17

Erinnerungen

Ich protestierte und erklärte bestimmt, dass ich zumindest versuchen könnte zu gehen, aber Kishan hob mich einfach hoch und trug mich die Treppe hinab. Mein Bein blutete nun durch den Verband hindurch, und ich bat das Tuch, noch weitere Lagen um mein Bein zu wickeln.

Als wir schließlich das Becken erreichten, wartete Ren bereits auf uns. Ich war nicht sonderlich begeistert von der Vorstellung, wieder zu dem Kraken ins Wasser zu steigen, doch ich legte tapfer meine Taucherausrüstung an.

Kishan hatte mir gerade seine Taucherbrille angeboten, als Ren ihn unterbrach. »Ihre Brille ist hier. Wie auch deine zweite Schwimmflosse. Fanindra hat sie hochgebracht.«

Ein goldener Kopf tauchte aus dem Wasser auf. Ich beugte mich vor, um ihn zu tätscheln, und Fanindra schlängelte über meinen Arm. Kishan überprüfte die Messgeräte an meiner Druckluftflasche, während Ren ins Wasser glitt.

»Ihr Sauerstoff ist fast verbraucht.«

»Wir teilen«, erwiderte Ren.

Ich beobachtete, wie er all seine Gewichte abwarf, aber er schaffte es nicht, mit der Himmelsscheibe den Auftrieb zu regulieren. Sie war zu schwer. Als ich meine Sorge in Worte fasste, drehte er sich weg und sagte: »Ich schaff das schon.«

Ren nahm den Beutel, den ich mit dem Tuch gefertigt hatte, und schnallte ihn sich vor die Brust, während ich den Druck in meinen Ohren ausglich.

»Wir müssen uns beeilen«, warnte Kishan. »Wir schwimmen geradewegs hindurch und verschwinden so schnell wie möglich von hier. Falls wir wieder auf den Kraken treffen sollten, drehst du einfach ab und schwimmst hierher zurück. Dann überlegen wir uns einen anderen Weg, um zur Jacht zu gelangen. Okay?«

»Okay.«

Lächelnd gab er mir einen Kuss auf die Nasenspitze, bevor er seine Taucherbrille aufsetzte. Probehalber nahm ich einen Zug aus der Druckluftflasche und tauchte, gefolgt von Ren, durch das Loch im Becken. Fanindra blieb bei mir, während wir in die Tiefe schwammen. Die Meeresschlangen schwärmten herbei, um sie wieder in ihrem Kreis willkommen zu heißen, und begleiteten uns.

Ohne das Licht des Kraken war es dunkel, doch Fanindra schien den Weg zu kennen. Sie gab gerade einmal genügend Licht ab, dass wir den Kokon aus Meeresschlangen, der uns umgab, sehen konnten. Besorgt hielt ich die Augen nach dem Kraken offen, doch von dem fehlte jede Spur. Dennoch konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass riesige Augen uns beobachteten, und erwartete jede Sekunde einen zitternden Tentakel, der mich in den Schoß des Vergessens riss.

Meine Nerven lagen blank. Ich kam mir wie eines dieser dumpfbackigen Highschool-Mädchen in einem Horrorfilm vor, das in seiner Naivität Türen aufmachte, die geschlossen hätten bleiben sollen, sich blindlings in Gefahr begab und dem Monster, das es jagte, geradewegs in die Arme lief. Der einzige Unterschied war, dass ich nicht mit einem Jungen in dem Spukhaus rummachte und keinen Minirock trug.

Wir durchquerten die schwarze Höhle ohne jeden Zwischenfall und gelangten zu dem kleinen Durchgang. Ren schwamm als Erster hindurch, umgeben von sich windenden Wasserschlangen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und folgte ihm.

Als wir es endlich auf die andere Seite geschafft hatten, war mein Sauerstofftank leer. Ich gab Ren ein Zeichen. Er nickte und reichte mir seinen Atemregler. Ich nahm einen tiefen Zug und gab ihm das Mundstück zurück. Dieses Spielchen wiederholten wir ein paarmal, bis Kishan aus dem Gang auftauchte. Er berührte meinen Arm und nickte, bedeutete uns, dass er seinen Atemregler nun mit mir teilen würde, damit Ren die Führung übernehmen konnte.

