zog die Nadel heraus und klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle. »Ren?«

Kishan und Ren tauschten die Plätze, und Mr. Kadam wiederholte den Vorgang bei Ren.

»Es gibt einige Chips, die den Meerestieren unter die Haut implantiert werden und die den Herzschlag, die Wasser- und Körpertemperatur sowie die Tauchtiefe des Tieres messen. Viele von ihnen übertragen die Informationen an Satelliten, sobald das Tier auftaucht.«

Als er die Haut mit den Fingerspitzen zusammendrückte und sich hinabbeugte, verzog ich das Gesicht. Ren sah auf und blickte mir tief in die Augen. Dann lächelte er und sagte: »Harmlos wie ein Pfirsichkuchen.«

Pfirsichkuchen. Mit einem Schlag wurde ich aschfahl.

Rasch versuchte er, mich zu beruhigen. »Nein, wirklich, es ist überhaupt nicht schlimm.«

Ich lächelte matt. »Ich glaube nicht, dass deine und meine Schmerztoleranz vergleichbar sind, aber ich werde es schon überleben. Was haben Sie gerade gesagt, Mr. Kadam?«

»Das Problem mit den RFID-Chips und den Satelliten-Tags ist die Batterie. Was wir hier haben, ist nicht auf dem freien Markt erhältlich und wird es wohl auch nie sein, wegen der Angst der Menschen, dass ihre Identität gestohlen oder sie von der Regierung überwacht werden könnten.

Fast jeder technologische Fortschritt kann zum Wohle und zum Schaden der Menschheit eingesetzt werden. Ich verstehe die Sorge, die ein solches Gerät auslösen kann, aber es gibt viele triftige Gründe, warum eine Technologie wie diese erforscht werden muss. Zum Glück habe ich gute Kontakte zum Militär, das häufig Wege einschlägt, die zu betreten andere fürchten.«

Er hatte Ren nun verarztet und sah aufmunternd zu mir her. Zögerlich schob ich meinen Stuhl zurück und nahm Rens Platz ein. Als ich mich hinsetzte, tätschelte mir Mr. Kadam kurz die Hand. Meine Augen starrten unverwandt auf die Nadel. Er wählte die Hand, die nicht mit Phets Hennazeichnung bedeckt war, und wiederholte den Desinfektions-Prozess.

»Ich behandle die Haut mit einer Tinktur vor, die die Stelle ein wenig betäubt, aber die Injektion wird dennoch etwas schmerzen.«

»Okay.«

Er schob den Chip in die Spitze der langen Nadel. Als Mr. Kadam meine Haut berührte, schloss ich die Augen und sog scharf die Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein.

Kishans warme Hand legte sich auf meine, und er sagte mit zärtlicher Stimme: »Drück so fest zu, wie du willst, Kells.«

Ganz langsam führte Mr. Kadam die Nadel ein. Es tat weh. Es kam mir vor, als würde er mir eine der riesigen Stricknadeln meiner Grandma in die Hand bohren. Ich drückte Kishans Hand und atmete schneller. Sekunden verstrichen, die sich wie Minuten anfühlten. Ich hörte Mr. Kadam sagen, dass er noch ein bisschen tiefer stechen müsse.

Ich konnte einen leisen, wimmernden Schmerzensschrei nicht unterdrücken und wand mich auf meinem Stuhl, als Mr. Kadam die Nadel drehte und noch tiefer in meine Hand drang. Meine Ohren begannen zu klingeln, und ich hörte die Stimmen der anderen wie durch Watte. Ich war der Ohnmacht nahe. Eigentlich hatte ich mich nie für einen Waschlappen gehalten, aber bei Nadeln, erkannte ich, wurde mir übel. Alles drehte sich. Da öffnete ich gewaltsam die Augen und spähte zu Ren.

Er sah mich besorgt an. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte er mein Lieblingslächeln, ein wundervolles, spitzbübisches Grinsen, das allein mir galt, und für einen kurzen Moment war der Schmerz wie weggeblasen. Für diesen flüchtigen Augenblick gestattete ich mir zu glauben, dass er immer noch mein war, dass er mich liebte. Alle anderen im Zimmer lösten sich in Luft auf, und es gab nur noch uns beide.

Ich wünschte, ich hätte seine Wange berühren, ihm das seidig schwarze Haar hinters Ohr streichen oder den Schwung seiner Augenbrauen nachfahren können. Stattdessen starrte ich in sein wunderschönes Gesicht und ließ mich von meinen Gefühlen überwältigen, und in diesem Bruchteil einer Sekunde spürte ich unser emotionales Band.

Es war nichts weiter als eine sanfte Brise, die rasch vorbeiwehte und eine Erinnerung in sich trug, die nur schwer zu fassen war. Ich war nicht sicher, ob es eine Täuschung gewesen war, ein Aufflackern von etwas Realem oder etwas, das ich mir nur einbildete, aber es fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Jede Faser meines Körpers war derart auf Ren fokussiert, dass ich erst bemerkte, dass ich Kishans Hand losgelassen hatte, als Mr. Kadam die Nadel herauszog und einen Wattebausch auf die Wunde drückte.

Stimmen schossen in mein Bewusstsein. Ich nickte als Antwort auf Kishans Frage und blickte von meiner Hand zurück zu Ren, aber er hatte das Zimmer verlassen. Mr. Kadam bat Kishan, ihm bei seinem eigenen Chip behilflich zu sein, und begann uns den Unterschied zwischen unserer Technologie und den anderen zu erklären, die er uns eben beschrieben hatte.

Ich lauschte lediglich mit einem Ohr, verstand jedoch, dass wir die Tags der anderen mithilfe neuartiger Handys erreichen könnten, die er anschließend verteilte. Er erklärte ebenfalls lang und breit, wie die Stromquelle funktionierte. Ich nickte mechanisch und wurde schließlich aus meiner Trance gerissen, als Kishan ein paar Minuten später aufstand. Mr. Kadam reichte mir eine Packung Aspirin und ein Glas Wasser. Ich schluckte zwei Tabletten und ging auf mein Zimmer.

Aufgewühlt und ruhelos lag ich auf meiner Decke und versuchte vergeblich, in den Schlaf zu finden. Meine Hand schmerzte, und es war völlig ausgeschlossen, sie zum Einschlafen unter meine Wange zu legen.

