22
Der Schatz
des
goldenen
Drachen
Es sei mir gestattet, mich erst einmal vorzustellen? Ich bin Jınsèlóng, sagte die Stimme. Und was bringt dich und dieses leuchtende, schimmernde, unbezahlbare Schmuckstück in mein Reich?
Seufzend taxierte ich den Drachen, während ich die Frucht von einer Hand zur anderen warf. Sein funkelndes rötlich-gelbes Auge beobachtete den Weg der Frucht genau. Wasser tropfte von seinem gehörnten Kopf. Dieser hier sah schon eher aus wie ein Wasserdrache. Sein dreieckiger Mund war geschlossen, aber scharfe weiße Zähne standen über seiner Unterlippe heraus. Seine Schuppen glichen harten goldenen Scheiben und glitzerten im Wasser. Jede Schuppe war ein Unikat, flimmerte in den unterschiedlichsten Farbschattierungen, angefangen von leuchtendem Gold, über Buddha-Gold zu dem güldenen Glitzern von Piratendublonen und Messingmünzen.
Wo seine Brüder Hörner hatten, ragten aus Jınsèlóngs Hinterkopf vier lange Stacheln, und eine Abfolge kleinerer Höcker setzte an seiner Schnauze ein und erstreckte sich entlang seiner Wirbelsäule. Wenn er das Maul öffnete, rollte sich eine lange rote Zunge aus und plumpste zur Seite. Er keuchte schwer, während er mir zusah, wie ich mit der Frucht spielte, und erinnerte mich an einen Hund, der gierig auf einen Leckerbissen wartete.
»Eigentlich wollen wir die Frucht nicht eintauschen«, sagte ich.
Oh. Wie überaus bedauerlich. Die Zunge schnalzte in seinen Mund, bevor der goldene Drache das Maul zuschnappen ließ und begann, zurück ins Wasser zu gleiten.
»Warte!«, rief ich. »Vielleicht wärst du an einer anderen Art Handel interessiert?«
Der Drache hielt inne und neigte den Kopf, um zu mir heraufzuspähen. Was genau schwebt dir denn vor?
»Wir brauchen Informationen. Wir sind auf der Suche nach Durgas Halskette.«
Ich verstehe. Und … was würdest du mir für diese Information geben? Es müsste etwas Unbezahlbares sein. Nicht einmal deine Frucht wäre wertvoll genug.
»Ich bin sicher, wir finden etwas Passendes für dich«, bot ich kühn an.
Sehr schön. Dann lasst uns feilschen. Aber in meinem Reich.
»Und wo genau ist dein Reich?«
Mein Palast befindet sich unter den Wellen.
»Wie kommen wir dorthin?«
Taucht mit einem Stück Gold in der Hand von eurem Schiff.
»Wie tief liegt der Palast? Wie sollen wir atmen?«
Die Tiefe wird euch nichts anhaben, solange ihr euch in meinem Herrschaftsgebiet befindet. Das Atmen wird in meinem Unterwasserpalast ebenfalls kein Problem darstellen. Aber ihr dürft das Gold nicht verlieren, bis ihr angekommen seid. Sollen wir uns in … sagen wir … einer Stunde treffen?
»Gut. Dann bis später.«
Der Drache glitt unter die Wasseroberfläche und verschwand. Ich murmelte: »Na großartig. Ich habe ein Date mit einem Drachen«, und ging auf die Suche nach den anderen.
Als ich die Tür aufriss, steckten Kishan und Ren gerade im schönsten Streit um irgendeine Belanglosigkeit. Ich verdrehte die Augen und sagte: »Jetzt ist dafür wirklich nicht der rechte Zeitpunkt. In weniger als einer Stunde haben wir ein Date mit Jınsèlóng. Mr. Kadam? Sind Sie hier?«
»Einen Moment.« Er tauchte aus dem hinteren Teil des Raumes auf, gekleidet in einen Morgenmantel und mit einem Handtuch um den Kopf.
»Tut mir leid, Sie beim Duschen gestört zu haben. Wir brauchen drei Goldstücke und etwas wirklich Wertvolles, das wir eintauschen können. Es muss auf jeden Fall glitzern und glänzen.«
»Der goldene Drache?«
»Ja. Wir hatten keine zehn Meter von denen da entfernt eine interessante Unterhaltung.« Ich zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »So viel zum Thema Tigergehör«, fügte ich harsch hinzu.
Kishan setzte einen verlegenen Gesichtsausdruck auf, doch Ren ließ sich nicht beeindrucken und ging zum Gegenangriff über. »Und wo warst du? Etwa unter Deck, wo du sein solltest?«
»Nein. Ich war auf dem Dach des Steuerhauses, wenn du es genau wissen willst. Und bevor du eine Schimpftirade anstimmst, ich kann mich selbst beschützen.«
Ren knurrte frustriert, aber ich drehte mich ohne ein weiteres Wort wieder zu Mr. Kadam um. »Haben wir Gold an Bord?«
»Ja. Ich ziehe mich rasch an, und dann können wir im Safe nachsehen.«
Eine Stunde später standen Kishan, Ren und ich an der Luke zur Garage. Kishan hielt einen goldenen Füllfederhalter in der Hand, Ren einen Brieföffner und ich eine goldene Brosche, die Nilima gehörte.
Ich war nicht sonderlich optimistisch, dass der Drache diese Dinge akzeptieren würde, hatte er doch gesagt, dass selbst die Goldene Frucht nicht gut genug sei. Ich sorgte mich, er könnte ein Auge auf Fanindra oder die Chakram werfen, und Mr. Kadam bestand darauf, dass wir Durgas Geschenke ebenfalls in einer Tasche verstecken sollten, die Ren tragen würde. Doch Fanindra wollte ich unbedingt am Körper tragen.
Kurz bevor wir ins Wasser sprangen, kam Nilima mit Durgas Lotosblütenkranz herbei. Sie legte ihn mir um den Hals und erklärte, dass sie im Traum erfahren habe, ich werde die Blumen brauchen. Ich umarmte sie und dann Mr. Kadam.