Ohne eigenen Sauerstoff unter Wasser zu sein, war erschreckend, und ich musste all meine Willenskraft aufbieten, um nicht kopflos nach oben zu hetzen. Ich wusste, über mir war nichts als Gestein, doch dem starken Selbsterhaltungstrieb, zur Oberfläche zu gelangen, war kaum zu widerstehen. Das Einzige, was mich davon abhielt, in Panik zu geraten, war Kishan neben mir, mein Fels in der Brandung.

Ich folgte Ren. Das Licht wurde heller. Das trübe Wasser veränderte sich von mitternachtsschwarz zu einem dunklen Indigoblau, und dann, endlich, zu dem klaren Türkisblau der offenen See. Wir bogen um die Ecke, und da sah ich die Höhlenöffnung und die späte Nachmittagssonne, deren Strahlen schräg ins Wasser fielen.

Kishan reichte mir sein Mundstück, und ich holte tief Atem. Die Luft zischte und erstarb. Sein Sauerstofftank war ebenfalls leer. Er gab mir das Signal zu warten und lächelte mich zuversichtlich an. Er schwamm Ren hinterher, der sofort umdrehte und mir seinen Atemregler in die Hand drückte. Ich nahm einen Atemzug und reichte Kishan den Schlauch.

Langsam tauchten wir drei aus der Höhle in Richtung der Wasseroberfläche, wobei wir einen einzigen Sauerstofftank zwischen uns aufteilten. Die Wasserschlangen, von ihrem Geleitdienst entbunden, schossen rasch zum offenen Meer. Viele von ihnen schlangen zum Abschied ihre Körper kurz um Fanindra. Im nächsten Moment waren sie verschwunden.

Kishan nahm einen flachen Atemzug. Rens Tank war nun ebenfalls fast leer. Er signalisierte es uns, und wir ließen den Blick nach oben schweifen. Wir müssten so rasch wie möglich an die Oberfläche gelangen. Kishan reichte mir den Atemregler, damit ich den letzten Sauerstoff bekäme. Ich schüttelte den Kopf, aber er bestand darauf, und ich holte ein letztes Mal Atem, bevor ich weiter nach oben schwamm. Während das Wasser immer heller wurde, ließ ich die Luft langsam aus meinen Lungen strömen. Ich brauchte Sauerstoff. Ich würde es nicht schaffen.

Tod durch Ertrinken war viel weniger exotisch als Tod durch einen Kraken. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie die anderen Toten kopfschüttelnd sagen würden: »Ertrunken? Ts, ts, wie konntest du etwas so Törichtes tun? Hast du etwa das Mundstück nicht gefunden? Auf der Seite steht doch L-U-F-T. Oder hast du das Ding unter deinen Augäpfeln vergessen? Es wird Nase genannt. Damit atmet man.« Natürlich würde ich zu erklären versuchen, was geschehen war, aber ich würde im Reich der Toten bis in alle Ewigkeit Zielscheibe des Spotts bleiben. Meine Mutter fände es sicherlich zum Totlachen.

Fanindra schwamm vor mir, hatte die Führung übernommen, doch das spielte keine Rolle. In meinem Blickfeld formten sich kleine schwarze Punkte. Die Wasseroberfläche war nah, vielleicht sieben Meter entfernt. Ich strampelte kräftig mit den Beinen und versuchte, den letzten Rest aus meinem eigenen Sauerstofftank zu saugen, aber es half nichts. Meine Lungen fühlten sich an, als wären sie von einem heißen Eisen berührt worden. Das Brennen war so überwältigend, dass mein Körper danach schrie, Atem zu schöpfen.

Ich hätte gerne von mir geglaubt, dass mein Verstand die Oberhand behalten würde, dass ich dem unausweichlichen Tod durch Ertrinken stoisch und gelassen ins Gesicht blicken würde. Doch angesichts des eigenen Todes bäumt sich der Körper auf. Ein ungezügelter, unerschütterlicher Überlebensinstinkt packte mich, und ich riss wie eine Berserkerin an meiner Maske und der Ausrüstung. Eine Hand packte meine. Kishan. Er preschte nach oben, zog mich hinter sich her.