Ein sanftes Klopfen erscholl an der Tür. »Herein.«

»Ich habe gehört, wie du dich herumwälzt, und vermutet, dass du noch wach bist«, sagte Ren und schloss die Tür leise hinter sich. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

Ich setzte mich auf und knipste die Nachttischlampe an. »Nein. Ist schon in Ordnung. Was ist los? Sollen wir auf die Veranda gehen?«

»Nein. Kishan scheint dort draußen seinen festen Wohnsitz aufgeschlagen zu haben.«

»Oh.« Ich blickte aus dem Fenster und sah einen schwarzen Schwanz, der über den Rand der Hollywoodschaukel hing und gemächlich hin und her schnalzte.

»Ich werde ihn mir zur Brust nehmen. Ich brauche keinen Babysitter. Hier bin ich völlig sicher.«

Ren zuckte mit den Schultern. »Er passt gerne auf dich auf.«

»Und was wolltest du mit mir besprechen?«

Er setzte sich an den Bettrand. »Das … weiß ich nicht so genau. Wie geht’s deiner Hand?«

»Sie pocht. Und deine?«

»Meine ist schon wieder verheilt.« Er hielt die Hand hoch. Ich nahm sie und betrachtete sie eingehend. Mir wäre niemals aufgefallen, dass irgendetwas unter seiner Haut platziert war. Ganz kurz umschlossen seine Finger meine. Ich errötete, und er strich mit den Knöcheln über meine warme Wange, was meine Haut noch heißer brennen ließ.

»Du wirst rot.«

»Ich weiß. Tut mir leid.«

»Das muss dir doch nicht leid tun. Es … steht dir.«

Ich saß reglos da und beobachtete seine Mimik, während er sich auf mein Gesicht konzentrierte. Er hob die Hand und berührte mein Haar. Dann glitt er mit den Fingern an einer der Strähnen entlang. Ich sog scharf die Luft ein, ebenso wie er – jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Eine Schweißperle rann von seiner Stirn an seiner Schläfe hinab, als er die Hand wegzog.

»Ist bei dir alles in Ordnung?«

Er schloss die Augen und atmete tief ein. »Es wird schlimmer, wenn ich dich berühre.«

»Dann berühr mich nicht.«

»Ich muss die Sache hinter mich bringen. Gib mir deine Hand.«

Ich legte die rechte Hand in seine, und er bedeckte sie mit seiner linken, ein leichtes Beben erfasste seinen Arm, als er meine Hand sanft mit seiner umschloss. Schließlich ließ er mich los.

»Ist es Zeit, dass du dich in den Tiger zurückverwandelst?«

»Nein, ich kann jetzt zwölf Stunden in Menschengestalt bleiben.«

»Was ist es dann? Warum zitterst du?«

»Keine Ahnung. Wenn ich dich berühre, fühlt es sich an, als würde etwas mich von innen her verbrennen. Mein Magen verkrampft sich, meine Sicht verschwimmt, und mein Kopf beginnt zu pochen.«

»Dann setz dich dort drüben hin.« Ich zeigte auf die Couch.

Starrköpfig setzte er sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bett und winkelte das Knie an, um einen Ellbogen darauf zu stützen.

»Ist das besser?«, fragte ich.

»Ja. Das Brennen lässt nach, aber die verschwommene Sicht, die Kopfschmerzen und die Übelkeit sind noch da.«

»Ist dir auch unwohl, wenn du dich in einem anderen Teil des Hauses aufhältst?«

»Nein, nur deine Berührung verursacht diese Höllenqualen. Dich zu sehen oder zu hören, lässt die anderen Symptome in verschiedenen Abstufungen auftreten. Wenn du weit genug von mir entfernt sitzt, ist es kaum mehr als ein unangenehmes Zwicken. Allerdings muss ich den Drang niederkämpfen, vor dir wegzulaufen. Deine Hand zu halten oder dein Gesicht zu berühren, fühlt sich an, als würde ich mit heißen Kohlen hantieren.«

»Nachdem wir dich befreit haben und wir zum ersten Mal richtig geredet haben, hast du meinen Fuß in deinen Schoß gelegt. Hat das nicht wehgetan?«

»Dein Fuß lag auf einem Kissen. Ich habe ihn nur wenige Sekunden berührt, und ich hatte damals von der Folter solche Schmerzen, dass ich es kaum bemerkt habe.«

»Lass es uns ausprobieren. Stell dich an die Badezimmertür, und ich gehe zur anderen Seite des Zimmers.«

Er bewegte sich.

»Und jetzt, wie fühlst du dich?«

»Am liebsten würde ich ganz schnell von hier verschwinden. Das Unwohlsein hat nachgelassen, aber je länger ich in deiner Nähe bin, desto schlimmer wird es.«

»Ist der Drang wegzulaufen so heftig, als müsstest du dein Leben retten?«

»Nein. Es ist eine Verzweiflung, die sich allmählich aufbaut … Als würde man die Luft unter Wasser anhalten. Am Anfang ist es in Ordnung, vielleicht sogar angenehm, aber schon bald schreien meine Lungen nach Luft, und ich kann nichts dagegen tun, als mir mit Händen und Füßen einen Weg zur Oberfläche zu bahnen.«

»Hm, vielleicht hast du eine posttraumatische Belastungsstörung. Das ist ein krankhafter Zustand nach einem schrecklichen Trauma oder wenn man hohem Stress ausgesetzt war. Das passiert häufig Soldaten in Kriegsgebieten. Denk doch nur dran, wie du Kishan erzählt hast, dass du allein bei der Nennung meines Namens unwillkürlich Lokesh gesehen hast, der dich gefoltert, dich ausgefragt hat?«

»Das stimmt. Ein bisschen geht es mir wohl noch so. Aber nun, da ich dich besser kenne, assoziiere ich dich nicht mehr so stark mit ihm.«

»Ein Teil deiner Symptome ist vielleicht trotzdem darauf zurückzuführen. Vielleicht brauchst du eine Therapie.«

Ren kicherte. »Kelsey, erstens würde mich ein Therapeut sofort in eine Nervenheilanstalt einweisen, wenn ich behaupte, ein Tiger zu sein. Zweitens sind mir weder blutige Gefechte noch Schmerz fremd. Es war nicht das erste Mal, dass Lokesh mich gefoltert hat. Natürlich ist es keine Erfahrung, die ich gerne noch einmal durchleben möchte, aber ich weiß, dass dich keine Schuld trifft.«