»Falls das nicht klappen sollte, sind wir gleich zurück – nass, aber unbeschadet.«
Mr. Kadam klopfte mir auf die Schulter und bat mich, Vorsicht walten zu lassen. Er ermahnte mich, dass goldene Drachen gierig seien, von Natur aus unaufrichtig und verschlagen, und dass sie alles taten, um ihren Schatz zu beschützen. Er bat mich auch, aus der Drachenhöhle nichts mitzunehmen, nicht einmal den kleinsten Kieselstein.
Ich nickte und warnte die Brüder, ihre goldenen Kostbarkeiten nicht zu verlieren, da sie ansonsten keine Luft mehr bekommen würden. Kishan lächelte und glitt ins Wasser. Ich wandte mich an Ren. »Bist du bereit?«
Er lächelte ebenfalls. »Robert Browning sagte einst: ›Im Leben eines Tauchers gibt es zwei entscheidende Momente: Der erste, wenn er sich als Bettler zum Sprung bereit macht; dann, wenn er als Prinz mit seinem Lohn wieder auftaucht.‹« Sanft strich er mit dem Finger an meinem Kiefer entlang. »Ich bin mehr als bereit, hridaya Patni. Und ich habe vor, mit meinem Lohn zurückzukehren.«
Ich bebte, als er sich umdrehte und Kishan ins Wasser folgte. Wie gelingt es ihm nur immer wieder, mich mit einer einzigen kleinen Berührung derart aus der Bahn zu werfen? Im Grunde schafft das sogar allein seine Stimme. Ich rieb mein prickelndes Kinn, verstärkte den Griff um meine Brosche und sprang ins Wasser.
Ich holte ein letztes Mal tief Luft und tauchte unter, trat fest mit den Beinen und suchte verzweifelt nach einem Lebenszeichen von Ren oder Kishan, doch sie waren verschwunden. Genau in dem Moment, als ich für einen Atemzug zur Oberfläche umkehren wollte, schoss meine Hand mit der Brosche vor, und das Kleinod wäre mir fast entglitten. Als ich die Finger fester um das Gold krallte, wurde ich unter Wasser nach vorne katapultiert, als klammerte ich mich an einer Wasserskileine fest.
Ich hielt den Atem an, obwohl meine Lungen brannten. Ich kniff die Augen zu, während ich mit rasendem Tempo in die schwarzen Tiefen des Ozeans gerissen wurde. Fanindras Augen begannen zu glühen, und in ihrem Licht sah ich ein Aufblitzen von Weiß vor mir. Ren hatte ein weißes Hemd getragen. Meine Sicht trübte sich. Ich wusste, sollte ich das Bewusstsein verlieren, würde ich die Brosche fallenlassen und hier mein Grab finden. Auf keinen Fall könnte ich es bis zur Oberfläche schaffen. Ich war schon zu tief. Mein letztes Luftbläschen trieb nach oben. Da schwoll es an, wurde größer und immer größer und berührte meinen Mund und meine Nase, legte sich wie eine Maske auf mein Gesicht.
Ich blinzelte mehrmals und röchelte. Kühle Luft rauschte in meine Lungen, und ich holte tief Atem, keuchte schwer, während ich mit aller Kraft versuchte, nicht zu hyperventilieren. Ich begann mich zu beruhigen und betrachtete nun, da ich wieder sehen konnte, meine Umgebung. Da spülte es mein Haarband weg, und meine langen Locken flatterten im Wasser. Ich musste wie eine Meerjungfrau aussehen.
Wir tauchten tiefer und tiefer hinab. Abgesehen vom Glühen ihrer Augen blieb Fanindra leblos. Funkelnde Fische schwammen rasch fort, als ich vorbeikam. Ich sah einen Hai, der sich am Meeresboden von etwas Großem nährte. Ich schauderte und sandte ein stilles Dankeschön ans Universum, dass das Raubtier anderweitig beschäftigt war.
Mit rasanter Geschwindigkeit wurde ich etwa drei Meter über dem Meeresboden durchs Wasser gezogen. In weiter Ferne tauchte ein mattes Licht auf, das von Sekunde zu Sekunde heller wurde. Ich keuchte erstaunt auf. Der Unterwasserpalast aus glitzerndem Gold schimmerte in einem weiß glühenden Licht – hell genug, dass der Ozean in einem weiten Umkreis erleuchtet wurde. Die Außenanlage war gepflegt und so zurückgeschnitten worden, dass sie wie eine echte Landschaft aussah. Riesige Korallen und Anemonen wuchsen hoch wie Bäume, und farbenfrohe Fische und Meerespflanzen gediehen in dem Gebiet. Ich schoss durch die Tore, die sich automatisch öffneten, und wurde durch den Innenhof gezogen. Die Brosche verlangsamte meine Fahrt, als ich die offen stehende Vordertür erreichte. Lichter brannten im Inneren, und ich erkannte Ren, der auf der anderen Seite der Tür stand und nach mir Ausschau hielt.
Ich trieb einen Moment im Wasser, bis er mich endlich sah. Dann streckte er die Hand durch die unsichtbare Schranke, packte mich und zog mich vorsichtig zu sich her. Mit der anderen Hand umfasste er meine Hüfte, bis meine Füße den Boden berührten. Er lächelte, als ich seinen Arm berührte. »Du bist … trocken!«, rief ich. Meine Hand glitt zu meinem Hemd, und ich zog mir eine Haarsträhne über die Schulter. »Ich bin trocken!«
»Ja. Komm. Sie warten auf uns. Kishan ist schon beim Drachen. Wir müssen Fanindra verstecken. Du wirst noch sehen, warum.«
Rasch erstellte er mithilfe des Göttlichen Tuchs einen Pullover und streifte ihn mir über. Die Ärmel waren weit genug, um Fanindra zu bedecken. Zufrieden mit seinem Werk führte Ren mich in das prächtige Schloss. Die Wände waren in metallischen Farbschattierungen gehalten und zeigten Bilder von versunkenen Schiffen und Piratenschätzen. Weiter hinten hing das Gemälde einer reichen Stadt, die im Meer versunken war.