Wir durchbrachen die Wasseroberfläche, und er hielt mich fest umschlossen, während ich würgte und röchelte. Luft schoss in meine brennenden Lungen, und mein gesamtes Dasein konzentrierte sich allein auf meine Atmung. Für die nächsten paar Sekunden existierte nichts als der japsende Rhythmus meines Ein- und Ausatmens. Wenige Sekunden später tauche Ren keuchend auf.

Das Gewicht der Himmelsscheibe musste es ihm doppelt schwer gemacht haben, an die Oberfläche zu gelangen und oben zu bleiben. Als Rens Kopf wieder unter Wasser tauchte, schwamm Kishan zu ihm, um ihm zu helfen, und ich flüsterte dem Göttlichen Tuch zu, ein Netz mit zwei Schlaufen zu fertigen, damit Kishan die Hälfte des Gewichts der Scheibe stemmen konnte.

Der Ozean war wieder von Nebel verhüllt. Das kalte Wasser hatte mein pochendes Bein betäubt, aber ich spürte, dass ich mir eine schwere Verletzung zugezogen hatte. Kishan und Ren schwammen neben mir her, während ich mich drehte, um nach der Deschen zu suchen.

»Bleibt nah beieinander«, sagte Ren. »Wir dürften nicht weit von der Stelle entfernt sein, wo die Jacht vor Anker gegangen ist. Wir folgen einfach Fanindra. Schaffst du das, Kells?«

Ich nickte. Er blies Wasser aus seinem Schnorchel und geleitete mich zum Schiff.

Als wir die Jacht endlich erreicht und uns ins Unterdeck gezogen hatten, schleuderte Kishan seine Schwimmflossen fort und kletterte die Leiter hinauf. Ren reichte ihm die Himmelsscheibe und entledigte sich dann seiner eigenen Flossen. Mein ganzer Körper zitterte, und mein verletztes Bein gab unter mir nach. Ren legte mir den Arm um die Schultern, und ich hüpfte langsam die Leiter hinauf in die Sicherheit unseres Schiffs.

Nachdem sich Kishan einen Kescher geschnappt hatte, fischte er Fanindra aus dem Wasser. An Deck drehte sie sich zuckend im Kreis. Ihr breites Maul öffnete und schloss sich mehrmals, während sie angespannt nach Luft schnappte. Ich fühlte fast körperlich mit ihr mit, als sich ihr Körper blähte und heftig zitterte. Sie spreizte die Haut um ihren Kopf und fächerte sie zu einer Haube auf. Ihre mit Edelsteinen besetzten grünen Augen wurden größer, und die Form ihres Gesichts veränderte sich. Schon bald ließen ihre ruckartigen Fisch-auf-dem-Trockenen-Bewegungen nach, und sie war abermals eine goldene Kobra.

Nilima wickelte mich in ein großes Handtuch. Vorsichtig lehnte ich den Kopf gegen die Wand und stöhnte. Ren half mir, meine Ausrüstung abzulegen. Ich keuchte vor Schmerz auf, als Nilima mein Bein berührte.

»Was ist geschehen?«, fragte sie.

»Ein Krakenbiss«, erwiderte Ren. »Ich weiß nicht, wie schlimm es ist. Sie hat die Wunde fest verbunden.«

Meine fürsorgliche Krankenschwester schickte Ren nach einem Verbandskasten und Kishan nach Wechselklamotten für mich.

Während sie fort waren, half sie mir aus meinem nassen Taucheranzug und warf mir einen Morgenmantel über. Dann löste sie behutsam den Verband und besah sich meine Wunden.

»Ihr Bein hat es am schlimmsten getroffen. Sie müssen genäht werden. Was ist hier passiert?« Sie zeigte auf den Verband um meine Hüfte.

»Der Krake hat mich mit einem seiner Tentakel gepackt.«

»Hm … Ihr Neoprenanzug hat Sie dort wahrscheinlich vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Stelle ist nur geprellt, aber da sind auch kreisrunde Schnitte, die allerdings nicht tief sind.«

»Saugnäpfe.«

Sie schauderte.

