PROLOG

Blut im Wasser

Hinter dem dicken Glas seines Penthouse-Büros in Mumbai versuchte der Magier Lokesh mit aller Gewalt, die unermessliche Wut zu bezähmen, die in seinen Adern brannte. Nichts im Lager der Baiga war nach Plan verlaufen. Gewiss, er hatte den weißen Tigerprinzen Dhiren gefangen und dem Mädchen ein entscheidendes Stück des Damon-Amuletts entrissen, doch er hatte nicht zu Ende führen dürfen, was er begonnen hatte.

Er atmete tief durch, um seinen Zorn zu zügeln, presste die Fingerspitzen aneinander und klopfte sich damit bedächtig an die Unterlippe, während er den Kampf vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ. Sie verfügen über besondere Waffen. Meine Handlanger haben herausgefunden, dass die Waffen auf irgendeine Art mit der Göttin Durga zusammenhängen. Offensichtlich war eine Form von Magie mit im Spiel, und zwar nicht die schwache Alltagsmagie des Stammes der Durga.

Magie war ein Werkzeug, eine Gabe, die allein denen vorbehalten sein sollte, die klug genug waren, sie in all ihrer Größe zu erfassen und zu benutzen. Ein Geschenk des Universums; nur eine Handvoll strebte danach, und noch weniger machten sich Magie zunutze. Lokesh war einer der Auserwählten, und er würde sich ihrer bedienen, um an noch mehr Macht zu gelangen. Manche hielten ihn für böse. Er selbst glaubte nicht an Gut und Böse – nur an Macht und Ohnmacht. Lokesh war fest entschlossen, mächtig zu sein.

Warum Durga? Vielleicht lenkt die Göttin sie auf irgendeine Weise.

Lokesh glaubte nicht an Götter. Der Glaube war eine Krücke, eine praktische Methode, die Massen zu kontrollieren, die sich in stumpfsinnige Sklaven verwandelten und ihren ohnehin schon bescheidenen Verstand nicht einsetzten. Gläubige saßen zu Hause und weinten und beteten, warfen sich zu Boden und flehten um göttlichen Beistand, der nie kommen würde.

Ein intelligenter Mensch nimmt die Sache selbst in die Hand. Mit gerunzelter Stirn entsann sich Lokesh, wie ihm das Mädchen entglitten war. Für sie musste es so gewirkt haben, als hätte er die Flucht ergriffen. Er hatte nach Verstärkung geschickt, doch die Dummköpfe waren mit leeren Händen zurückgekommen. Das Hauptquartier war zerstört. Die Kameras und Videoaufzeichnungen waren verschwunden. Die Baiga, der Tiger und das Mädchen unauffindbar. Es war äußerst … ärgerlich.

Ein Glockenschlag ertönte beim Eintreten seines Assistenten. Lokesh hörte sich an, wie der Mann nervös berichtete, man habe den Peilsender gefunden, den er dem Prinzen implantiert hatte. Der Mann öffnete die zitternde Hand und ließ die zermalmten Überreste auf den Schreibtisch fallen. Wortlos griff Lokesh nach dem zerstörten Chip und warf ihn und den vor Angst bibbernden Assistenten mithilfe der Kraft des Amuletts aus dem Fenster im sechzigsten Stockwerk. Er lauschte dem Kreischen des Assistenten, der eine Etage nach der anderen in die Tiefe stürzte. Kurz bevor der Mann auf die Erde aufgeschlagen wäre, murmelte Lokesh ein paar Worte, die ein Loch im Boden erzeugten, und begrub ihn bei lebendigem Leibe.

Nachdem er auf diese Weise seiner Enttäuschung Ausdruck verliehen hatte, zog er seinen hart erkämpften Preis aus der Tasche. Wind peitschte durch das zerbrochene Fenster, die Sonne stieg höher über die geschäftige Stadt und warf einen Lichtstrahl auf den jüngst erworbenen vierten Teil des Amuletts. Bald schon würde er alle Teile vereinen und endlich in der Lage sein, zu bewerkstelligen, wovon er schon immer geträumt hatte, seit er von der Existenz des Amuletts gehört hatte. Er wusste, dass ihn das vollständige Amulett zu etwas Neuem machen würde … etwas … Größerem. Etwas … Perfektem. Obwohl er es absichtlich hinausgezögert hatte, die Teile zusammenzuführen, und er die Vorfreude beinahe ebenso genossen hatte wie den Sieg, war es an der Zeit.

Der Moment war gekommen.

Ein freudiger Funke schoss durch sein Blut, als er das vierte Teilstück seiner kostbaren Amulettsammlung berührte.

Es passte nicht.

Er drehte das Stück, neigte es und hielt es schräg, doch es wollte sich einfach nicht zu den anderen fügen. Warum? Ich habe es dem Mädchen im Lager der Baiga vom Hals gerissen. Es war das gleiche Stück des Amuletts, das sie in den beiden Visionen getragen hatte.

Ein schwerer schwarzer Schatten des Hasses legte sich über ihn. Zähneknirschend zerquetschte er die ärgerliche Imitation und ließ das Pulver durch seine Faust rieseln, während jede Zelle in seinem Körper förmlich in einem Feuersturm verging. Funken blauen Lichts knallten und knisterten zwischen seinen Fingern.