Glitzernde Statuen aus Marmor, Onyx und Jade standen in allen Ecken, und handbemalte griechische Vasen thronten auf reich verzierten Sockeln. Truhen voller Silber, Gold und Edelsteinen quollen über und ergossen ihren wertvollen Inhalt auf dicke Perserteppiche, die übereinandergestapelt lagen. Eine Wand war von Hunderten mit Juwelen besetzter Masken bedeckt, dazwischen wertvolle Kunstwerke aus allen Epochen und Ländern.
Ren musste mich weiterziehen, denn ich blieb ständig mit offenem Mund stehen und bewunderte eine Kostbarkeit nach der anderen. Schließlich betraten wir einen weitläufigen, behaglichen Raum und sahen den goldenen Drachen in seiner menschlichen Gestalt, der Kishan lachend gegenübersaß.
»Gewonnen«, rief der Drache. Kishan runzelte die Stirn. »Es ist sehr schwer, gegen mich zu gewinnen. Nimm es dir nicht so zu Herzen«, höhnte Jınsèlóng.
»Was hast du verloren?«, wollte Ren wissen.
»Nilimas Ohrringe.«
»Was ist hier los?«, fragte ich verwirrt.
»Da bist du ja endlich«, sagte der Drache. »Du hast lange gebraucht, meine Liebe. Wenn du nun die Freundlichkeit besitzen würdest, mir die Frucht zu reichen …«
»Nicht bewegen«, warnte Ren. »Er ist ein verschlagener Teufel und will sich alles unter den Nagel reißen.«
Der Drache legte die Stirn in Falten. »Spielverderber. Na schön. Dann gib mir deine Brosche, und wir sind quitt.«
Ren riss die Hand hoch. »Du bekommst gar nichts. Wenn du die Brosche willst, kannst du sie gerne eintauschen.« Er fuhr nachdenklich fort: »Hm, aber falls du der jungen Dame eine Erfrischung reichen würdest, lasse ich dich einen Blick auf die Brosche werfen. Sie ist sehr wertvoll.«
»Pah«, sagte Jınsèlóng, sah mich jedoch verschmitzt aus dem Augenwinkel an und lachte brüllend. »Na gut, ich sorge für Erfrischungen. Ich habe nämlich das Gefühl, dass du dich gar nicht so schlecht anstellen wirst.« Grinsend drohte er Ren mit dem Finger.
»Das will ich meinen. Ich wurde gut ausgebildet, um im Königreich meines Vaters Verhandlungen zu führen.«
»Ach, aber ich verspreche dir, jemand wie ich ist dir noch nie untergekommen.« Der Drache klatschte in die Hände, und eine Platte mit sonderbaren Appetithäppchen erschien vor uns. »Nehmt bitte Platz und genießt die Köstlichkeiten des Meeres. Seht ihr, wie großzügig ich bin?«
Ich setzte mich auf einen schönen goldenen Sessel mit dickem Polster. »Ja, du bist der Inbegriff eines selbstlosen Gastgebers«, murmelte ich, als ich einen Weinkelch nahm und an dem Inhalt roch, bevor ich nippte. Es schmeckte wie eine Mischung aus Pflaumen- und Preiselbeersaft. Ich biss in einen der Appetithappen, der sehr salzig und knusprig war. »Was ist das?«, fragte ich.
»Gerösteter Schwertfisch auf einem mit Seesternbutter glasierten Seetang-Cracker. Das Getränk ist aus den Blüten von Seegras gepresst.«
»Aha.« Ich wischte die letzten Krümel von meinen Fingern, schluckte hart und stellte mein Getränk ab. »Köstlich«, sagte ich mit einem gezwungenen Lächeln.
Kishan lehnte sich vor, schnappte sich einen Seetang-Cracker und kaute, während er den Mann vor sich betrachtete. Die menschliche Gestalt des goldenen Drachen war kleiner als die seiner Brüder. Sein Haar war schulterlang und grau, sein Oberkopf kahl. Eine knollige Nase saß über einer so schmalen Oberlippe, dass sie fast als nicht existent bezeichnet werden konnte, während seine Unterlippe leicht hervorstand. Rötlich-braune Augen funkelten vor Intelligenz, als er sich nach vorne beugte und gierig die Hände rieb. Er sah aus wie einer meiner früheren Schuldirektoren.
Der Drache unterbrach meinen Gedankengang. »Nun, sollen wir beginnen?«, fragte er ungeduldig.
Ren nickte und öffnete seine Tasche, bevor er es sich anders überlegte. »Vielleicht sollte der erste Gegenstand, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken, die Brosche in Kelseys Hand sein.« Er wandte sich an mich. »Darf ich?«
Ich ließ die Brosche in Rens ausgestreckte Hand fallen und sah, wie der Drache einen hungrigen Blick darauf warf. Was im Laufe der nächsten paar Stunden geschah, verblüffte mich zutiefst. Der Drache begann mit einem überraschenden Gebot – die Information über den weißen Drachen im Austausch gegen alles in unserer Tasche, obwohl er den Inhalt überhaupt nicht kannte. Ren lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander, als würde er das Angebot ernsthaft erwägen, und lehnte dann höflich ab. Eine Sekunde später fiel mir schlagartig ein, dass sich die Göttliche Frucht und das Tuch in dem Beutel befanden, und die Brüder höchstwahrscheinlich sowohl die Chakram als auch den Dreizack dort verstaut hatten, weshalb ich froh war, dass sich Ren geweigert hatte.