Ein Tropfen grüner Glibber fiel von meiner Nase auf meinen aufgeritzten Arm, und ich kreischte vor Schmerz auf. Es brannte schrecklich. Nilima wischte ihn rasch weg, und das Beißen ließ nach. Da kehrten die Brüder zurück. Ein Klumpen grüner Schleim rann langsam an Kishans Arm hinab und platschte aufs Deck. Er verätzte ihn nicht mit derselben Intensität wie mich, was Kishan wohl seinen unglaublichen Tiger-Heilkräften zu verdanken hatte.

Nilima starrte den Schleim verärgert an und sagte: »Ihr beide geht jetzt duschen. Das grüne Zeug scheint giftig zu sein. Wahrscheinlich eine Art Säure. Wascht es euch so schnell wie möglich ab. Solange es noch auf euch ist, kann ich nicht erlauben, dass ihr in Kelseys Nähe bleibt oder sie berührt. Auf euch mag es keine Wirkung haben, aber ihr tut es weh.«

Die Jungs zögerten.

»Keine Sorge«, versicherte Nilima. »Ich kümmere mich um sie. Die Blutung ist unter Kontrolle. Ihr wird nichts geschehen.«

Nilima schnappte sich den Duschkopf und befreite mich rasch und gründlich von dem Schleim. Vorsichtig säuberte sie meine Wunden. Als sie genügend ausgespült waren, rieb sie eine antibakterielle Creme in die Schnitte an meinen Rippen, ließ das Göttliche Tuch einen neuen Verband fertigen, und half mir dann beim Anziehen.

Als Nächstes kümmerte sie sich um mein Bein. Die Haut war rot und geschwollen, vom Salzwasser gereizt. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht vor Schmerz loszubrüllen. Mein Bein pochte unerträglich und begann wieder zu bluten, nachdem Nilima es gereinigt hatte. Ich schluckte schwer, als ich die klaffende Wunde sah.

»Schauen Sie weg! Es wird heilen, aber wie schon gesagt, es muss genäht werden. Dafür brauche ich Großvater.« Sie bat das Tuch, mich wieder zu verbinden. »Kann ich Sie eine Minute allein lassen?«

Ich nickte und legte mich mit geschlossenen Augen auf die Holzbank. Erschrocken glaubte ich zu spüren, wie das Gift des Kraken durch meine Adern schoss. Meine Nerven kribbelten, als säßen kleine Feuerameisen unter meiner Haut. Ich war müde. Ich nickte ein und wurde im nächsten Moment von einem Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Fanindra kam auf mich zu.

»Wirst du mich beißen? Wenn ja, schließe ich lieber die Augen. Beeil dich.«

Ich hörte nichts und blinzelte. Fanindra hatte sich eingerollt und es sich neben meinem Fuß bequem gemacht.

»Dann liege ich also nicht im Sterben? Danke, dass du mir Gesellschaft leistest. Weck mich, falls ich doch noch sterbe.«

Einen Augenblick später kehrte Kishan frisch geduscht zurück, setzte sich neben mich und nahm meine Hand. Kurz darauf kamen auch Ren, Nilima und Mr. Kadam. Mr. Kadam zog den Reißverschluss eines Täschchens auf, schüttelte eine Tablette in seine geöffnete Handfläche und hielt sie mir zusammen mit einer Flasche Wasser hin.

»Was ist das?«

»Ein Antibiotikum.« Mr. Kadam reichte Kishan die Flasche. »Sorg dafür, dass sie die nächsten zehn Tage eine am Morgen und eine am Abend schluckt.«

Kishan nickte.

»Dann sehen wir uns mal die Wunde an.« Mr. Kadam entfernte den Verband und besah sich den Schnitt genau. Diesmal ließ ich die Augen geschlossen. »Du hast völlig recht, Nilima. Sie muss genäht werden. Allerdings habe ich nicht die Umsicht besessen, Nadel und Faden an Bord zu bringen. Wir können im Moment also nichts weiter tun, als die Wunde zu verbinden, sie sauber zu halten, Kelsey die Antibiotika zu geben und zu hoffen, dass der Krake nicht giftig ist. Kishan, wärst du so freundlich, Miss Kelsey in ihr Bett zu tragen? Sie braucht Ruhe.«

»Einen Augenblick.« Ren trat vor. »Ich habe eine Idee.«

Er erklärte, was er vorhatte, und Mr. Kadam starrte mich eindringlich an. »Wollen Sie es versuchen, Miss Kelsey?«

Ich nickte, kniff die Augen zu und hielt Kishans Hand in einem eisernen Griff, als Ren das Göttliche Tuch bat, meine Wunde zu nähen.