»Du bist nicht weniger ein Mann, wenn du ab und an um Hilfe bittest.«

»Ich lege keinen falschen Stolz an den Tag, wenn es das ist, worauf du hinauswillst. Und falls es dich beruhigt, ich habe längst angefangen, mit Kishan über die Sache zu reden.«

Ich blinzelte. »Hat es dir geholfen?«

»Kishan ist … überraschend mitfühlend. Er ist ein neuer Mensch. Er meint, er habe sich deinetwegen verändert. Du hast ihn beeinflusst. Hast eine Seite an ihm zum Vorschein gebracht, die ich seit dem Tod unserer Mutter nicht mehr an ihm gesehen habe.«

Ich nickte. »Er ist ein guter Mensch.«

»Wir haben über vieles gesprochen. Nicht nur über Lokesh, sondern auch über unsere Vergangenheit. Er hat mir von Yesubai erzählt und dass ihr zwei euch nähergekommen seid.«

»Oh.« Erschrocken fragte ich mich, ob Kishan seinem Bruder noch weitere Dinge anvertraut hatte, zum Beispiel seine Gefühle für mich. »Ich will nicht, dass du Schmerzen hast oder leidest, wenn du in meiner Nähe bist. Vielleicht wäre es besser, wenn du dich von mir fernhältst.«

»Ich will mich nicht von dir fernhalten. Ich mag dich.«

»Wirklich?« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ja. Das ist wohl der Grund, warum ich früher mit dir ausgegangen bin«, bemerkte er trocken. Er glitt zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Badezimmertür. »Mal sehen, wie lange ich es aushalte. Komm näher.«

Gehorsam machte ich ein paar Schritte auf ihn zu. Er winkte mich näher. »Setz dich aufs Bett.«

Ich kam seiner Aufforderung nach und suchte in seinem Gesicht nach Schmerz. »Bei dir alles okay?«

»Ja.« Er streckte die langen Beine aus und schlug sie an den Knöcheln übereinander. »Erzähl mir von unserem ersten Date.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Jetzt ist es erträglich.«

Ich rutschte zu der Seite des Bettes, die am weitesten von ihm entfernt war, kuschelte mich unter die Decke und zog mir das Kissen auf den Schoß. »Na gut, unser erstes Date war wohl das, zu dem du mich mit einem Trick genötigt hast.«

»Wann war das?«

»Ganz kurz nach Kishkindha. In dem Hotelrestaurant.«

»Dem Hotelrestaurant? War das, als ich gerade die sechs Stunden zurückerlangt hatte?«

»Ja. Woran erinnerst du dich?«

»Ich habe zum ersten Mal seit Jahrhunderten in einem netten Restaurant zu Abend gegessen. Ich war … glücklich.«

»Ha! Das kann ich mir gut vorstellen. Du warst schrecklich selbstgefällig und hast schamlos mit der Kellnerin geflirtet.«

»Wirklich?« Er rieb sich das Kinn. »Ich kann mich nicht mal mehr an eine Kellnerin erinnern.«

Ich schnaubte. »Wie kann es sein, dass du immer die richtigen Dinge sagst, obwohl du dich an nichts erinnerst?«

Er grinste. »Muss eine angeborene Gabe sein. Und was die Kellnerin anbelangt … War sie hübsch? Erzähl mir mehr von ihr.«

Ich schilderte ihm unser Date und wie wir uns während des Essens einen Schlagabtausch nach dem anderen geliefert hatten. Ich erzählte ihm, dass er ein Festessen bestellt und Mr. Kadam mit einer List dazu gebracht hatte, mich ins Restaurant zu locken. Dann beschrieb ich ihm, wie umwerfend er ausgesehen hatte, wie zwischen uns die Fetzen geflogen waren und wie ich ihm auf den Fuß getreten hatte, als er der Bedienung zugezwinkert hatte.

»Was ist nach dem Abendessen geschehen?«

»Du hast mich zurück auf mein Zimmer begleitet.«

»Und?«

»Und … nichts.«

»Habe ich dir nicht einmal einen Gute-Nacht-Kuss gegeben?«

»Nein.«

Er hob eine Augenbraue. »Das hört sich gar nicht nach mir an.«

Ich lachte. »Es war nicht so, dass du nicht gewollt hättest. Du hast mich bestraft.«

»Dich bestraft?«

»Sozusagen. Du wolltest, dass ich mir meine Gefühle für dich eingestehe.«

»Und das hast du nicht?«

»Nein. Ich bin ein ziemlicher Dickkopf.«

»Ich verstehe. Und die Kellnerin hat also mit mir geflirtet?«

»Wenn du dir nicht sofort das Grinsen verkneifst, boxe ich dir gegen den Arm, dass es dir den Magen umdreht.«

Er lachte. »Das würdest du nicht tun.«

»Doch.«

»Ich bin viel zu schnell, als dass du mich erreichen könntest.«

»Wollen wir wetten?«

Ich kletterte übers Bett, während er mir mit einem amüsierten Gesichtsausdruck zusah. Dann beugte ich mich herab, ballte die gesunde Hand zur Faust und holte aus, doch er drehte sich rasch zur Seite, sprang auf und stand nun neben dem Fußende. Ich stand vom Bett auf, näherte mich ihm und versuchte, Ren in die Enge zu treiben. Er lachte leise und winkte mich zu sich. Behutsam pirschte ich mich näher.

Mit einem selbstsicheren Grinsen rührte er sich nicht von der Stelle und ließ mich gewähren. Als ich nur noch fünf Schritte entfernt war, verschwand sein Lächeln. Bei drei Schritten verzog er schmerzgepeinigt das Gesicht. Bei einem Schritt stöhnte er und taumelte. Er machte einen gewaltigen Satz von mir weg und umklammerte ungelenk die Rückenlehne der Couch, während er mehrmals tief Luft holte.

»Ich denke, mehr ertrage ich heute Nacht nicht. Tut mir leid, Kelsey.«

Ich wich mehrere Schritte zurück und sagte sanft: »Tut mir auch leid.«

Er öffnete die Tür und bedachte mich mit einem leisen Lächeln. »Heute war es wahrscheinlich schlimmer, weil ich deine Hand so lange berührt habe. Der Schmerz hat sich zu schnell aufgebaut. Normalerweise nimmt es mich nicht so stark mit, wenn ich neben dir stehe.«

Ich nickte.