Ren gab ein Gegenangebot ab, das so niedrig war, dass es dem Drachen ein Lachen entlockte – meine Brosche im Austausch gegen die Information. Anschließend wurden die beiden Männer ernst. Es war, als würde man einer Partie Blindschach zusehen. Jeder der beiden überdachte mehrere Züge im Voraus, während ich schon Probleme hatte, zu erkennen, was sie im Moment zu erreichen versuchten. Innerhalb weniger Minuten gewann der Drache die Brosche, den großen Rubin aus unserer Tasche, ein Büfett mit Köstlichkeiten aus Shangri-La und eine Garnitur Feenkleidung, während uns eine sichere Reise an die Oberfläche garantiert wurde, auch wenn der Drache uns nicht verraten wollte, wie das vonstattengehen würde, eine Truhe mit Münzen, eine wertvolle, chinesische Jadestatue und ein Diamanthalsband.
Nach einer weiteren Stunde war ich mir nicht sicher, ob Ren überhaupt einen Fortschritt erzielt hatte. Jınsèlóng schien nun unverhohlen an unserer Tasche interessiert zu sein, da er wohl annahm, dass sie jegliche Kostbarkeit herstellen konnte, mit der wir aufzuwarten hatten. Ihm war noch nicht aufgefallen, dass sie nur Nahrung und Dinge aus Stoff zaubern konnte. Ren und der Drache hatten eine sonderbare Art, miteinander umzugehen.
Anfangs glaubte ich, Rens Methode zu durchschauen. Er wählte einen Gegenstand zum Tauschen, pries die Vorzüge des jeweiligen Objekts an und beschrieb lang und breit seine Geschichte, während Jınsèlóng scharfsinnig lauschte. Dann tat er so, als könnte er es nicht ertragen, sich von ihm zu trennen. Widerstrebend bot er es zwar erneut an, aber nur im Austausch gegen zwanzig Dinge, die dem Drachen gehörten. Der Drache lehnte ab und machte ein Gegenangebot, und dann schmuggelte Ren beiläufig etwas wie den Aufenthaltsort des weißen Drachen und andere Kostbarkeiten ein.
Der Drache lachte dann und lehnte alles außer zwei oder drei Dingen ab, die Ren eingefordert hatte, und Ren ließ den Gegenstand erneut herabbaumeln und erklärte, welche unschätzbare Bedeutung er für seine Familie hätte. Die Gier des Drachen nach neuen Schmuckstücken arbeitete zu unseren Gunsten, und schon bald hatten wir einen großen Haufen wertvoller Kunstschätze angesammelt. So ging es mehrmals hin und her, bis nach mehreren Angeboten und Gegenangeboten einer von ihnen sagte: »Akzeptiert.« Dann konnte der andere entweder einen neuen Vorschlag unterbreiten oder ebenfalls »Akzeptiert« rufen. Sobald beide einverstanden waren, war der Deal rechtskräftig, und der Drache klatschte in die Hände und ließ die Dinge ihre Plätze tauschen. Was er gewann, verschwand in seiner Schatzkammer, und was wir gewannen, häufte sich auf dem Boden hinter uns.
Während einer Pause bewunderte ich einen spanischen Degen und fragte Jınsèlóng, woher all seine Schätze stammten. Er nippte an seinem mit Edelsteinen besetzten Kelch, lächelte und bot mir den Arm. »Wie wäre es mit einem Rundgang durch mein Schloss?«
Ich spähte über seine Schulter, und Ren und Kishan schüttelten beide vehement die Köpfe.
Bei ihrer Überfürsorglichkeit verdrehte ich die Augen. »Ja, das wäre toll«, erwiderte ich. »Solange du versprichst, mir nicht mit einer List Informationen zu entlocken.«
Er schnaubte grauen Rauch in seine Hand und streckte sie aus, damit ich einschlug. »Drachenehrenwort.«
Ren stand auf, und sie führten einen komplizierten verbalen Tanz auf, bei dem er meine sichere Rückkehr forderte und das Versprechen des Drachen, dass er mir keine Informationen abluchsen würde. Sie akzeptierten beide die Bedingungen, bevor Jınsèlóng meine Hand in seine Armbeuge schob und mir sein Reich zeigte.
Ich fragte ihn wieder über seinen Reichtum aus. Er antwortete: »Alle Kostbarkeiten des Meeres gehören mir.«
»Dann sind das also alles Schätze aus versunkenen Schiffen?«
»Größtenteils. In früheren Jahrhunderten haben mir weise Frachtschiffkapitäne eine Kleinigkeit zugeworfen, um meinen Appetit zu stillen. Wenn sie es vergaßen, musste ich etwas dagegen tun. Ein fairer Handel. Eine sichere Schifffahrt im Austausch gegen eine kleine Aufmerksamkeit. Das ist nicht zu viel verlangt, oder?«
»Und wenn sie sich weigerten oder es vergaßen, was genau hast du dann gemacht?«
»Pah, erspar mir den voreingenommenen Blick in deinen Augen. Ich bin kein Monster.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue.
Empört warf er die Hände in die Höhe. »Na schön. Ich habe ihr Schiff ein bisschen hin und her geworfen, bis sie sich wieder erinnerten, oder ich habe sie den Stürmen überlassen.« Er bohrte einen Finger in die Luft. »Ich wurde in jedem Fall bezahlt. Das ist das Gesetz des Meeres.« Er spazierte zu der Marmorstatue der Aphrodite und streichelte ihr über den Arm. »Hallo, meine Schöne.« Er räusperte sich verlegen, als wäre es ihm peinlich, dass ich ihn dabei ertappt hatte, wie er mit einer sehr … üppigen Version der Göttin der Liebe redete, und drehte sich wieder zu mir um. »In den guten, alten Zeiten wurden solche Kostbarkeiten mit Schiffen transportiert. Heute könnte ich eine Flotte von ihnen versenken und würde nicht viel mehr ergattern als einen Haufen Metallschrott.«
Ich berührte die zarten Fingerspitzen der Aphrodite. »Da hast du wohl recht. Wenn überhaupt, werden solche Kostbarkeiten übers Meer geflogen. Den Großteil ihrer Zeit fristen sie wohl in irgendwelchen Museen.«
»Hm. Hin und wieder gelingt es mir, ein Flugzeug zu fangen, aber nur, wenn die Wolken von Feuchtigkeit durchdrungen sind«, murmelte er.
