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Die Beachparty

Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte die Deschen längst die Anker gelichtet. Am Nachmittag war ich mit Wes, Kishan und einem widerwilligen Ren im Multimediaraum für ein Hai-Training verabredet. Wir sahen uns DVDs über Haie in ihrer natürlichen Umgebung an. Wes hielt nichts davon, uns Videos mit Haiangriffen vorzuspielen. Seiner Ansicht würde das nur unnötig Panik hervorrufen.

»Je weniger Angst man hat, desto größer sind die Überlebenschancen«, erklärte Wes. »Als Erstes solltet ihr über Haie lernen, wie man vermeidet, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Haie halten sich gerne bei Sandbänken, in der Nähe abschüssiger Steilwände und überall dort auf, wo sich Fische tummeln. Wenn ihr an einer Stelle viele Vögel seht, bedeutet das Mittagessen, und Mittagessen bedeutet Haie. Taucht nicht während ihrer Fütterungszeiten – das wäre bei Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und nachts. Aber wenn es irgendwo einen Festschmaus gibt, fressen Haie zu jeder Tageszeit. Tragt keine schimmernde, leuchtende Kleidung. Gedeckte Farben sind besser, wie bei euren Neoprenanzügen. Eine Taschenlampe könnte im Wasser mit glitzernden Fischschuppen verwechselt werden.«

Ren hob den Kopf und sah mich an. »Im nächsten Hafen besorgen wir dir einen schwarzen Badeanzug.«

»Wenn ich mich nicht täusche, warst du es, der darauf bestanden hat, dass ich etwas Farbenfrohes aussuche.«

»Außerdem wäre es mir sowieso lieber, du würdest deinen neuen nicht tragen. Er ist zu … verlockend.«

Ich funkelte ihn durch den Raum hinweg an. »Du hast kein Mitspracherecht mehr, was mein Leben anbelangt, klar? Wenn ich jemanden anlocken möchte, dann ist das meine Sache.«

Rens Stimme nahm einen gefährlichen Ton an. »Schön. Dann lock doch jeden verdammten Hai im Ozean an.«

»Dein Leben wäre viel unkomplizierter, wenn ein riesiger Hai mich schnappen würde. Das würde doch all deine Probleme mit einem Schlag aus der Welt schaffen, nicht wahr?«

Kishan schritt ein. »Niemand will, dass du von einem riesigen Hai gefressen wirst, Kells. Und Ren schon gar nicht.«

Ren und ich starrten einander wutentbrannt an, da brach Wes in schallendes Gelächter aus. »Wow! Wenn ihr euch nicht abkühlt, werden sämtliche Bolzen schmelzen, die dieses Schiff hier zusammenhalten.«

»Tut mir leid, Wes, aber er hat angefangen«, sagte ich.

»Und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als damit aufzuhören.«

»Das möchte ich mal sehen! Immerhin kenne ich niemanden, der so störrisch …«

Ren lächelte kalt und konterte: »Unnachgiebig.«

»Trotzig!«

»Unvernünftig!«

»Starrköpfig, dickköpfig, tigerköpfig …«

»Tigerköpfig?«, fragte Wes verwundert.

Kishan zuckte nur mit den Schultern.

Nun da ich einmal angefangen hatte, war ich nicht mehr zu bremsen. »Gefühllos, unsensibel, eiskalt und … herzlos ist wie du!«

»Na schön!«, schrie Ren. »Zieh doch an, was du willst. Schwimm von mir aus nackt! Jeder Hai, der dich frisst, kriegt sowieso Bauchschmerzen und spuckt dich gleich wieder aus.«

»Ha! Da hättet ihr aber viel gemeinsam, nicht wahr?«

Wes warf die Hände in die Luft. »Na, na. Lasst uns eine Pause machen und uns abreagieren. Nilima hat uns Smoothies an der Bar zubereitet. Warum holt ihr zwei euch nicht welche, klärt die Angelegenheit und kommt in fünf Minuten zurück?«

Ich stürmte zur Saftbar, und Ren kam mir schweigend hinterhergetrottet. Als ich das Tablett erreichte, dachte ich einen Moment lang ernsthaft darüber nach, ihm das hohe Glas mit Saft ins Gesicht zu schütten. Ich atmete ein paarmal tief, während Ren die ganze Zeit über meinen Rücken anstarrte. Die Wärme seiner Anwesenheit sickerte durch meine Haut, kitzelte meine Nerven. Er streckte die Hand nach seinem Getränk aus, wobei er mich absichtlich am Arm berührte.