Er grinste. »Beim nächsten Mal darf ich nicht vergessen, dich erst am Ende des Abends zu berühren. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Ein paar Tage später begann unser Tigerabenteuer von vorne. Wir brachen auf, um dem Schamanen Phet einen Besuch abzustatten, der endlich auf Mr. Kadams Boten geantwortet hatte mit der Nachricht, dass er »Tiger, Kahl-see und Durgas Gaben« sehen wollte, wobei er allerdings darauf beharrte, dass nur wir drei die Reise antraten.

Obwohl ich den Gedanken nicht laut aussprechen wollte, hoffte ich, dass Phet mit seinen sonderbaren mystischen Fähigkeiten und Kräuterelixieren in der Lage wäre, Rens Gedächtnisverlust zu beheben.

Auch wenn Ren und ich nun ein viel entspannteres Verhältnis hatten und sich beide Brüder besser zu vertragen schienen als bei unserer letzten gemeinsamen Autofahrt, fühlte ich mich dennoch ein wenig unbehaglich, mit zwei hitzköpfigen Tigern auf so engem Raum zusammengepfercht zu sein. Wenn sie Ärger machen, werde ich sie einfach mit einem kleinen Blitzschlag kitzeln. Das wird ihnen eine Lehre sein, sich in meiner Gegenwart nicht zu streiten, beschloss ich mit einem Grinsen und trat in die Morgensonne.

Die Männer standen neben dem frisch gewaschenen und vollgetankten Jeep, als ich aus der Haustür spazierte. Mr. Kadam legte den Rucksack mit den Waffen auf die Rückbank und umarmte mich. Ich warf die Tasche mit meiner Steppdecke, die sich bislang als Glücksbringer erwiesen hatte, neben die Waffen.

Wir trugen alle Wanderschuhe und weiche Oberteile und Cargohosen ohne Nähte, die Ren vom Göttlichen Tuch hatte fertigen lassen. Er hatte verschiedene Modelle im Internet nachgeschlagen und das Tuch in mehreren Farben nachschneidern lassen. Er behauptete, mein apfelgrünes Hemd würde mich vor der schädlichen UV-Strahlung schützen, könne Feuchtigkeit nach außen transportieren und sei zugleich atmungsaktiv. Das Hemd war wirklich bequem, und um ihm zu zeigen, wie sehr es mir gefiel, flocht ich mir das Haar zu zwei langen französischen Zöpfen und wählte dazu passende Haargummis.

Kishan trug ein ziegelrotes Hemd aus demselben Material, aber es hatte eine Brusttasche, während Ren ein nahtloses himmelblaues Hemd trug, das sich vortrefflich an seinen muskulösen Körper schmiegte. Er war immer noch dünn, doch die vergangenen Wochen, in denen er sein tägliches Trainingsprogramm mit Kishan absolviert hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Seine Muskeln hatten sich in Windeseile wieder aufgebaut.

»Kannst du in dem Hemd überhaupt atmen, Ren?«, neckte ich ihn unbeschwert. »Du hättest vielleicht lieber eine Nummer größer gewählt.«

»Das Hemd ist so eng, damit es mich in meiner Bewegungsfreiheit nicht einschränkt«, erwiderte er.

»Es ist nicht so, als würden dort draußen im Dschungel lauter hübsche Kellnerinnen auf dich warten, Ren. Es gibt keinen Grund, derart mit deinen Muskeln zu protzen.«

Immer noch lachend schwang sich Kishan auf den Fahrersitz.

Als ich die Hand am Türgriff hatte, beugte sich Ren zu mir und murmelte mir ins Ohr: »Für den Fall, dass es deinem wachsamen Auge entgangen sein sollte, dein Hemd ist auch nicht gerade weit geschnitten, Kelsey.«

Meine Kinnlade klappte herunter.

»Und da ist sie schon wieder.«

Ich boxte ihn gegen den Arm und zischte: »Was ist da?«

Er verzog das Gesicht und rieb sich den Oberarm, grinste jedoch unablässig. »Deine süße Schamesröte.«

Ich setzte mich auf die Rückbank, schnallte mich an und während ich Mr. Kadam zum Abschied winkte, beschloss ich, die pubertären Albernheiten der Brüder einfach zu ignorieren.

Während der Fahrt redeten die beiden in einem fort, und ich war von ihrer Unterhaltung fasziniert. Ich hatte sie noch nie so … gesittet miteinander erlebt. Ren erzählte Kishan von unserem ersten Besuch bei Phet und bat mich höflich, sein Gedächtnis aufzufrischen, sollte ihm etwas Wichtiges entgangen sein. Er erinnerte sich an vieles, schien lediglich den Teil nicht mehr zu wissen, der mit mir zu tun hatte.

Ich erklärte ihm alles über das Henna-Tattoo, das Phet auf meine Hand gezeichnet hatte, und wie wir herausfanden, dass es der Schlüssel zu den mythischen Stätten war. Ren erinnerte sich nicht daran und hatte nicht den leisesten Schimmer, wie er zu diesen Orten gelangt war. Sein Gedächtnis war wie ein Sieb.

Als wir den Yawal-Nationalpark erreichten, war Ren versessen darauf, so schnell wie möglich aus dem Auto zu springen und meiner Nähe zu entkommen. Er ging zu Fuß weiter, marschierte zielstrebig auf den Dschungel zu.

Kishan sah ihm nach und lehnte sich nach hinten, um sich den Rucksack mit den Waffen zu schnappen. Er warf ihn sich über die Schulter und verriegelte den Jeep.

»Sollen wir?«

»Na klar.« Ich seufzte. »Er hat schon einen ganz schönen Vorsprung, nicht wahr?«

»Ja. Ist aber kein Problem. Ich kann seiner Fährte jederzeit folgen.«

Mehrere Minuten gingen wir schweigend nebeneinanderher. Teakbäume streckten sich gen Himmel und schützten uns mit ihren dichten Kronen vor der brennenden Sonne.

»Wir wandern zum Suki-See, dort essen wir zu Mittag und legen während der heißesten Stunden des Tages eine Pause ein.«

»Hört sich gut an.«

Ich lauschte meinen knirschenden Schritten, während ich durch das Farngestrüpp im Dschungel marschierte. Kishan war ein stiller, zuverlässiger Begleiter.

»Ich vermisse das«, sagte er.