»Ein Flugzeug fangen? Du meinst, du bringst Flugzeuge absichtlich zum Absturz?«
Er runzelte die Stirn. »Nicht so viele wie früher. Das kostet nämlich große Anstrengung, und meistens lohnt es sich nicht. Außerdem liegt Bermuda sehr weit von meinem Heim entfernt.«
»Bermuda? Wie in Bermudadreieck?«
»Ich weiß nicht, von welchem Dreieck du sprichst. Drachen wie ich verschwenden keine Zeit auf Geometrie, außer wenn sie in der Kunst eingesetzt wird.«
Ich bohrte ihm den Finger mehrmals in den Arm, um jedes Wort zu betonen. »Du bist ein schrecklicher Drache. Jeder Einzelne von euch ist ein Plagegeist. Was ist überhaupt der Sinn eures Daseins?«
»Du willst den Sinn meines Daseins wissen? Komm mit mir. Ich werde ihn dir zeigen.«
Er führte mich durch einen weiteren prunkvollen Saal mit einer geschnitzten Vertäfelung, die die großen Bildhauer der Welt bei der Arbeit zeigte. Bei dem Anblick schmolz mir das Herz. Jemand, der sich um all die unschätzbaren Meisterwerke kümmerte, konnte doch nicht von Grund auf schlecht sein.
Wir blieben vor einer schweren Flügeltür stehen, die kunstvoll verziert und auf Hochglanz poliert war. Der Drache klatschte in die Hände, und die Tür öffnete sich. Wir betraten eine Lagerhalle voll der unglaublichsten Kostbarkeiten, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Jahrhundertealte Gemälde wirkten so neu, als wären sie gerade erst fertiggestellt worden. Plastiken funkelten und waren perfekt erhalten. Diamantene Kronleuchter hingen von der Decke und erfüllten den Raum mit widerspiegelnden Regenbogen, die von Juwelen von der Größe von Fußbällen zurückgeworfen wurden. Antike Wandteppiche hingen, als wären sie gerade erst geknüpft worden.
Er ließ mich alles berühren, erfreut, dass ich ein solches Interesse für seine Sammlung an den Tag legte. Ich fand eine goldene Replik der Titanic, ein bronzenes Pferd in Lebensgröße, eine königliche Tiara, die mit Diamanten und Edelsteinen besetzt war, und eine perfekte weiße Perle von der Größe eines Globus, die auf einem roten Samtkissen thronte.
Bei jedem Schritt, der mir die Pracht seiner Kunstschätze aufzeigte, keuchte ich voll Bewunderung auf. Ich streckte die Hand nach dem Kopf eines Jadetigers aus und lächelte. »Er ist so unglaublich.« Mit ehrfurchtsvollem Blick drehte ich mich zum Drachen um. Er sah selbstgefällig drein. »Und dennoch … rechtfertigt das keine Menschenleben«, klagte ich an.
»Machen all diese Schätze das nicht wett? Wie viele dieser Dinge verkümmern an der Wasseroberfläche – zerstört und ungeliebt?«
»Zu viele«, gestand ich ein.
»Na also. Ich bewahre das kostbarste Gut der Menschheit auf.«
»Aber niemand außer dir sieht es.«
Er wich meiner Bemerkung aus, blies etwas Rauch aus den Nüstern und drehte sich abrupt um, in Erwartung, dass ich ihm folgte.
Das tat ich auch, und die Türen schlossen und verriegelten sich genau hinter mir. Obwohl von kleiner Statur, schritt er rasch voran. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Yínbáilóng will schon seit Jahren, dass ich aufhöre, Schiffe zu versenken und Flugzeuge zum Absturz zu bringen.«
»Yínbáilóng?«
»Ja, der weiße Drache. Er ist der älteste und hat zu allem eine Meinung, einschließlich dem Ertränken von Menschen.«
»Vielleicht solltest du auf ihn hören.«
»Vielleicht. Aber was sollte ich dann den lieben, langen Tag tun? Hier unten bekomme ich nicht viel Besuch, und ich will nicht die ganze Zeit wie Qınglóng verschlafen oder verrückt werden wie Lüsèlóng. Alles, woran der denkt, ist die Jagd.«
»Vielleicht könntest du anderen Menschen helfen. Ihnen wie die Zahnfee eine Münze unters Kissen legen.«
»Hast du den Verstand verloren? Vielleicht hast du auf dem Weg nach unten nicht genügend Luft bekommen. Du bist köstlich, meine Liebe. Meinen Schatz verschenken? Pah! Das Letzte, was mir je in den Sinn käme, wäre, meinen Reichtum aufzugeben. Komm. Wir haben diese hinterhältigen Brüder lange genug allein gelassen. Wahrscheinlich hecken sie neue Pläne aus, mich um meine Kostbarkeiten zu erleichtern.«
»Nun, du hättest es nicht anders verdient.«
»Ha!« Er führte mich zurück in den Saal, doch unsere Unterhaltung schien ihn aus dem Konzept gebracht zu haben. Jedes Mal, wenn er während des Tauschhandels zu gierig wurde, hob ich eine Augenbraue und verwirrte ihn mit dieser unbedeutenden Geste genug, dass er eine schlechte Entscheidung traf.
Ab und an fügte ich gewisse Kleinigkeiten zu Rens Liste hinzu, wie keine Schiffe im nächsten Jahrhundert zu versenken oder die Bermudas für immer in Ruhe zu lassen. Ohne nachzufragen, ging Ren auf meine Vorschläge ein.
Gelegentlich beugte sich Kishan zu Ren und flüsterte ihm ebenfalls etwas ins Ohr, und gemeinsam erzielten wir Fortschritte. Jınsèlóng blickte die ganze Zeit über finster drein, und nach einem besonders schweren Schlag begann er zu schluchzen. Er weinte Krokodilstränen und redete von all den Menschen, die seinetwegen umgekommen waren. Er schien wahrhaft reumütig zu sein, und ich hatte schreckliches Mitleid mit ihm.