»Warum musst du uns das Leben so schwer machen, Kelsey?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen.«

»Glaub es, oder glaub es nicht, aber ich versuche wirklich, uns die Sache leichter zu machen.«

»Warum bist du überhaupt hier? Ich dachte, du willst mir aus dem Weg gehen.«

»Das stimmt. Aber ich muss alles über Haie lernen.«

Ich nippte an meinem Saft und sagte dann: »Weiß ein Raubtier nicht schon alles über andere Raubtiere und wie sie ticken? Wenn ich heute besonders gut aufpasse, werde ich vielleicht sogar endlich dich entschlüsseln.«

»Ich bin ein offenes Buch. Ein Tiger braucht drei Dinge, um glücklich zu sein. Viel Essen, Schlaf und … eigentlich … nein. Im Grunde sind es nur diese zwei Dinge.«

Ich schnaubte verächtlich. »Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass Kishan sich mit diesen beiden Dingen nicht zufriedengäbe.«

»Das ist wahr«, erwiderte Ren angespannt. »Wahrscheinlich würde er dich auf seiner Liste nennen.«

»Und warum sollte er mich brauchen? Eine unvernünftige, unattraktive Frau?«

»Ich habe nie behauptet, du wärst unattraktiv. Ich habe nur gesagt, dass ich mir eine Hübschere suchen wollte. Ich habe nicht gesagt, dass ich eine Hübschere finden würde, nur dass ich mich umschauen würde.«

»Und was hält dich davon ab? Geh, such dir eine andere und lass mich in Frieden.«

»Genau das ist mein Plan. Und jetzt hör auf, mich im Unterricht zu provozieren. Ich möchte etwas lernen.«

Ich tobte vor Wut, als er mir den Rücken zukehrte und einfach wegging. Zurück im Multimedia-Raum nippte Ren so ruhig an seinem Smoothie, als hätten wir uns nie gestritten. Kishan winkte mich zu sich. Ich reichte ihm ein Glas Saft, während ich Wes anstarrte, der mit dem Unterricht begonnen hatte. Doch all meine Gedanken drehten sich um Ren, legten jedes Wort auf die Goldwaage, das er von sich gegeben hatte. Schließlich riss mich etwas, das Wes sagte, aus meiner Trance.

»Haie können Blut aus einer Meile Entfernung riechen, geht also nie ins Wasser, wenn ihr eine Schnittwunde habt. Planscht nicht herum. Wenn ihr taucht und sich ein Hai nähert, schwimmt zum Meeresboden und versteckt euch. Das schränkt die Seiten ein, von denen er nach euch schnappen kann. Und stellt euch nicht tot, das funktioniert bei Haien nicht. Glaubt mir, das funktioniert bei keinem größeren Raubtier. Sie fressen euch trotzdem – Bären, Wölfe, Tiger. Ob ihr tot seid oder am Leben, spielt für sie keine Rolle.«

»Genau«, murmelte ich. »Sie fressen jedes hilflose Mädchen, das ihnen über den Weg läuft, und spucken es dann wieder aus.«

Verwirrt warf mir Wes einen Blick zu. »Das stimmt.«

Ren ignorierte mich, Kishan seufzte.

»Okay«, fuhr Wes fort. »Angenommen, ihr werdet wirklich von einem Hai angegriffen. Stecht ihm in die Kiemen oder Augen. Schlagt ihn. Aggressiv. Benutzt jede Waffe, die euch zur Verfügung steht, und drescht auf ihn ein, wie eine Oma Teppiche ausklopft. Versucht, senkrecht zu bleiben, weil es dem Hai dann schwerer fällt, euch zu beißen. Wenn ihr dennoch gebissen wurdet, stillt die Blutung, selbst wenn ihr unter Wasser seid. Wartet nicht, bis ihr an Land kommt.«

Er reichte uns einen kleinen Apparat und sagte: »Das ist ein Shark Pod, ein Hai-Abwehr-Gerät, das unter Tauchern und Surfern weitverbreitet ist.«

»Wie funktioniert es?«, fragte ich.

»Haie haben sackartige Gebilde an der Schnauze, die mit galleartiger Flüssigkeit gefüllt sind, und die als Sensoren dienen, wenn sie auf der Suche nach einem kleinen Snack sind. Der Shark Pod sendet elektronische Signale aus, die sie an der Nase kitzeln. Das gefällt den Haien nicht besonders, und sie verschwinden. Befestigt das eine Teil an eurem Fußknöchel und das andere an eure Tarierweste. Die Wirkung dieses Geräts ist zwar umstritten, aber ich trage immer eines bei mir und bin noch nie angegriffen worden.«

»Okay. Was noch?«

»Das ist im Großen und Ganzen alles, was ihr tun könnt. Wenn es ein kleiner Hai ist, kommt ihr vielleicht mit einem blauen Auge davon, bei einem großen Hai stehen eure Chancen wohl genauso gut, als wolltet ihr einem T-Rex entkommen. Sie sind schnell und stark. Dass Taucher und Surfer manchmal überleben, liegt allein daran, dass sie nicht gut schmecken. Menschen sind zu knochig. Haie bevorzugen fette Robben.

Eines müsst ihr wissen: Wenn Haie jagen, schlagen sie schnell und fest zu, stürzen sich auf euch, noch bevor ihr wisst, dass sie überhaupt da sind. Sie kreisen unter euch, beschleunigen und schießen wie ein Torpedo in die Höhe. Mit einem einzigen Schlag setzen sie euch außer Gefecht, normalerweise indem sie mit solcher Wucht in euch krachen, dass eure Knochen zersplittern. Der Weiße Hai kann bis zu fünfzig Kilometer die Stunde schwimmen, aber normalerweise greifen sie Menschen nicht auf diese Art an. Das tun sie eher bei der Seehundjagd.