»Was vermisst du?«

»Mit dir durch den Dschungel zu wandern. Es ist friedvoll.«

»Ja, wenn man nicht gerade vor grauenhaften Geschöpfen weglaufen muss.«

»Es ist angenehm. Ich vermisse es, Zeit mit dir allein zu verbringen.«

»Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber selbst jetzt sind wir nicht allein.«

»Nein. Das weiß ich. Aber wir sind immer noch mehr allein als in den vergangenen Wochen.« Er räusperte sich. »Ich habe euch gehört, als Ren neulich abends in dein Zimmer gekommen ist.«

»Oh. Dann weißt du also, dass sich ihm in meiner Gegenwart der Magen umdreht. Er kann mich nicht berühren.«

»Das tut mir leid. Ich weiß, dass das schmerzhaft für dich ist.«

»Es ist wohl eher andersherum. Ich bereite ihm Schmerzen.«

»Nein. Bei ihm ist es nur eine körperliche Sache. Dich verletzt er emotional. Du sollst wissen, dass ich hier bin, falls du mich brauchst.«

»Das weiß ich.«

Kishan kam näher und nahm meine Hand. »Nicht jeder zuckt bei deiner Berührung schmerzgepeinigt zusammen.«

»Danke.«

Lächelnd drückte er mir einen Kuss auf den Handrücken, dann setzten wir unseren Weg fort. Schweigend wanderten wir zwei Stunden lang, hielten die ganze Zeit über Händchen. Erneut grübelte ich über die Unterschiede zwischen Kishan und Ren nach. Ren redete oder schrieb ununterbrochen. Er liebte es, laut zu denken. Er meinte, sich nicht unterhalten zu können, sei der größte Nachteil seines Tigerdaseins.

In Oregon hatte Ren mich jeden Morgen mit unzähligen Fragen bombardiert oder auf welche geantwortet, die ich längst vergessen hatte, und über Dinge geredet, die ihm den ganzen Nachmittag in Tigergestalt nicht aus dem Sinn gegangen waren.

Kishan war das genaue Gegenteil. Er war ruhig und in sich gekehrt. Er genoss es, einfach nur zu schweigen, die Dinge zu fühlen, sie zu erfahren. Selbst wenn er nur ein Root Beer Float trank, schenkte er diesem Erlebnis hundert Prozent seiner Aufmerksamkeit. Er sog die Umgebung in sich auf und war vollkommen zufrieden damit, das Erlebte für sich zu behalten.

Ich fühlte mich bei beiden Männern wohl. Die Natur und die ruhigen Momente konnte ich mit Kishan besser genießen. War Ren in der Nähe, war ich viel zu sehr damit beschäftigt, mit ihm zu reden und – ich gebe es unverhohlen zu – ihn anzustarren, sodass alles andere um mich herum an Bedeutung verlor.

Als schließlich der Suki-See in Sicht kam, fanden wir Ren am Ufer vor, wo er Steine übers Wasser springen ließ. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht drehte er sich zu uns um. »Wird auch Zeit, dass ihr zwei endlich aufkreuzt. Ihr seid Schnecken. Ich bin am Verhungern. Was gibt’s zum Mittagessen?«

Ich streifte den Rucksack von den Schultern und ging in die Hocke, um ihn zu öffnen. Das Hemd klebte mir an der Haut. »Was hättest du denn gerne?«

Ren kauerte sich neben mich. »Ist mir egal. Überrasch mich.«

»Ich dachte, du magst es nicht, wenn ich koche.«

»Nein. Es schmeckt mir. Ich mag nur nicht, dass mich alle beim Essen anstarren und bei jedem Bissen erwarten, dass mein Gedächtnis zurückkehrt. Um ehrlich zu sein, hätte ich nichts gegen ein paar deiner Schokoladencookies mit Erdnussbutterfüllung.«

»Okay. Kishan? Was ist mit dir?« Ich schirmte die Augen ab und sah zu ihm hoch. Er beobachtete Ren.

»Mach mir einfach dasselbe wie ihm.«

Die beiden Brüder zogen los, um Steine über den See hüpfen zu lassen, und ich hörte ihr Lachen, während sie versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Ich bat die Goldene Frucht um einen Picknickkorb mit Limonade, frischen, warmen Brötchen mit Butter und einer Auswahl an Marmeladen, einen kalten Nudelsalat mit Oliven, Tomaten, Karotten und einer Limettenvinaigrette, eine riesige Portion fein würziger Chicken Wings und meine Schokoladen-Erdnussbutter-Cookies.

Dann benutzte ich das Göttliche Tuch, um eine rot-weiß karierte Decke herbeizuzaubern, und breitete sie unter einem Baum aus. Unser Picknick war fertig.

»Es ist angerichtet!«, rief ich vergnügt.

Die Brüder verloren keine Zeit. Kishan griff nach dem Hühnchen, Ren nach den Cookies. Ich schlug ihre Hände weg und reichte ihnen jeweils ein antibakterielles Feuchttuch.

»Kells«, murrte Kishan, »ich habe dreihundert Jahre meine Nahrung roh vom Boden gegessen. Ich denke nicht, dass ein bisschen Schmutz mich umbringt.«

»Vielleicht nicht, aber mit sauberen Händen fühle ich mich wohler.«

Ich schob ihnen die riesige Schüssel mit Chicken Wings hin, nahm ein Brötchen aus dem Korb und bestrich es mit Butter und Brombeermarmelade. Meinen Rücken gegen den Baum gelehnt, betrachtete ich das gesprenkelte Licht, das durch die Blätter fiel, während ich gemächlich mein Brötchen kaute.

»Wie weit ist es noch bis zu Phet? Beim letzten Mal haben Ren und ich nur einen Tag gebraucht.«

»Heute Nacht werden wir im Dschungel schlafen müssen«, erwiderte Kishan. »Wir kommen von der anderen Seite des Suki-Sees.«

»He! Lasst mir auch noch ein paar Chicken Wings übrig!«, rief ich, als sich die Schüssel in atemberaubender Geschwindigkeit leerte. »Wie könnt ihr zwei in so kurzer Zeit nur so viel verdrücken?«

»Geschieht dir ganz recht, wenn du Löcher in die Luft starrst«, entgegnete Ren.

»Ich habe keine Löcher in die Luft gestarrt. Ich habe die Aussicht genossen.«

»Das habe ich gemerkt. Was mir wiederum die Gelegenheit gab, ebenfalls ›die Aussicht zu genießen‹«, neckte er mich süffisant.