Alle beobachteten neugierig mein Bein, während das Tuch seine Arbeit begann. Zuerst keuchte ich erschrocken auf, als ich ein sonderbares Ziehen an meiner Haut spürte. Harte Fäden endeten in scharfen Spitzen und glitten fast ohne ein Zwicken durch meine Hautschichten, zogen dann die Ränder meiner Haut zusammen und verknoteten sich. In weniger als einer Minute war alles vorüber. Winzige Nähte liefen an der Innenseite meines Beins hinab und verliehen ihm den Anschein, als würde ich eine Gothic-Strumpfhose tragen, deren Mittelnaht ein wenig verrutscht war.

Nilima schmierte etwas antiseptische Creme auf die Wunde und bat das Tuch, mir wieder einen Verband anzulegen. Ich warf Ren ein Lächeln zu, das wahrscheinlich mehr wie eine Grimasse aussah, bevor Kishan mich hochhob, in mein Zimmer trug und mich ins Bett steckte. Dann brachte er mir ein Aspirin und ein Glas Wasser. Gehorsam nahm ich meine Medikamente und schlief ein.

Zwölf Stunden später erwachte ich. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzte, ich war mit blauen Flecken übersät und hungrig wie ein Wolf. Niemand war bei mir, was zur Abwechslung einmal angenehm war. Ich setzte mich im Bett auf und bat das Göttliche Tuch, meinen Verband zu lösen. Ein Ring aus grün-gelben Blutergüssen bedeckte meinen Oberkörper bis hinab zur Hüfte, doch über den Schnitten hatte sich überall ein hübscher Schorf gebildet. Hm … Die Blutergüsse müssten immer noch violett sein und die Wunden schmerzhafter. Es tat schon noch weh, aber nicht so sehr wie gestern. Wenn man bedenkt, was ich alles durchgemacht habe, sieht mein Bein sogar ziemlich gut aus. Es machte den Anschein, als hätte ich über Nacht den Heilungsprozess einer ganzen Woche hinter mich gebracht. Ich erholte mich zwar nicht so schnell wie die Männer, aber immer noch recht eindrucksvoll.

Der erste Punkt auf der Tagesordnung war eine Dusche. Mit gewaschenen und geföhnten Haaren, neuen Verbänden und frischer Kleidung trat ich aus dem Bad, wo ich einen wartenden Kishan vorfand. Vorsichtig zog er mich in seine Arme.

»Wie geht es dir?«, fragte er, während er mir den Nacken massierte.

»Besser. Ich glaube, meine Wunden heilen hier schneller, wenn auch nicht ganz so schnell wie eure.«

Kishan brachte mir ein Tablett mit Rührei, Erdbeeren, einer Zimtschnecke, Orangensaft, ein Aspirin und einem Antibiotikum. Nachdem er mir eine Gabel in die Hand gedrückt hatte, setzte er sich neben mich und wartete, bis ich aufgegessen hatte. Etwas lag ihm auf der Seele.

»Ist bei dir alles in Ordnung, Kishan?«

Er lächelte mich verhalten an. »Ja, ich bin einfach nur …«

»Du bist einfach nur was?« Ich schaufelte mir eine Gabel voll köstlichem Ei in den Mund.

»Ich bin einfach nur … besorgt.«

»Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich erhole mich. Im Grunde fühle ich mich jetzt schon wieder ziemlich gut.« Ich lächelte.

»Nein. Besorgt ist vielleicht das falsche Wort. Manchmal habe ich das Gefühl …« Kishan seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das spielt keine Rolle. Du musst erst mal zu Kräften kommen. Ich sollte dich nicht mit meinen belanglosen Eifersüchteleien nerven.«

»Welchen belanglosen Eifersüchteleien?« Ich stellte das Tablett beiseite und nahm seine Hand. »Du kannst mir alles sagen.«

Er beugte sich vor und betrachtete eingehend meine Hand. »Manchmal glaube ich, dass du«, sagte er mit einem Seufzen, »dass du es vielleicht bereust. Die Sache mit uns, meine ich.«

»Was bereuen?«

»Ich sehe, wie du und Ren euch manchmal Blicke zuwerft, und dann komme ich mir wie das dritte Rad am Wagen vor. Dann habe ich das Gefühl, egal was ich tue, ich werde es nie schaffen, eine Brücke zwischen uns zu schlagen oder den Riss in deinem Herzen zu kitten und einen Weg zu finden, um mit dir zusammen zu sein.«

»Oh, ich verstehe.« Mir fiel ein, wie Ren und ich den Stern des roten Drachen repariert hatten, und biss mir schuldbewusst auf die Lippe.