Wenn Haie Menschen angreifen, ist das für sie meistens nur eine Art Kostprobe. Schmeckt man gut, geben sie sich mehr Mühe. Manchmal lassen sie einen auch in Ruhe. Es sind sonderbare Geschöpfe. Ihre Zähne kann man mit den Schnurrhaaren von Katzen vergleichen. Auf diese Art erfahren sie die Welt.

Ein Surfer hat mir einmal erzählt, dass er auf seinem Surfbrett saß, als plötzlich ein sechs Meter langer Weißer Hai aus dem Wasser schoss und zärtlich wie eine Maus an seinem Brett geknabbert hat. Es hat ihm offenbar nicht geschmeckt, und das Tier ist im nächsten Moment wie ein U-Boot wieder abgetaucht.«

Als unsere Stunde vorbei war, lud mich Wes ein, mit ihm und den beiden Brüdern am Nachmittag Speerfischen zu gehen, aber ich lehnte dankend ab. Er versprach, mir frische Meeresfrüchte mitzubringen. Ich traf mich am Nachmittag mit Mr. Kadam, und wir machten unsere eigenen Unterwasserschießübungen. Er wollte, dass ich meinen Blitzschlag im Wasser ausprobierte. Wir begannen im Unterdeck an der offenen Rampe, wo Ren und Kishan mehrere Bojen aufgestellt hatten. Die Bojen waren mit genügend Gewichten beladen, dass sie knapp unter der Wasseroberfläche trieben. Ich zielte auf die, die uns am nächsten war, und verfehlte sie. Als ich es nochmals probierte, explodierte sie wie eine Seemine.

»Gut, Miss Kelsey«, lobte Mr. Kadam. »Sie sollten Ihre Zielfertigkeit über und unter Wasser trainieren. Mit der Brechung des Wassers wird Ihre Schusskraft anders sein als an Land.«

Nachdem ich alle Bojen in die Luft gejagt hatte, gingen wir zum Pool, wo weitere Unterwasserzielscheiben auf mich warteten. Ich hüpfte mit Tauchermaske und Schnorchel hinein und feuerte meinen Blitzschlag erst ein paarmal über Wasser ab und schließlich unter Wasser. Jedes Mal, wenn ich eine Zielscheibe in die Luft jagte, lobte mich Mr. Kadam, den Daumen nach oben. Wir verbrachten den Rest des Nachmittags im Pool und übten schließlich im Ozean, um den Blitzschlag auch im Salzwasser auszuprobieren.

»Ich bin überzeugt, dass Ihre Fähigkeit mehr ein Feuer, denn ein Blitz ist«, entschied Mr. Kadam, als wir mit unserer Trainingseinheit fertig waren. »Es erinnert mich an einen Schneidbrenner. Hatten Sie das Gefühl, dass Sie mehr Energie aufbringen mussten als an Land?«

»Ja. Vor allem im Meer.«

»Das dachte ich mir. Im Ozean herrscht eine niedrigere Kerntemperatur als im Pool. Es kostet mehr Kraft, eine heiße Flamme im Meer aufrechtzuhalten als an Land oder im Swimmingpool. Das war sehr aufschlussreich, Miss Kelsey. Ich bin überzeugt, Sie sind auf jegliche Unterwassersituation bestens vorbereitet. Und jetzt werde ich, wie die Jugend von heute so schön sagt, die Fliege machen.«

Während Mr. Kadam verschwand, lehnte ich mich seufzend gegen die Holzbank. Bestens vorbereitet? Da kann ich ja nur lachen.

Das Abendessen bestand aus einem Barsch, den Wes und Kishan gefangen hatten. Er sah sehr lecker aus, doch ich brachte keinen Bissen hinunter. Kishan hielt mir seine Gabel hin und drängte mich, ihn zumindest zu probieren, aber ich schob seinen Arm weg. Ich konnte nun einmal kein Fleisch essen, wenn ich wusste, wie das Tier zu Tode gekommen war. Stattdessen aß ich mich an Salat und Brot satt. Ren war nicht erschienen.

Um das Thema zu wechseln, bemerkte Wes, dass wir in zwei Tagen in Trivandrum anlegen würden. »Jedes Jahr findet dort eine riesige Beachparty statt«, erklärte er. »Alle Surfer, Taucher und Einwohner gehen hin. Es ist einfach klasse. Es gibt Musik, Essen, Tanz, Mädchen in Bikinis … Warum begleitest du mich eigentlich nicht? Ihr solltet alle mitkommen. Jeder ist eingeladen.«

Mr. Kadam kicherte. »Ich denke, ich werde lieber auf der Jacht die Stellung halten, aber ihr solltet gehen und euch amüsieren.«

»Mädchen in Bikinis? Kein Wunder, dass du unbedingt hingehen willst«, neckte ich Wes.