Er bat mich um ein Taschentuch, und ich kramte eine Weile in den Taschen, dann zog ich das Göttliche Tuch heraus und gab die Bitte weiter. Es flimmerte und verwandelte sich in ein wunderschönes besticktes Taschentuch. Das Monogramm lautete:
A R D
Überrascht starrte ich die Buchstaben einen Moment an, dann traf es mich wie der Blitz. Alagan Dhiren Rajaram. Ich errötete und drohte dem Tuch still, sie augenblicklich herauszuschneiden.
»Hier, bitte«, sagte ich zu dem Drachen und reichte es ihm genau in dem Moment, als Rens Hand zu mir schoss.
Der Drache schnappte sich das Taschentuch und drückte es auf sein feuchtes Gesicht. Ren seufzte und ließ die Hand sinken, während es mich noch ein paar Sekunden kostete, bis ich erkannte, dass es sich bei Jınsèlóngs bebendem Schluchzen in Wirklichkeit um schallendes Gelächter handelte.
Als er sich die Tränen aus dem lächelnden Gesicht wischte, verschränkte ich die Arme und sagte tadelnd: »Du hast mich reingelegt.«
Er hob einen Finger und drohte damit glücksstrahlend Ren. »Und das ist der Grund, warum Frauen nie bei Tauschgeschäften anwesend sein sollten. Euer magisches Tuch ist mein!«, zwitscherte er frohlockend.
Ren lächelte schadenfroh. »Du hast nicht die geringste Ahnung, was du in deinen Händen hältst. Das Tuch ist verflucht. Ich bin erleichtert, dass du es hast. Der Fluch kann nur weitergegeben werden, wenn die andere Person das Tuch freiwillig an sich nimmt, und du bist glatt darauf reingefallen.«
»Du bluffst«, sagte der Drache lachend und blickte zu Kishan.
Kishan schüttelte den Kopf, als täte es ihm leid. »Das hättest du wohl gerne, Drache«, sagte er. »Es ist ein schrecklicher Fluch, der Männer bis hin zum Tode schwächt, aber vielleicht beeinflusst er dich nicht auf dieselbe Weise wie uns.«
»Was … meinst du damit?«, fragte der Drache.
»Er bringt dich dazu, dich zu verlieben. In sie.« Ren zeigte mit dem Kopf auf mich, während mein Gesicht vor Schreck erstarrte.
Der von Natur aus argwöhnische Drache verengte die Augen zu Schlitzen und sah mich an, als wollte er in meiner Miene nach der Wahrheit suchen.
»Sie hat bereits versucht, dich um den kleinen Finger zu wickeln, nicht wahr?«, bohrte Ren nach.
Der Drache stammelte: »Äh, nein. Nicht … direkt.«
Da übernahm Kishan das Wort. »Wollte sie dir denn keine Schuldgefühle einreden? Hat sie nicht versucht, dich zu ändern? Das ist Teil ihrer Taktik. Und bevor du dichs versiehst, bist du verloren. Du bist nicht mehr derselbe Drache wie zuvor.«
»Moment mal!«, drohte ich ihnen.
»Siehst du?«, unterbrach mich Ren. »Sie will ihr wahres Ich nicht zeigen. Glaub mir. Wenn du das Tuch behältst, bist du schon bald in sie vernarrt. Sie wird dich dazu bringen, dass du alles aufgibst, was dir lieb und teuer ist.«
»Das würde sie nicht.«
Ren stieß Kishan den Ellbogen in die Seite. »Wahrscheinlich hat sie ihn längst an der Angel. Siehst du? Er windet sich schon unter ihrem Blick. Er hat schlechte Entscheidungen getroffen, seit er mit ihr zurück ins Zimmer gekommen ist. Er hätte nicht mit ihr allein bleiben dürfen.«
»Ja, du hast recht«, entgegnete Kishan. »Der klassische Fehler. Jeder hätte ihn begehen können, selbst ein Drache.« Er seufzte. »Nun, uns hat sie längst all unserer Kräfte beraubt, weshalb es ihr wohl gelegen kommt, sich auf ihr nächstes Opfer zu stürzen.«
Der Drache schluckte trocken und warf mir einen Blick zu, bevor er zitternd lachte. »Ihr drei hattet mich fast … Aber ich glaube euch kein Wort. Das ist doch alles nur erstunken und erlogen.«
»Wirklich?« Kishan lehnte sich vor. »Ich schwöre dir, ich habe noch nie jemanden so abgöttisch geliebt wie sie. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen und sie an meiner Seite zu wissen. Ich würde jeden töten, der sie mir entreißen wollte.«
Ich schnaubte, als ich Kishans offensichtliche Stichelei gegen Ren vernahm. Sehr subtil, Kishan. Wirklich sehr subtil.
Kishan hielt inne, um meine Miene zu lesen, aber nur einen kurzen Moment. »Allerdings würde ich sie ziehen lassen, sollte ich wahrhaft glauben, dass er derjenige ist, den sie wirklich will.«
Seine Worte wischten mir das Lächeln aus dem Gesicht. Meinte er das ernst? Ich verknotete die Finger und rang die Hände. Kishan wandte sich zur mir um und zwinkerte. Ich hätte fast zurückgelächelt, da biss ich mir auf die Unterlippe. Natürlich übertrieb Kishan wegen des Drachen maßlos, redete ich mir gut zu. Doch seine goldenen Augen suchten meinen Blick, und ich wusste, dass er nicht übertrieben hatte. Er liebte mich wirklich so sehr und würde mich tatsächlich ziehen lassen.
Der Drache begann zu schwitzen, als er die Wahrhaftigkeit in Kishans Worten erkannte.