Ich trat gegen sein Bein. »Ihr hättet mir zumindest etwas übrig lassen können.«

Ren grinste und reichte mir einen Hähnchenschenkel. »Was hast du erwartet? Dass zwei oder drei winzige Hühnchen zwei hungrige Tiger satt machen? Wir brauchen zumindest etwas von der Größe eines … Was meinst du, Kishan?«

»Ich würde sagen, etwas von der Größe eines kleinen Büffels.«

»Ein kleiner Büffel wäre gut oder vielleicht eine oder zwei Ziegen. Hast du jemals Pferd probiert?«, erkundigte sich Ren.

»Zu sehnig.«

»Wie sieht’s mit Schakal aus?«

»Nein. Habe aber ein paar auf dem Gewissen. Sie waren lästig, sind in der Nähe herumgelungert und haben darauf gewartet, dass ich etwas von meiner Beute übrig lasse.«

»Eber?«

»Mindestens einen pro Monat.«

»Und wie … Bei dir ist alles in Ordnung, Kelsey?«

»Können wir vielleicht das Gesprächsthema wechseln?« Der Hühnchenflügel hing schlaff in meiner Hand. Ich starrte ihn an und stellte mir das Tier vor, das er einst gewesen war. »Ich glaube, ich kann das nicht mehr essen. Ein für alle Mal, kein Wort mehr beim Essen über eure Beute. Es ist schlimm genug, dass ich euch beim Jagen zusehen musste.«

Ren kaute genüsslich und zog mich auf: »Wenn ich es recht bedenke, hast du im Grunde die perfekte Snackgröße. Was sagst du, Kishan?«

Kishan beäugte mich mit einem neckenden Glitzern in den Augen. »Ich habe mir schon oft gedacht, dass es Spaß machen würde, Kelsey zu jagen.«

Ich funkelte Kishan wütend an. Er biss in ein Brötchen und zwinkerte mir zu.

Ren zog lachend die Knie an die Brust. »Was meinst du, Kelsey? Möchtest du mit uns Tigern Verstecken spielen?«

»Nein, danke«, sagte ich betont kühl und wischte mir die Finger an einem Feuchttuch ab.

»Na, komm schon! Wir würden dir auch einen Vorsprung lassen.«

Ich lehnte mich wieder gegen den Baumstamm. »Ja, aber die Frage lautet doch … Was würdet ihr mit mir anstellen, sobald ihr mich gefangen habt?«

Kishan bestrich ein weiteres Brötchen mit Butter, während er vergeblich versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

Ren stützte sich auf den Ellbogen und neigte den Kopf, als würde er ernsthaft über die Frage nachdenken. »Das hinge wohl ganz davon ab, welcher Tiger dich fängt. Denkst du nicht auch, Kishan?«

»Sie wird nicht mitspielen«, sagte er.

»Bist du sicher?«

»Ja.« Kishan erhob sich und schlug vor, noch eine oder zwei Stunden weiterzuwandern, bevor wir unser Nachtlager aufschlugen. Er beugte sich über mich und berührte mich an der Schulter. »Es ist jetzt ziemlich heiß. Sag Bescheid, wenn du müde wirst«, flüsterte er und marschierte voraus in den Dschungel, um einen Pfad zu suchen.

»Kishan hat recht. Ich würde nicht mitspielen«, beteuerte ich und nippte an meiner Limonade.

Ren seufzte. »Wie schade. Normalerweise ist die Jagd der ganze Spaß, aber mit dir könnte der Fang ebenso interessant werden.« Er streckte den Arm aus und strich mit dem Finger über meine Wange. »Du wirst schon wieder rot.«

»Ist wahrscheinlich Sonnenbrand«, sagte ich und funkelte ihn an.

Er sprang auf die Beine und bot mir seine helfende Hand. Sobald ich stand, ließ ich ihn augenblicklich los.

Im nächsten Moment hatte sich Ren die Schachtel mit den Cookies geschnappt und sagte sanft: »Es ist kein Sonnenbrand.«

Er schulterte meinen Rucksack und folgte Kishan. Ich bat die Goldene Frucht und das Göttliche Tuch, die Überreste unseres Picknicks verschwinden zu lassen, und trottete Ren hinterher.

Wir wanderten zwei Stunden, dann war ich so erschöpft, dass ich keinen einzigen Schritt mehr vor den anderen setzen konnte. Ren lehnte sich ein paar Meter entfernt an einen Baum, während Kishan mithilfe des Tuchs ein kleines Zelt herbeizauberte.

»Das ist nicht groß genug für zwei Tiger, Kishan.«

»Wir müssen nicht bei dir schlafen, Kells. Es ist heiß. Neben uns wäre es sehr unangenehm für dich.«

»Das stört mich nicht, wirklich.«

Kishan benetzte einen Lappen und legte ihn mir aufs Gesicht.

»Das fühlt sich gut an«, sagte ich dankbar.

»Du bist überhitzt. Ich hätte dich niemals so lange an einem Tag wandern lassen dürfen.«

»Mir geht’s gut. Vielleicht sollte ich mir mit der Goldenen Frucht ein magisches Milchbad herbeiwünschen«, lachte ich.

Kishan dachte einen Moment darüber nach und grinste. »Einer riesigen Schüssel mit Milch und dir in der Mitte könnten wir Katzen wohl nicht widerstehen.«

Ich lächelte, war jedoch zu erschöpft, um mit einer schlagfertigen Antwort zu kontern.

»Du solltest dich jetzt ausruhen, Kelsey. Mach ein Nickerchen.«

»Okay.« Ich ging in mein Zelt, doch da war es so drückend, dass ich schon bald wieder nach draußen kletterte. Die beiden Tiger – einer schwarz, einer weiß – ruhten im Schatten eines nahen Baums. Das leise Gurgeln eines Flusses war zu hören. Die Hitze machte mich schläfrig.

Mit dem Rücken zum Baum setzte ich mich zwischen die zwei Tiger. Nachdem mein Kopf ein drittes Mal auf meine Brust gesunken war, lehnte ich ihn gegen Kishans weichen Rücken und schlief ein.

Fell kitzelte meine Nase. Ich murmelte verschlafen und drehte den Kopf. Das Zwitschern eines Vogels war zu hören. Ich machte die Augen auf und sah Kishan, der an den Baum gelehnt dasaß und mich schweigend beobachtete. Er war barfuß und trug schwarze Kleidung, wie jedes Mal, wenn er sich in einen Menschen zurückverwandelte.