Wes warf mir ein verschmitztes Lächeln zu, und Grübchen bohrten sich in seine Wangen. »Ah, hätte ich nur ein hübsches, süßes Mädchen am Arm, dann würde ich die anderen Mädels überhaupt nicht bemerken.«

»Da bin ich sicher«, kicherte ich.

»Wie sieht’s aus, Kelsey? Willst du mit mir zu der Party gehen?«

»Ich denke darüber nach und gebe dir morgen Bescheid.«

Als ich aufstand, packte Wes meine Hand und küsste sie, während Kishan leise knurrte. »Lass einen Kerl nicht zu lange warten. Sonst wird er übellauniger als ein Jagdhund, der ein Eichhörnchen auf einen Baum gejagt hat.«

»Das behalte ich auf jeden Fall im Hinterkopf. Aber jetzt werde ich noch einen Spaziergang an Deck machen. Gute Nacht, Wes.«

»Gute Nacht.«

Hastig erhob sich Kishan und nahm meine Hand. »Ich begleite dich.«

Händchenhaltend spazierten wir zur anderen Seite des Schiffs und blieben an der Reling stehen. Ich zeigte auf ein paar Delfine, die in der Nähe der Jacht schwammen, als wollten sie sich einen Wettstreit mit uns liefern. Wir sahen ihnen zu, bis sie davonschwammen.

Kishan lehnte sich auf der Brüstung vor, blickte mich an, nahm dann einen tiefen Atemzug und starrte wieder aufs Wasser. »Ziehst du wirklich in Erwägung, mit Wes auf diese Party zu gehen? Denn ich halte das für keine so gute Idee.«

»Warum in aller Welt denn nicht?«

»Ich traue ihm nicht über den Weg.«

Ich lachte. »Bist du nicht gerade mit ihm Speerfischen gewesen? Er hätte dich zu Schaschlik verarbeiten können, aber das hat er nicht getan, demnach vertraust du ihm also doch.«

»Ich vertraue ihm, was das Tauchen anbelangt, allerdings nicht bei dir. Er ist zu … schlüpfrig. Zu flapsig. Verteilt zu viele Komplimente. Solche Männer nutzen verletzliche Frauen schamlos aus. Er ist nichts für dich.«

»Und woher willst du bitte schön wissen, welche Art Mann er ist, und was noch wichtiger ist: Wie kommst du darauf, dass ich verletzlich bin?«

»Kelsey. Ren hat gerade erst mit dir Schluss gemacht, und du leidest immer noch unter der Trennung. Du bist verletzlich, ob du es nun zugeben willst oder nicht.«

»Nun, verletzlich hin oder her, ich treffe trotzdem meine eigenen Entscheidungen. Ihr Tiger könnt nicht jeden Teil meines Lebens bestimmen. Wenn ich mit Wes auf die Party gehen will, dann werde ich das auch tun.«

»Das weiß ich. Ich … ich dachte nur nicht, dass du schon bereit bist, etwas Neues anzufangen.«

»Anscheinend ist etwas Neues genau das, worauf ich Lust habe.«

»Das bedeutet aber nicht, dass du für etwas Neues bereit bist, Kelsey.«

Ich seufzte. »Durga sagte, der Sinn des Lebens bestehe darin, über den Fluss zu gelangen. Sie will nicht, dass ich im Schlamm stecken bleibe. Also sollte ich wohl lieber weiterspringen auf den nächsten Stein.«

Kishan schwieg eine Weile, bevor er fragte: »Bist du sicher, dass du für diesen Sprung bereit bist?«

»So bereit, wie ich es je sein werde.«

Er nahm meine Hand. »Dann … solltest du in Betracht ziehen, lieber mit mir zu gehen.«

»Mit dir?«

Ein heilloses Durcheinander an Gedanken schoss mir im Kopf umher. Mit Wes könnte ich Spaß haben und wüsste, dass er nichts von mir erwartet. Mit Kishan zu gehen, ist etwas ganz anderes. Mit ihm wäre es ein richtiges Date. Bin ich bereit, diesen Schritt zu machen? Egal, wie sehr Ren oder Durga mich drängen, die Antwort lautet … nein. Na gut, dann bring es ihm wenigstens sanft bei.

»Mit dir kann ich nicht gehen«, sagte ich. Nicht sehr sanft, Kells.

»Warum nicht?«

Warum nicht? »Weil … Wes mich zuerst gefragt hat. Es wäre unhöflich, deine Einladung anzunehmen, nachdem er mich gefragt hat.«

Kishan dachte über meine Antwort nach und nickte dann verständnisvoll. Innerlich seufzte ich vor Erleichterung.

»Ich werde dennoch dort sein«, sagte er. »Ich werde euch nicht stören, aber dich im Auge behalten.«

Am nächsten Morgen hörte ich Schritte im angrenzenden Schlafzimmer. Da ich glaubte, es müsste Ren sein, klopfte ich rasch und riss dann die Tür auf, nur um Kishan vorzufinden, der eine Jeans anhatte und vor der Kommode stand und nach einem T-Shirt suchte.

»Kishan?«

»Guten Morgen, Kells.«

Er drehte sich um und zog sich zum Glück ein T-Shirt über den Kopf, sodass ich aufhören konnte, seine bronzefarbene muskulöse Brust anzustarren.