Wellen der Wut durchfluteten ihn und schlugen gewaltsam gegen das dünne Hindernis seiner Haut. Das Mädchen! Sie hat mich überlistet!

Bei dem Gedanken an Kelsey Hayes pochte Zorn in seinen Schläfen. Sie erinnerte ihn an eine andere Frau, viele Jahrhunderte war es her, dass er sie kannte: Deschen; die Mutter der Tiger. Das war eine Frau gewesen! Voller Feuer war sie, erinnerte er sich – im Gegensatz zu seiner eigenen Ehefrau, die er umgebracht hatte, als sie ihm ein Mädchen gebar, Yesubai. Er hatte einen Sohn gewollt. Einen Erben. Mein Sohn und ich hätten die Welt beherrscht.

Nach der Enttäuschung über die Geburt seiner Tochter hatte er einen neuen Plan ausgeheckt – Rajaram umzubringen und Deschen zur Frau zu nehmen. Ihren Widerstand zu brechen, hätte einen Teil des Vergnügens ausgemacht. Der Kampf wäre köstlich gewesen.

Deschen war nun schon lange tot, und leider hatten ihre Söhne, die Tiger, ihm Kelsey beschert. Mit ihr hatte er eine wahrlich unangenehme Überraschung erlebt. Sehr unangenehm. Langsam verwandelte sich seine rasende Wut in etwas anderes. Sie brodelte siedend in seinem Geist, und Gedanken bildeten sich und zerplatzten wie krebsartige Blasen, bis sich ein dunkles, unerträgliches Verlangen tief in seinem Innern regte.

Kelsey hatte den gleichen flammenden Mut, den Deschen besessen hatte, und es würde ihm ein perverses Vergnügen bereiten, sie Rajarams Söhnen zu entreißen. Auf einmal juckte es ihn in den Fingern, ihre zarte Haut erneut zu berühren. Wie wunderbar es wäre, sein Messer an ihr Fleisch zu halten. Bei dem Gedanken ließ er den Daumen über die scharfe Kante der zerbrochenen Fensterscheibe gleiten. Vielleicht würde er die Tiger sogar am Leben lassen. Ja. Die Prinzen in einen Käfig zu sperren und zusehen zu lassen, wie ich mir das Mädchen unterwerfe, wäre höchst erquicklich. Besonders nach dem Betrug hier.

So lange. Ich warte nun schon so lange.

Doch er musste sich keine Sorgen machen. Noch war die Schlacht nicht geschlagen. Er musste sie nur finden. Sein Team suchte bereits ganz Indien ab, überwachte Durgas Tempel und beobachtete jeden Verkehrsknotenpunkt zu Land, zu Wasser und in der Luft. Er war ein Mann, der nichts unversucht ließ. Er würde wieder zuschlagen. Schließlich war sie bloß ein Mädchen.

Bald, dachte er. Lokesh erschauerte, als er sich vorstellte, sie zu berühren. Beinahe spürte er sie bereits. Wie sie wohl klingen wird, wenn sie schreit? Es überraschte ihn, dass er sich fast mehr darauf freute, das Mädchen zu fangen, als das Amulett in seinen Besitz zu bringen. Das Verlangen, sie zu besitzen, war heftig. Bald wäre das Mädchen sein, und er würde die Stücke des Amuletts zusammenfügen.

Er drehte an einem der Ringe an seinem Finger. Vielleicht hätte er nicht davon ausgehen sollen, dass der Kampf gegen die Tiger einfach wäre. Beim ersten Mal hatten sie so viel Ärger gemacht. Doch sie waren nicht die einzigen Raubtiere in Indien. Auch er war ein Wesen, vor dem man sich zu fürchten hatte. Er war ein Hai, der leise, schnell und tödlich durchs Wasser schnitt.

Lokesh lächelte. Der Hai war ein Geschöpf, dem Bewunderung gebührte, das ultimative Raubtier, der Herr des Ozeans. In der Welt der Tiere wird man zum Raubtier geboren. Ein Mensch hingegen entscheidet sich, ein Raubtier zu sein und all diejenigen in Stücke zu reißen, die ihm im Weg stehen, das Genick derer zu brechen, die sich ihm widersetzen, und seine Feinde zu verschlingen. Ein Mensch entscheidet sich, das Raubtier zu sein, oder aber begnügt sich mit der Rolle des Opfers.

Vor langer Zeit hatte Lokesh sich entschieden, ganz an der Spitze der Nahrungskette zu stehen. Jetzt gab es da nur noch eine Familie und ein junges Mädchen, die ihm im Weg waren. Und kein Mädchen hat auch nur die geringste Chance, wenn ich erst einmal Blut im Wasser gewittert habe.

Nachdenklich strich sich Lokesh über den Bart und lächelte bei der Vorstellung, wie er immer kleinere Kreise um sie zog. Das Wasser war trübe vom Blut. Sie würden nicht merken, dass er sich ihnen unaufhaltsam näherte.