Ren saß nach vorne gebeugt da und rieb die Hände in langsamen Kreisen aneinander, während er Kishan lauschte. Er warf seinem Bruder einen raschen Blick zu, dann lehnte er sich zurück und durchbohrte mich mit seinen Augen. Er lächelte und redete leise, so sanft, es hatte den Anschein, er würde allein zu mir sprechen. Alle, ich eingeschlossen, hingen gebannt an seinen Lippen.
»Ich denke nicht, dass ich so nobel sein könnte. Aber du musst verstehen, ich liebe sie seit dem Moment, als ich sie zum ersten Mal erblickte. Ihretwegen bin ich fast zu Tode gefoltert worden. Ich würde bis zum anderen Ende der Welt fahren, nur um sie lächeln zu sehen, zu wissen, dass sie glücklich ist. Sobald sie dein ist, Drache, und die Fäden ihres Tuchs um dein Herz geknüpft hat, werde ich wahrscheinlich verkümmern und sterben, denn ich bin mit ihr verwachsen wie eine Kletterpflanze, die einen Baumstamm umrankt und dort Halt sucht. Sie ist auf ewig mit mir verbunden. Sie ist mein Zuhause. Sie ist mein Lebenssinn. Ihr Herz für mich zu gewinnen und sie zu lieben, ist mein einziges Ziel.«
Mein Atem stockte, als seine Worte verhallten. Im Saal wurde es still und feierlich wie in einer Kirche. Es kam mir vor, als hätte er ein Gelöbnis abgelegt. Er konnte die Augen nicht von mir lösen, und auch ich konnte den Blick nicht abwenden. Mit absoluter Gewissheit wusste ich, dass er jedes einzelne Wort genau so meinte, wie er es gesagt hatte. Hätte es etwas gegeben, das er ausgelassen hatte, so war es höchstens, dass das Objekt seiner Begierde furchtbare Angst hatte, es nicht zu überleben, falls er sie noch einmal verlassen würde.
Während ich dasaß und in Rens Augen starrte, hatte ich eine Erleuchtung. Der grüne Drache hatte mich gezwungen, mein Herz für Ren zu öffnen, ihm die Tiefe meiner Gefühle einzugestehen, und in diesem Moment erkannte ich mit einem Mal, dass ich der selbstsüchtigste Mensch auf Erden war. Ich war ein Feigling. Ein Angsthase. Ich war wieder meinem alten Lebensprinzip erlegen, hatte mich auf Plan B für emotionale Traumata verlassen. Kishan an mich zu binden, bedeutete, kein Risiko eingehen zu müssen. Er war mein Schutzschild gegen meine Liebe zu Ren.
Ich liebte Kishan, und ich war überzeugt, dass ich mit ihm glücklich sein könnte, aber Rens Liebe war ein alles verzehrendes Feuer, während Kishans eher einem … kleinen Heizofen glich: Gemütlich, beständig, zuverlässig. Beide hielten mich warm, doch nur einer von ihnen hatte die Macht mich zu verbrennen, in Schutt und Asche zu legen. Würde Kishan mich verlassen, würde ich weinen und wäre verletzt, doch ich könnte weiterleben. Ren zu lieben, war wie eine tickende Bombe zu lieben. Wenn er hochging, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder geschah, würde er alles in einem Umkreis von zehn Meilen zerstören. Und natürlich stand ich dann mitten im Zentrum der Zerstörung. Granatsplitter hatten mein Herz zerfetzt. Zweimal. Kishan hatte versucht, die Teile aufzusammeln und sie mit bloßem Willen zusammenzufügen, aber da gab es Löcher. Stücke fehlten.
Oh, mein Herz versuchte, mich zu täuschen. Es schlug fester, gesalbt von Rens Worten, seinen Versprechungen, doch letzten Endes spielte es keine Rolle. Etwas oder jemand würde mir Ren entreißen, oder er würde sich wieder edelmütig opfern, und ich wäre genau dort, wo ich mich jetzt befand, nur dass mich Kishan dann längst aufgegeben haben würde und ich mutterseelenallein dastünde. Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich musste mich zwischen der feurigen Liebe Rens entscheiden, nach der ich mich derart verzweifelt sehnte, dass ich manchmal das Atmen vergaß, und dem gleichmäßigen Glühen, dem wunderbaren Trost und der unendlichen Güte, die Kishan mir bot.
Nach einem langen Moment der fast greifbaren Stille sog Ren scharf die Luft ein. Seine Brust hob sich, als hätte er vergessen, wie man atmete. Ich antwortete auf dieselbe Art, und ganz allmählich schob sich meine Umgebung in mein Bewusstsein zurück. Ich drängte meine Gedanken beiseite und versuchte mich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor uns lag, während Ren seine Aufmerksamkeit wieder Jınsèlóng zuwandte.
»Zweifelst du an der Aufrichtigkeit unserer Worte, Drache?«
Jınsèlóngs Hals hatte sich purpurn verfärbt, als würde allein die Vorstellung, sich in mich verlieben zu müssen, ihn zu ersticken drohen. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Der Drache wandte sich mir zu und hielt mir das Tuch hin. »Nimm es zurück! Ich werde meinen Schatz nicht deinetwegen verlieren du, du … Sukkubus!«
Ren hob die Hand. »Na, na, Jınsèlóng. Hältst du uns etwa für blutige Anfänger? Wir wollen es nicht zurück. Du hast es dir redlich verdient, und mit ihm das Mädchen.«
»Nehmt es! Bitte! Ich gebe euch Juwelen und noch mehr Gold.«
Ren rieb sich das Kinn und wog das Angebot ab. »Nein. Das reicht nicht. Es ist eine echte Bürde, an sie gekettet zu sein. Du hast nur einen winzigen Teil davon zu spüren bekommen. Glaub mir … Das Tuch zurückzugeben, wird dich weit mehr kosten.«
»Alles. Ihr könnt alles haben.« Er beugte sich vor und flüsterte laut: »Sie will mich dazu bringen, dass ich all meine Kostbarkeiten an … Menschen verschenke. Sie will«, er wedelte mit den Händen in der Luft, »dass ich einer Fee gleich Münzen unter Kopfkissen stecke. Das ist kein Leben für einen Drachen! Nein! Das kann ich nicht zulassen! Ihr müsst es zurücknehmen. Ich flehe euch an!«, schluchzte der Drache.