»Schläfst du jetzt in diesem Zimmer?«, fragte ich.

Kishan zuckte mit den Schultern. »Du brauchst einen Tiger in der Nähe, Kelsey. Bei dir ist alles in Ordnung? Du bist irgendwie rot im Gesicht. Hast du gut geschlafen?«

»Mir geht’s gut, mir war es nur ein bisschen peinlich, dass du hier halb nackt warst.« Und ich die Aussicht genossen habe.

Ich sah mich im Zimmer um. »Ich dachte, Ren wollte nicht, dass du hier schläfst.«

»Er hat seine Meinung geändert.«

»Ja«, sagte ich traurig, »das tut er häufig.«

»Kelsey …«

Ich hob die Hand. »Vergiss es. Ich will die Sache sowieso nicht vertiefen.«

Nachdem wir das Thema gewechselt hatten, verbrachten Kishan und ich den Tag zusammen, ruhten uns aus und vertrieben uns mit Wassersport die Zeit. Schon bald hatte er jeden Kniff beim Jet-Ski heraus, und ich fand es so berauschend wie Motorradfahren – zumindest immer dann, wenn ich ausblenden konnte, dass meine Arme um Kishan geschlungen waren oder sich meine Wange an seinen sonnengewärmten Rücken schmiegte. Nun da es nicht mehr auszuschließen war, dass wir doch eines Tages miteinander ausgehen würden, fühlte sich seine Gegenwart anders an, irgendwie komisch.

Als Durga über die Liebe meines Lebens gesprochen hatte, meinte sie, ich würde den Mann mit einer Hingabe lieben, die ich noch nie zuvor verspürt hatte. Phet hatte gesagt, beide Brüder stellten eine gute Wahl dar, aber ich war so fest entschlossen gewesen, die Beziehung mit Ren wieder aufleben zu lassen und Kishan auf Distanz zu halten, dass es sich falsch anfühlte, etwas anderes auch nur zu denken. Wir hatten Spaß zusammen, und Kishan drängte mich nicht, weshalb ich es dabei beließ.

Als wir im Hafen von Trivandrum anlegten, ging Wes von Bord, versicherte mir jedoch, mich um sechs abzuholen. Den restlichen Nachmittag verbrachte ich mit Mr. Kadam, und gemeinsam untersuchten wir unsere neuen Waffen. Kishan schaute immer mal wieder auf einen Sprung vorbei und verfolgte unsere Fortschritte.

Wir fanden heraus, dass der Dreizack, auch Trishula oder Trishul genannt, äußerst symbolträchtig war. Mr. Kadam zeigte mir ein Bild.

»Sehen Sie hier, Miss Kelsey. Jeder dieser drei Zinken steht für eine Vielzahl von Ideen. Wenn Shiva sie schwingt, spiegeln sie seine drei Rollen wider – Schöpfer, Erhalter und Zerstörer. Sie symbolisieren ebenfalls die drei Shakti, die Urkräfte – Wille, Handlung und Weisheit. Manchmal ist der Dreizack auch das Spiegelbild der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft. Bei Durga soll er den Daseinszustand repräsentieren – Untätigkeit, Tätigkeit und Nichttätigkeit.«

»Was ist der Unterschied zwischen Untätigkeit und Nichttätigkeit?«

»In diesem Zusammenhang bedeutet Untätigkeit, nichts tun, sich ausruhen oder Stagnation.«

»Hm.« Bei dem Gedanken an Durgas Ermunterung, einen Satz nach vorne zu machen, verzog ich das Gesicht.

»Das Wort Tamas bezeichnet den dritten Zacken, der für Nichttätigkeit steht. Tamas bedeutet auch Dunkelheit, Ignoranz oder Sünde. In dieser Hinsicht ist die Nichttätigkeit schlimmer als die Untätigkeit.«

»Vielleicht geht es um den Unterschied zwischen etwas Gutes tun, etwas Schlechtes tun und nichts tun.«

»Diese Beschreibung könnte den Nagel womöglich auf den Kopf treffen. Ein anderes Buch, das ich gelesen habe, verweist darauf, dass die drei Zacken die Arten des menschlichen Schmerzes verkörpern – physisch, seelisch und geistig. Die Trishula soll uns daran erinnern, dass Durga helfen kann, jedes Leiden zu lindern.«

Ich machte mir sorgfältig Notizen, während Mr. Kadam seine Nase zurück ins Buch steckte.

Später am Tag, während ich mich für die Party umzog, dachte ich über die Symbolik des Dreizacks nach. Manche Menschen hielten es für besser, einen Fehler zu begehen, als gar nichts zu tun. Vielleicht versuchte Durga mir nur zu sagen, wenn ich nur irgendetwas täte, werde mein Schmerz nachlassen. Das zumindest war meine Hoffnung.

Die Vorstellung, ohne Ren leben zu müssen, war wie ein Schraubstock, der sich fest um meine Kehle schloss.