»Ich will, dass du dasselbe für mich empfindest, was ich für dich empfinde«, fuhr er fort. »Aber vor allem will ich, dass du wieder gesund und glücklich bist.« Er lehnte sich vor und strich mit den Fingern über meine Wange. »Ich liebe dich, Kelsey. Ich bin nur nicht sicher, ob du dasselbe für mich empfindest oder ob wir einfach nicht füreinander bestimmt sind.«

Ich verscheuchte meine schuldbewussten Gedanken, brachte seine Finger an meinen Mund und küsste seine Handinnenfläche. »Weißt du, was das Problem ist? Auf dem Schiff hatten wir nur sehr wenig Zeit zu zweit, und das Reich der Sieben Pagoden bietet wenig Gelegenheit für Romantik. Wie wäre es heute mit einem Candle-Light-Dinner? Nur wir zwei? Du trägst eine Krawatte und ich ein Kleid. Was hältst du davon?«

»Und was, wenn wir bis dahin den dritten Drachen erreicht haben?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Dann improvisieren wir. Lassen uns etwas einfallen. Hat Mr. Kadam bereits die Bedeutung der Himmelsscheibe entschlüsselt?«

»Nein. Er und Ren arbeiten daran. Wir haben den Nebel des blauen Drachen hinter uns gelassen, aber wir liegen vor Anker, bis wir unseren nächsten Schritt geplant haben.«

»Okay. Dann sagen wir Mr. Kadam, dass wir uns die Nacht freinehmen wollen. Außerdem braucht mein Bein sowieso noch Zeit, um zu heilen.«

Kishan nickte. »Wenn du meinst.«

»Ja, das meine ich. Wenn sich ein Mädchen nicht mal nach einem Krakenkampf einen Tag freinehmen darf, wann dann?«

Er lachte. »Wie wahr!«

Den restlichen Tag verbrachte ich allein, abgesehen von Nilimas ständigem Kissenaufschütteln. Nach ein paar Stunden Langeweile betrieb ich meine eigene Recherche in Bezug auf die Himmelsscheibe, die große Ähnlichkeit mit der Himmelsscheibe von Nebra aufwies, deren Entstehung auf 1600 v. Chr. geschätzt wird und über die ich in meinem Kunstgeschichtskurs an der Uni etwas gelesen hatte. Die Himmelsscheibe von Nebra zeigte Sternenkonstellationen auf sowie die Sommer- und Wintersonnenwende, damit Bauern den besten Zeitpunkt für das Pflanzen der verschiedenen Getreidesorten kannten.

Die Himmelsscheibe des blauen Drachen wurde offensichtlich nicht zum Ackerbau benutzt. Anstelle der Monddarstellungen waren Sterne und die sieben Sonnen abgebildet. Eine Linie, die sich zwischen den Sternen hindurchschlängelte, führte von einer der Sonnen am unteren Ende zu einer der Sonnen an der Spitze.

Ich schlug ein Buch über andere berühmte Scheiben auf und stieß auf den Atzteken-Kalender, der die fünf Zeitalter der Welt aufzeigte. Jedes Tageszeichen war nach einer Gottheit benannt. Ich blätterte noch ein bisschen in dem Buch herum, fand jedoch nichts, das man auf unsere Situation hätte anwenden können.

Mit einem enttäuschten Seufzen legte ich das Buch und die Unterlagen beiseite. Meine Gedanken trieben zu etwas, worüber ich eigentlich auf gar keinen Fall nachdenken wollte.

Es ist an der Zeit. Es ist an der Zeit, Ren endlich loszulassen und mit Kishan in die Zukunft zu blicken. Es ist nicht so, als würde ich Kishan nicht lieben. Das tue ich wirklich. Aber ich liebe Ren auch. Ich glaube, ein Teil von mir wird das immer tun.