»Kishan?« Verwirrt hob ich den Kopf, erinnerte ich mich doch, dass ich auf seinem weichen, zobelschwarzen Fell eingeschlafen war. Jetzt aber umklammerte meine Hand Rens weiße Schulter. »Ren?« Hastig rutschte ich beiseite, zu Kishan, der den Arm um mich legte. »Ren? Es tut mir leid! Habe ich dir wehgetan?«

Ich beobachtete, wie Ren Menschengestalt annahm. Aus dem Vierfüßlerstand drückte er sich in die Hocke. Die späte Nachmittagssonne glitzerte über sein weißes Hemd, während er mich nachdenklich betrachtete. »Es hat nicht wehgetan.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Du hast dich im Schlaf bewegt. Deine Berührung hat weder gebrannt, noch mir Schmerzen verursacht.«

»Wie lange haben wir so gelegen?«

»Etwas über zwei Stunden.«

»Du hast nicht den Drang verspürt, vor mir wegzulaufen? Vor mir zu fliehen?«

»Nein. Es hat sich … gut angefühlt. Vielleicht sollte ich in deiner Gegenwart öfter ein Tiger sein.« Mit einem Lächeln verwandelte er sich zurück, tapste auf mich zu und drückte mir die feuchte Nase ins Gesicht. Ich lachte, streckte verlegen die Hand aus und kraulte ihn hinterm Ohr. Ein kehliges Grollen entrang sich seiner Brust, er ließ sich theatralisch neben mir auf den Boden fallen und drehte den Kopf, damit ich auch sein anderes Ohr erreichte.

Kishan räusperte sich, stand auf und reckte sich. »Da ihr beiden ein … zweites Kennenlernen … feiert, werde ich mir ein wenig die Beine vertreten und allein des Spaßes wegen auf die Jagd gehen.«

Ich rappelte mich auf und legte ihm eine Hand auf die Wange. »Tritt in keine Falle.«

Kishan hob die Hand, bedeckte damit meine und lächelte. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde in ein oder zwei Stunden, bei Sonnenuntergang, zurück sein. Ihr könnt ja versuchen, mich auf dem neuen Handy zu orten, wenn ihr wollt.«

Kishan verwandelte sich in den schwarzen Tiger. Ich streichelte ihm über den Kopf, bevor er in den Dschungel verschwand.

Ich machte es mir mit dem Ortungshandy in der Hand neben Ren bequem. Es kostete mich eine geschlagene Stunde, herauszufinden, wie es funktionierte. Ich war der Punkt mit dem Kürzel Ke. Ren war R. Kishan war Ki, und ich sah, wie er blinkend über den Schirm huschte. Er war etwa zwei Meilen entfernt und bewegte sich rasch in östlicher Richtung.

Wenn man die Landkarte größer zoomte, konnte man auch Mr. Kadams und Nilimas Aufenthaltsort ausfindig machen. Ich klickte auf einen ihrer Punkte, und ein kleines Fenster erschien, das mir den genauen Breiten- und Längengrad sowie ihre Vitalfunktionen präsentierte. Was für ein cooles, kleines Gerät!

Abwesend streichelte ich Rens Fell und erklärte ihm, wie alles funktionierte. Seine Ohren zuckten aufmerksam vor und zurück. Dann sprang er jäh auf und starrte in den sich verdunkelnden Dschungel.

»Was? Was ist los?«

Ren verwandelte sich in einen Menschen zurück. »Geh ins Zelt und schließ den Reißverschluss.«

»Es gibt keinen Reißverschluss. Das Tuch kann keinen herstellen. Was ist dort draußen?«

»Eine Kobra. Mit etwas Glück wird sie weiterziehen und uns in Frieden lassen.«

Ich ging ins Zelt, während er wieder Tigergestalt annahm.

Ren trottete vor dem Zelt auf und ab und wartete. Ich spähte hinaus und sah eine riesige, schwarz-olivgrüne Schlange aus dem Dschungel kommen. Ihr Kopf war überproportional groß für ihren Körper. Als sie Ren erblickte, hielt sie inne und züngelte in die Luft. Ren knurrte leise, und der Kopf der Schlange schoss in die Höhe, gab den Blick auf die blassgelbe Haut ihres Bauches frei. Als sich ihre Haube aufstellte und das Tier bedrohlich zischte, erkannte ich, dass wir es mit einer Königskobra zu tun hatten.

Ren rührte sich nicht. Die Schlange würde höchstwahrscheinlich weiterziehen, wenn wir uns ruhig verhielten. Langsam senkte sie den Kopf und glitt noch ein paar Zentimeter vor, da sah ich, wie Ren verärgert den Kopf schüttelte, bevor ein lautes Tigerniesen durch seinen Körper peitschte. Die Schlange riss erneut den Körper hoch und ließ blitzschnell Gift aus ihren beiden Fangzähnen schießen, das drei Meter weit flog. Der ätzende Sprühnebel traf zum Glück nicht Rens Augen, denn andernfalls wäre er wohl erblindet. Die Kobra schlängelte sich näher heran und unternahm einen zweiten Versuch.

»Ren! Komm her! Sie zielt auf deine Augen!«

Etwas in meinem Gepäck rührte sich. Noch eine Schlange! Ein goldener Kopf lugte durch den winzigen Schlitz in meinem Rucksack, dann huschte sie aus dem Zelt.

Fanindra?

Ren wich zurück, und ich löste einen Teil der Knoten, damit er zu mir ins Zelt flüchten konnte. Gemeinsam beobachteten wir das Spektakel, das sich vor unseren Augen abspielte.

Fanindra schlängelte sich zu der Königskobra, hob den Kopf und spreizte ihre Haube. Ihre edelsteinbesetzten smaragdgrünen Augen funkelten in der Dämmerung. Die Königskobra wiegte sich vor und zurück, kostete mit der Zunge die Luft und senkte den Kopf. Fanindra ließ ihrerseits den Kopf nach unten gleiten und legte ihn auf dem der Kobra ab, die sich nun ebenfalls an den Körper ihrer Artgenossin schmiegte, sich umdrehte und dann rasch in den Dschungel verschwand. Fanindra kehrte ins Zelt zurück, wand ihren Körper zu einer Spirale, zog den Kopf ein und wurde wieder leblos.

Ren verwandelte sich in einen Menschen. »Wir hatten Glück. Das war ein wütendes Schlangenvieh.«

»Fanindra hat die Kobra aber ganz schön schnell beruhigt.«

Ren bedankte sich bei Fanindra, nahm wieder die Gestalt des weißen Tigers an und ließ sich zu meinen Füßen nieder.