Ich sollte Wes am Pier treffen, weshalb ich mich mit meinem Make-up beeilte. Nilima hatte mir mit dem Göttlichen Tuch ein Kleid gezaubert, das sie vor Kurzem in einer Zeitschrift gesehen hatte. Ich hatte mir gerade das Haar geglättet, als sie es mir ins Zimmer brachte. Sie selbst hatte sich bereits in Schale geworfen.

»Kommen Sie auch auf die Party, Nilima?«

Sie richtete sich das Haar. »Oh, ich dachte, ich schaue vielleicht kurz vorbei. Wir sehen uns dann später.«

Nachdem sie aus dem Zimmer gegangen war, hob ich den Kleiderbügel hoch. Das champagnerfarbene und schwarze, ärmellose Kleid war hübsch. An der Empiretaille war es gerafft und hatte ein transparentes Überkleid, das mit wunderschönen schwarzen Perlen bestickt war. Als ich mir die Perlen genauer besah, erkannte ich, dass es überhaupt keine echten Perlen waren, sondern fest gewebte, glänzende Knoten, die wie Perlen aussahen. Ren hatte recht, das Tuch bediente sich Ersatzlösungen. Ich schlüpfte in das Kleid und zog ein Paar schwarzer Sandalen an, die ich in meinem Wandschrank gefunden hatte.

Wes wartete am Pier auf mich. Wes, der lässige Badeshorts und ein aufgeknöpftes weißes Hemd trug, stieß einen anerkennenden Pfiff aus und betonte unentwegt, wie hübsch ich aussah.

»Oh, ich bin overdressed«, murmelte ich verlegen. »Ren und Kishan tragen immer so übertrieben schicke Sachen, und ich habe einfach nicht daran gedacht, dass es hier weniger förmlich zugehen wird. Warte eine Sekunde, ich ziehe mir nur rasch etwas anderes an.« Ich wandte mich um und wollte zum Schiff zurücklaufen.

Wes aber versperrte mir den Weg. »Keine Chance. Ich habe vor, mit dir anzugeben.«

Ich lachte. »Es ist nicht so, als würde ich einen knappen Bikini tragen. Ich bezweifle, dass mich irgendjemand bemerken wird.«

»Es gibt einen großen Unterschied zwischen Top und Flop. Und du bist hundert Prozent Top. Jeder Kerl mit gesundem Menschenverstand wird sehen, dass ich ein Juwel an meinem Arm habe.«

»Du bist ziemlich nett für einen texanischen Cowboy.«

»Und du hast eine nette Bräune für ein Mädchen aus Oregon.«

Wes unterhielt mich mit abstrusen Geschichten über seine Familie, eine unglaublicher als die andere. Lachend spazierten wir in Richtung des pulsierenden Dröhnens der Partymusik.

Der Strand wimmelte von Menschen. Es mussten mindestens tausend Partygäste gekommen sein. Wes zahlte für uns beide den Eintritt, und wir schlängelten uns durch das Gewühl bis zu einem riesigen Lagerfeuer, vor dem die Leute tanzten. Draußen war es jetzt angenehm kühl, da wir uns mitten in der Monsunzeit befanden, und die Hitze des Feuers würde bald willkommen sein, wenn die abendliche Temperatur fiel.

»Willst du zuerst etwas essen?«, rief Wes, der sich bereits zum Rhythmus der Musik bewegte. »Oder zuerst tanzen?«

»Zuerst tanzen.«

Er grinste und zog mich hinter sich her, bis er eine freie Stelle zwischen den wogenden Körpern fand. Dem hämmernden Rhythmus der indischen Live Band konnte man sich nicht entziehen. Niemanden interessierte es, ob man ein guter Tänzer war oder nicht. Jeder bewegte sich einfach glücklich zur Musik, hüpfend, nickend, mit den Armen rudernd oder klatschend. Es war ein Gemeinschaftserlebnis, wie ich es aus Amerika nicht kannte. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich, während sich die Menge wie ein organisch gewachsenes Ganzes wiegte.

Die Musik gab mir fast das Gefühl, eine indische Göttin zu sein, die geschmeidig ihre vielen Arme kreisen ließ, oder eine Zigeunerin in wallenden Röcken und mit klimperndem Schmuck. Ich bewegte mich nicht zur Musik, die Musik bewegte mich, bis ich ein Teil von ihr war. In mir dröhnte und vibrierte es, ich fühlte mich lebendig. Wes amüsierte sich ebenfalls köstlich.

Ich verglich das Erlebnis nicht mit meinem Valentinstanz mit Ren. Nun … zumindest ein kleines bisschen. Ich schlüpfte aus meinen Sandalen und ließ meine Zehen im Sand versinken, da legte mir Wes einen Arm um die Taille und drehte mich wild herum, wirbelte mir mit Schwung alle negativen Gedanken fort.

Nach mehreren Liedern verkündete Wes, er habe Durst und Hunger, weshalb wir zu dem festlich geschmückten, mit Papierlaternen erhellten Büfett gingen, das unter einem Baldachin aufgebaut war. Wir schnappten uns Teller und nahmen das reichhaltige Angebot genau unter die Lupe. Wes versprach, einen großen Bogen um jedes Curry-Gericht zu machen.