Ich hatte Ren gesagt, sobald ich mit Kishan zusammenkäme, würde es kein Zurück geben, und ich gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die mit den Gefühlen anderer spielte. Ich würde bei ihm bleiben. Wenn ich Ren nicht vergessen könnte, dann könnte ich zumindest meine Gefühle für ihn verbergen. Ich würde sie an einen sicheren Ort in meinem Herzen wegsperren und nie wieder freilassen

Ich wollte, dass die Sache mit Kishan funktionierte, aber ich wusste, dass ich einen Teil von mir zurückgehalten hatte. Ich hatte ihm nicht mein ganzes Herz geschenkt. Hatte ihm nicht dieselbe Liebe zukommen lassen wie Ren. Er verdient mehr. Er verdient das Allerbeste. Es ist an der Zeit, dass ich meine Liebe wieder verschenke.

Ich stand auf und probierte mein Bein aus. Es sah schon viel besser aus, und die Schnitte und Blutergüsse um meinen Oberkörper waren so gut wie verschwunden. Nachdem ich mich mit Nilima beraten hatte, kamen wir beide überein, dass die Nähte nicht mehr nötig wären.

Sie befahl dem Göttlichen Tuch, die Fäden zu ziehen, und das hauchzarte Garn löste sich behutsam aus meiner Haut. Eine Narbe lief an meinem Bein hinab, aber sie war vollständig geschlossen, und ich konnte schon wieder auftreten. Ich bat Nilima, dem Tuch zu helfen, mir ein Kleid zu schneidern, und sie schlug ein Cocktailkleid aus Satin mit angeschnittenen Ärmeln und einem tiefen Ausschnitt vor. An der rechten Seite der Taille war es gerafft und mit einer hübschen schwarzen Applikation versehen. Über dem engen, knielangen Rock war ein durchsichtiger Stoff drapiert, der sich an meine rechte Hüfte schmiegte und sich dramatisch bis zum Saum bauschte.

Eigentlich wollte ich es blau färben, erkannte jedoch rasch, dass dies Kishan eine falsche Botschaft übermitteln würde. Stattdessen entschieden wir uns für einen Bronzeton, was sich als ein Glücksgriff herausstellte, da mir die Farbe sehr schmeichelte. Sie brachte meine Augen perfekt zur Geltung und ließ meine Haut leuchten. Ich bat das Tuch, mir passende flache Satinpantoffeln mit derselben Applikation wie am Kleid zu fertigen. Nachdem ich mich bei Nilima bedankt hatte, bürstete ich mir das Haar, und meine Gedanken glitten zu dem Abend, der vor mir lag.

Ich versuchte, die Stimme in meinem Kopf zu wecken, und bat meine Mutter um Rat. Sie war immer da gewesen, wenn ich eine Beziehungsfrage hatte. Aber diesmal wartete nichts als Schweigen auf mich.

Vielen Dank, Mom. Was? Ich gebe mein Bestes. Es ist ja nicht so, als wärst du hier, um mir mit diesem Zeug behilflich zu sein. Manchmal braucht ein Mädchen seine Mutter, weißt du? Ich hielt mitten im Gedanken inne und wies sie scharf zurecht. Du solltest hier sein.

Ich starrte in den Spiegel, während ich mir mechanisch die Haare kämmte, und legte dann schließlich die Bürste weg. Ich sah dünn aus. Blass. Hatte dunkle Ringe unter den Augen. Nicht gerade ein Augenschmaus für ein heißes Date, auch wenn ich mein Äußeres natürlich auf den Kraken schieben könnte. Ich war gereizt, nervös. Hatte ein flaues Gefühl im Magen. Benommen schminkte ich mich.

Auf der Suche nach Inspiration für mein schulterlanges Haar nahm ich den Lockenstab zur Hand und zupfte eine der Lotosblüten aus Durgas Blumenkranz. Ich betrachtete die Blüte und hegte die stille Hoffnung, dass sie mich führen und mir helfen würde, meine hartnäckigen Gefühle für Ren zu überwinden und Kishan die Liebe entgegenzubringen, die er brauchte. Immerhin war Durga diejenige, die mich ermuntert hatte, einen Sprung in die Zukunft zu wagen.