Ich spielte bei ihrem Spiel mit und lenkte den Drachen ab, indem ich ihm bedeutungsvolle Blicke zuwarf. Er legte das Tuch behutsam auf die Armlehne seines Sessels und rückte so weit wie möglich davon weg. Ich flüsterte dem Tuch zu, gelegentlich die Gestalt zu ändern, herzförmige Kissen zu fertigen oder mit Kreuzstichen versehene Taschentücher, auf denen »Ich ♥ Drachen« stand, oder Kopfkissen, auf denen entlang des Randes »Kelsey + Jınsèlóng« gestickt war. Der Drache quietschte jedes Mal auf und schüttelte sich angewidert.
Anschließend machten die Verhandlungen rasch Fortschritte. Ren bekam alles zurück, was wir mitgebracht hatten, dazu eine sichere Überfahrt zur Burg des weißen Drachen, einige sehr interessante Informationen über die Siebte Pagode und ihren Wächter und schließlich das Versprechen des Drachen, die nächsten fünfhundert Jahre alle Arten von Schiffen und Flugzeugen in Ruhe zu lassen. Schließlich schenkte er uns noch allerlei weitere Kostbarkeiten, einschließlich des lebensgroßen Jadetigers. Der Drache versprach sogar, alles sicher und wohlbehalten zu liefern. Er klatschte in die Hände und erklärte, dass wir die Kostbarkeiten bei unserer Rückkehr auf unserem Schiff vorfinden würden.
Nun da das Feilschen vorüber war, stand Jınsèlóng abrupt auf und verkündete, es sei höchste Zeit für uns zu gehen. Er würde uns zum Schloss des weißen Drachen bringen, das ebenfalls unter Wasser lag, uns ihm vorstellen und dann verschwinden. Während Kishan und ich aus dem Saal eilen wollten, bat uns Ren, ohne ihn vorauszugehen. Unwillkürlich griff Kishan nach meiner Hand. Ich genoss seine Wärme und schmiegte mich an ihn.
Als Ren wieder auftauchte, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht, und ich bemerkte, dass er sich etwas in die Tasche steckte, während der Drache auf ihn einredete.
Jınsèlóng spazierte neben ihm her und flüsterte verschwörerisch: »Natürlich, natürlich«, klopfte Ren auf die Schulter, als wäre er schrecklich erleichtert, und fügte hinzu: »Und dir wünsche ich ebenfalls alles Glück der Welt.« Dann trieb er uns zur Tür.
Rens Lächeln war wie weggewischt, als er bemerkte, dass ich Kishans Hand hielt. Er knurrte leise, doch ich drehte den Kopf und vermied jeglichen Augenkontakt. Als Jınsèlóng an uns vorbeihuschte, konnte ich nicht widerstehen und wedelte anzüglich mit den Fingern.
Er quietschte, machte einen Satz zur Seite und sagte: »Wenn ich mich in meine wahre Form zurückverwandle, bleibt euch nur ein kurzer Moment, bevor ihr den Druck des Ozeans auf euch spürt. Holt tief Atem, schwimmt zu mir und haltet euch an einem meiner Stacheln fest, dann werdet ihr wieder problemlos atmen können und der Druck wird verschwinden. Und versucht, nicht abzurutschen, das wäre sehr … bedauerlich.«
Er lief ein paar Schritte und tauchte dann durch die unsichtbare Schranke seiner Haustür, der Palast wurde von einem leichten Beben erfasst, als seine Drachengestalt durch die menschliche Haut barst. Sein langer Schwanz endete in einer Flosse, und obwohl er Klauen besaß, waren die Zwischenräume Schwimmhäute. Sein geschmeidiger goldener Körper funkelte im dunklen Wasser und tauchte die Umgebung in ein safrangelbes Licht. Er drehte sich um und schien voll Ungeduld auf uns zu warten.
Kishan drückte meine Hand, tauchte durch die Barriere und suchte sich einen Platz zwischen zwei Stacheln auf dem Rücken des Drachen. Ren legte mir eine Hand auf die Schulter, doch ich schüttelte sie ab und schwamm ebenfalls durch die unsichtbare Schranke. Er folgte genau hinter mir und überholte mich dann mit kräftigen Zügen. Augenblicklich spürte ich den Druck des Wassers, der sich anfühlte, als würde ich durch eine Müllpresse gezogen.
Ren, der meine Not bemerkte, hielt inne, drehte dann ab und schwamm zu mir zurück. Auch Kishan wollte mir zu Hilfe eilen, aber ich winkte ihn fort. Ren nahm meine Hand und zerrte mich rasch mit sich. Mir ging die Luft aus. In letzter Sekunde bat ich das Tuch in Gedanken, sich nach einem der Stachel zu dehnen und mich näher zu ziehen.
Sobald das Göttliche Tuch den Drachen berührte, bäumte sich dieser auf, drehte sich geschwind um und starrte angsterfüllt zu den Fäden. Kishan tätschelte ihm die Seite, zuckte mit den Schultern und grinste. Da erreichten Ren und ich endlich den sicheren Rücken des Drachen. Ich setzte mich hinter Kishan, während sich Ren hinter mir auf die Schuppen zog und mir die Arme fest um die Taille schlang. Der Druck ließ nach, und eine Blase stieg auf und bedeckte mein Gesicht, sodass ich wieder atmen konnte.
Das Tuch band meinen Körper an Jınsèlóngs Stacheln fest, und nachdem der goldene Drache einen letzten Blick auf uns und insbesondere das Tuch geworfen hatte, begann er, sich durchs Wasser zu schlängeln. Hin und wieder drehte er den Kopf zu uns um und schnellte dann hastig nach vorne wie ein sich windender Wurm, der von einem hungrigen Fisch gejagt wurde.