Es gab geröstete, in Butter geschwenkte Maiskolben, frische Kokosnuss, in Scheiben geschnittene Südfrüchte, Grillspieße, Idli, was gedämpfte, fein würzige Linsen-Reis-Küchlein mit Chutney waren, mit Käse gefüllte Dosas, die an Crêpe erinnerten, gebratenes Daigi, etwas wie scharfe Chicken Wings, und Dabeli Pao, die wie Miniatur-Hamburger aussahen, allerdings kleine Brötchen mit einer würzigen Kartoffeln-Zwiebel-Füllung waren und mit Tamarinden-Chutney serviert wurden. Sie reichten zwar nicht an Cheeseburger heran, aber sie waren gut.

Wes holte uns hohe Wassergläser mit fruchtigen Getränken, die unglaublich erfrischend waren, und nachdem ich meines rasch geleert hatte, schnappte ich mir ein zweites. Als sich die Live Band verabschiedete, übernahm ein DJ und stachelte die Menge zu noch wilderem Tanzen an. Auf dem Weg zur Tanzfläche kamen wir an einem Stand vorbei, der geröstete Erdnüsse verkaufte, an einem anderen gab es Eis.

»Komm her. Ich will dir etwas zeigen.«

Wes sprach auf Hindu mit dem Verkäufer, und der Mann klappte die Ladentheke hoch, damit wir hineinsehen konnten. Sein kleiner Kühlschrank war mit langen Barren aus vorgeschnittenem Eis gefüllt, das wie Bûche de Noël aussah, kleine Kuchen in Form eines Holzscheits – jeder Barren eine andere Sorte: Südfrüchte, Tutti frutti, Chai, Pistazie, Feige, Mango, Kokosnuss, Ingwer, Safran, Orange, Kardamom, Jasmin und Rose.

»Keine Schokolade?«, fragte ich Wes.

Er lachte, erklärte dem Mann, dass wir später noch einmal zurückkämen, und zog mich auf die Tanzfläche. Während wir uns durch den Pulk an Menschen drängten, sah ich aus dem Augenwinkel Kishan, der etwas abseits stand. Er lächelte mich kurz an, bevor er zum Büfett eilte. Ein wohliges Gefühl durchströmte mich, nun da ich wusste, dass er hier war. Ich konnte mich entspannen. Es war nicht so, als würde Wes mich nervös machen, aber es beruhigte mich, einen meiner Tiger in der Nähe zu haben.

Während des ganzen Abends sah ich Kishan nur noch ein einziges Mal, spürte jedoch häufig seine Blicke auf mir. Nach einer Weile, Wes und ich tanzten wieder am Lagerfeuer, bemerkte ich Ren.

Ich erstarrte und hörte nicht, was Wes mir gerade sagte. Ren war von wunderschönen, lachenden Frauen umgeben. Die meisten waren nur leicht bekleidet und flirteten unverhohlen mit ihm. Er trug eine schwarze Hose und ein meergrünes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen. Aus irgendeinem Grund sah seine nackte Brust viel verlockender aus als all die anderen gebräunten Oberkörper der gut aussehenden Männer um ihn herum. Sein seidig schwarzes Haar fiel ihm über ein Auge, und er schob es sich beim Tanzen aus der Stirn. Insbesondere einem Mädchen schenkte er viel Aufmerksamkeit. Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie errötete. Als daraufhin eine andere junge Frau eine Schnute zog und ihn am Arm berührte, kümmerte er sich um sie und strich mit der Fingerspitze über ihre Wange.

Es gab eine Blondine, eine Brünette, eine Rothaarige. Hochgewachsene Mädchen, zierliche Mädchen, langhaarige, kurzhaarige Mädchen. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden, während sich die Frauen um ihn scharten, um seine Aufmerksamkeit heischten und ihre Konkurrentinnen aus dem Weg zu schubsen versuchten. Eine große, blonde Gazelle mit sanft gebräunter Haut beugte sich zu ihm, um ihm etwas zuzuflüstern. Er legte ihr einen Arm um die Taille und lachte sein umwerfendes, strahlendes Lächeln. Sie hob die Hand und schob ihm das Haar aus den Augen. Mein Puls hämmerte wild. Blut peitschte durch mich hindurch. Die Luft wurde unerträglich drückend. Ich konnte nicht atmen. Ich holte tief Luft, versuchte, mich nicht zu übergeben.

Wes hatte die Szene ebenfalls beobachtet. »Komm, Kelsey. Lass uns gehen. Das musst du dir nicht anschauen.«

Ich ließ mich von Wes wegziehen, und die Übelkeit verwandelte sich in maßlose, glühende Wut. Ich zitterte. Ich wollte meine Hand mit heißer Energie durchfluten und jedem einzelnen Mädchen, das ihn berührte, den Kopf wegsprengen. Ich wollte ihn mit elektrischen Schlägen bearbeiten. Am liebsten wäre mir jedoch gewesen, mich selbst hätte ein Blitz getroffen, damit ich diesen schrecklichen, ohnmächtigen Zorn nicht mehr verspürte, diese beißende Kränkung. Ich hatte das Gefühl, als wäre alles Gute und Glückliche aus mir gesogen und durch brennende Lava ersetzt worden. Es hätte mich nicht überrascht, wenn aus meinen Ohren Dampf geströmt wäre.