Kurz darauf näherte sich Kishan dem Lager und stieß ein kehliges, rasselndes Knurren aus. Nachdem er sich vom Tiger in einen Menschen verwandelt hatte, steckte er den Kopf ins Zelt. »Warum versteckt ihr zwei euch?«

Ich trat ins Freie und erzählte ihm von der Schlange. »Was war das für ein Geräusch, das du eben von dir gegeben hast?«, fragte ich, während ich das Abendessen zubereitete.

Auch Ren nahm Menschengestalt an und setzte sich mir gegenüber. Ich reichte ihm einen Teller, und er antwortete anstelle von Kishan. »Das war eine Art Maunzen, sozusagen eine Tigerbegrüßung.«

Blinzelnd sah ich Ren an. »Das hast du nie gemacht.«

Er zuckte mit den Schultern. »Hatte wohl nie Lust dazu.«

Kishan schnaubte. »Wird das so genannt?« Er stieß Ren den Ellbogen in die Rippen. »Jetzt weiß ich endlich, was all die Tigerdamen mir zugeraunt haben. Wo hast du das gelernt?«

»Im Zoo.«

»Huch.«

Ren grinste. »Also … du und die Tigerdamen, ja? Gibt es da etwas, woran du uns teilhaben lassen möchtest, Kishan?«

Kishan stopfte sich eine Gabel Essen in den Mund und murmelte: »Wie wäre es, wenn ich dein Gesicht an meiner Faust teilhaben lasse?«

»Wow. Da ist aber jemand empfindlich. Ich bin sicher, deine Tigergespielinnen waren allesamt attraktiv. Bin ich eigentlich Onkel?«

Kishan knurrte verärgert und stellte seinen Teller hin. Dann verwandelte er sich in den schwarzen Tiger und stieß ein Brüllen aus.

»Okay, okay. Das reicht«, mahnte ich. »Ren, möchtest du, dass ich Kishan von dem Zuchtprogramm mit der weißen Tigerdame erzähle?«

Ren erblasste. »Du weißt davon?«

Ich lachte frech. »Ja.«

Kishan nahm Menschengestalt an, schnappte sich seinen Teller und grinste. »Raus mit der Sprache, Kells. Erzähl mir jedes schmutzige Detail.«

»Na schön«, seufzte ich. »Lasst uns die Karten offen auf den Tisch legen. Kishan, hast du dich jemals mit weiblichen Tigern … vergnügt?«

»Was denkst du?«

»Beantworte einfach meine Frage.«

»Natürlich nicht!«

»Das habe ich mir schon gedacht. Ren, ich weiß natürlich, dass du dich gesträubt hast, auch wenn der Zoo sich redlich Mühe gegeben hat, dich zu animieren. Und jetzt kein Necken und keine Streitigkeiten mehr über das Thema, oder ihr kriegt es mit meinem Blitz zu tun. Ich will, dass ihr euch mustergültig benehmt.«

Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, entzündete Kishan ein Feuer, um die Tiere zu vertreiben, und ich erzählte ihnen die Geschichte vom Löwen und der Maus, wandelte sie aber in einen Tiger und ein Stachelschwein um. Dies führte zu einer Unterhaltung über die besten und gefährlichsten Jagd-Anekdoten der Brüder, bei denen ich mich wand und mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

Während wir den Sonnenuntergang betrachteten, legte mir Kishan den Arm um die Schultern und beschrieb die Veränderungen, die er im Dschungel erspüren konnte, wenn der Tag der Nacht wich. Es war faszinierend und zugleich beängstigend zu wissen, wie viele Geschöpfe bei Sonnenuntergang zwischen den Bäumen hindurchschlichen.

Später an diesem drückend heißen Abend kletterte ich in mein winziges Zelt, legte mich auf mein Bettzeug und wickelte mich wie eine Mumie in das dünne Laken.

Ren steckte den Kopf herein, um nach mir zu sehen, und lachte schallend. »Tust du das immer?«

»Nur beim Campen.«

»Du weißt, dass die Käfer trotzdem hineinkommen.«

»Sag das nicht. Ich lebe gerne in seliger Unwissenheit.«

Ich hörte sein glockenreines Lachen, als er die Knoten des Zelts für mich zuband.

Nachdem ich mich eine geschlagene Stunde ruhelos hin und her geworfen hatte, erschien Kishan an meiner Zeltklappe. »Kannst du nicht schlafen?«

Ich stützte mich auf den Ellbogen. »Ich finde es schöner, wenn ein Tiger in meiner Nähe ist. Das hilft mir im Dschungel beim Schlafen.«

Kishan seufzte. Seine goldenen Augen glitzerten im Mondlicht. »Na schön. Rutsch rüber.«

Überglücklich machte ich Platz für ihn. Er verwandelte sich in den schwarzen Tiger und schmiegte seinen Körper an meinen Rücken. Ich hatte es mir gerade neben ihm bequem gemacht, als ich eine feuchte Nase an meiner Wange spürte. Ren hatte seinen riesigen Körper zwischen die Zeltwand und mich gequetscht und ließ sich nieder – halb neben und halb auf mir.

»Ren! Ich kann nicht atmen. Und mein Arm ist unter dir eingeklemmt.«

Er rollte sich zur anderen Seite und leckte meine Schulter. Ich stemmte mich gegen seinen schweren Körper und schlängelte mich unter ihm weg.

Verärgert sagte ich: »Göttliches Tuch, könntest du das Zelt bitte groß genug für uns alle machen?«

Das Zelt erbebte sanft, und ich hörte das leise Säuseln von Fäden. Kurze Zeit später lag ich behaglich zwischen meinen beiden Tigern. Ich drehte mich zur Seite, küsste Kishan auf seinen pelzigen Kopf und tätschelte ihm den Hals. »Gute Nacht, Kishan.«

Dann drehte ich mich auf die andere Seite und starrte direkt in die blauen Augen meines weißen Tigers. Ich kraulte ihm den Kopf und wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht, bevor ich die Augen schloss. Im nächsten Moment kitzelte Fell meine Nase. Ren drückte sanft seinen Kopf in mein Gesicht. Ich wusste, was er wollte.

»Na schön.« Ich gab auch ihm einen Kuss. »Gute Nacht, Ren. Schlaf jetzt.«

Er begann zu schnurren und machte die Augen zu. Ich schloss ebenfalls die Augen und lächelte in die Dunkelheit.