Am anderen Ende der Menschenmenge erspähte ich Kishan, was mich beruhigte. Meine Mom hätte gesagt: »Kells, das ist mal ein junger Mann, auf den man sich verlassen kann«, und sie hätte recht gehabt. Seit Oregon war er die Konstante an meiner Seite gewesen. Hatte mich nie gedrängt, nie mehr von mir erwartet, als ich zu geben bereit war. Er tat mir gut.

Kishan und ich sahen uns einen kurzen Moment an. In seinem Blick lag die Frage, ob ich ihn brauchte. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war er verschwunden. Die Lava kühlte ab und bekam Risse. Mein Inneres wurde schwarz und zerfiel zu Staub. Kein Wasser der Welt hätte die dicke Ascheschicht wegspülen können, die mich erstickte.

Wes berührte meine Hand und riss mich aus meiner Trance.

»Tut mir leid, Wes. Ich habe nur …«

»Du stehst unter Schock. Das verstehe ich. Er hätte nicht herkommen und sich so aufführen dürfen.«

»Er kann tun und lassen, was er will«, erklärte ich dumpf. »Es spielt keine Rolle mehr.«

»Lass mich dir einen Saft bringen. Etwas Zucker wird dir guttun.«

Wes brachte mir ein großes Glas mit etwas Köstlichem. Ihm zuliebe trank ich es in kleinen Schlucken. Ich spürte, wie das süße rote Getränk meine Kehle hinabglitt und stellte mir vor, dass es auf die verkohlte schwarze Asche in mir spritzte, zischte und sich dann mit allem anderen auflöste.

Wes wollte weitertanzen, und ich war einverstanden, noch ein wenig zu bleiben, allerdings nur für ein paar Lieder. Wir hielten großen Abstand zu der Stelle, wo ich Ren gesichtet hatte. Ich tanzte, aber mein Herz war nicht bei der Sache. Schließlich stimmte Wes zu, mich zur Jacht zu bringen.

Wir spazierten den Strand entlang. Die schnelle Musik war einem langsamen Lied gewichen. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas Grünes und konnte mich nicht wehren. Ich drehte mich um.

Ren tanzte mit einer hübschen, jungen Inderin in einem gelben Sari. Ihr langer dunkler Zopf reichte ihr fast bis zur Hüfte. Seine Hand ruhte gespreizt auf ihrem nackten Rücken. Lachend neigte er den Kopf und lauschte gebannt, was sie zu sagen hatte. Als er den Kopf wieder hob und die Frau in meine Richtung wirbelte, keuchte ich auf. Die wunderschöne Frau war Nilima.

Gewaltsam riss ich den Blick von dem Pärchen und starrte stur geradeaus. Wes erzählte mir etwas, aber seine Worte durchdrangen nicht den Nebel in meinem Gehirn. Schließlich hörte er auf zu reden und hielt einfach nur meine Hand, während wir zum Schiff zurückgingen. Er begleitete mich bis zu meiner Kabinentür, drückte mir einen Beileidskuss auf die Wange, und dann war ich allein.

Ich schälte mich aus meinem Kleid, fiel auf mein Bett und blickte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke. Die unverkennbaren Geräusche eines Feuerwerks und das Johlen der Partygänger drangen zu mir. Etwas zerbarst in mir, eine Mauer oder vielleicht ein Schutzschild. Es barst, und Tränen rollten mir die Wangen herab. Sobald der Damm gebrochen war, ließ der Strom sich nicht mehr aufhalten. Es war das erste Mal, dass ich weinte, seit Ren mit mir Schluss gemacht hatte, und als ich die Tränen wegwischte, schwor ich mir, dass es das letzte Mal gewesen war.

Ich hatte Albträume, doch jemand kam in mein Zimmer, um mich zu besänftigen, ein Mann. Im Schlaf berührte er meine Stirn. Ich war mir seiner Gegenwart bewusst, aber ich war zu erschöpft, um die Augen zu öffnen. Er flüsterte mir sanfte Worte in seiner Muttersprache ins Ohr. Meine aufgewühlte Seele beruhigte sich, und ich fiel in einen tiefen Schlaf. Vielleicht war es real gewesen, vielleicht auch nur ein Traum. Wie dem auch sei, ich wusste, dass ich geliebt wurde.

Am nächsten Morgen stand ich auf, wusch mir das Gesicht, zog mich an und eilte zum Fitnessraum. Kishan war bereits dort und bereitete sich auf sein allmorgendliches Training vor.

»Hi, Kells. Willst du mit mir trainieren?«

»Vielleicht später. Ich bin gekommen, um dich etwas zu fragen.«

Er legte sein Handtuch beiseite und wandte sich mir zu. »Okay. Schieß los.«

Ich rang die Hände und blickte zu Boden, während ich leise murmelte: »Willst du heute mit mir zu Abend essen?«