Ich kämmte das Haar zurück und befestigte die weiße Blume über meinem rechten Ohr. Ihr Duft spendete mir Trost. Ein Gefühl des Friedens legte sich über mich, und im nächsten Moment glaubte ich, ein weicher Arm hätte sich kurz um meine Schultern gelegt und mich aufmunternd gedrückt. Ob dies nun Durga oder meine Mutter gewesen war, die Berührung erfüllte mich mit der tiefen Überzeugung, dem Glauben, dass sich mein Kummer in Wohlgefallen auflösen werde. Ich schlüpfte in mein Kleid und hatte gerade die Pantoffeln angezogen, als ich ein Klopfen an der Tür vernahm.

Ich setzte ein entschlossenes Lächeln auf und öffnete. Augenblicklich verwandelte das aufgesetzte sich in ein richtiges Lächeln, als ich bemerkte, wie glücklich er war. Unverhohlen bewunderte er mein Kleid und reichte mir ein Bukett aus Seidenblumen.

»Tut mir leid, dass sie nicht echt sind. Wie es scheint, gibt es im gesamten Drachenreich keinen einzigen Blumenladen.«

»Das macht doch nichts.«

»Du siehst wunderschön aus.«

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.«

Und er sah wirklich prächtig aus. Er trug eine schwarze Hose und ein kupferfarbenes Seidenhemd mit einer passenden, schwarz-kupfer-gold gestreiften Krawatte. Ich trat einen Schritt vor und strich über die Krawatte. Er erfasste meine Hand und küsste sie lächelnd. Seine goldenen Augen blitzten, als er mir den Arm bot.

»Wie geht’s deinem Bein?«, fragte er.

»Gut. Es ist fast verheilt. Noch ein Tag, und ich müsste fit genug sein, um es mit einem weiteren Kraken aufzunehmen.«

Er runzelte die Stirn. »Ich hoffe, das bleibt uns erspart.«

Ich nickte, und wir gingen zum Sonnendeck. Der Mond war aufgegangen, und das Meer lag ruhig da. Es war wunderschön. Der dunkle Himmel war wolkenlos, die Sterne funkelten hell. Es war die perfekte Kulisse für ein romantisches Abendessen bei Kerzenschein.

Doch anstatt mich zur Lounge am Achterdeck zu führen, brachte mich Kishan zum Bug des Schiffs.

»Werden wir denn nicht essen?«

»Doch. Ich habe dort vorne einen Tisch aufgestellt. Und keine Sorge, dass wir von der Brücke aus beobachtet werden könnten. Mr. Kadam und Nilima nehmen sich die Nacht frei. Alle anderen sind unter Deck.«

»Sollte nicht jemand Wache schieben, nur für den Fall, dass plötzlich ein Drache oder ein anderes Ungeheuer auftaucht?«

»Das ist meine Aufgabe in den nächsten paar Stunden. Falls etwas passieren sollte, sind wir verantwortlich.«

Ich drückte seinen Arm. »Das hört sich romantisch an. Oh, Kishan! Wie wundervoll!« Ich ließ ihn los und eilte auf den herrlich gedeckten Tisch zu. Kishan hatte das Göttliche Tuch benutzt, um eine silbern schillernde Tischdecke und Servietten zu erstellen. Prächtiges Porzellangeschirr und glänzendes Silberbesteck mit Meerjungfrauenornamenten am Griff schmückten den Tisch. Filigrane Weinkelche, die winzige Sternenfische im Stiel eingraviert hatten, waren mit perlendem goldenem Saft gefüllt. Das Deck war mit großen Trompetenmuscheln dekoriert, in deren Innerem Kerzen aufgestellt waren und deren Licht in der sanften Brise flackerte. Es war atemberaubend schön. Laternen verstärkten den überwältigenden Effekt, und eine leise, wohltönende Musik spielte im Hintergrund.

Ich streckte einen Finger aus und berührte eine der Muscheln. »Das muss dich schrecklich viel Zeit gekostet haben.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ist nicht der Rede wert. Ich wollte, dass es etwas Besonderes ist.«

»Das ist dir gelungen.«

Galant zog Kishan meinen Stuhl vor. Dann setzte er sich mir gegenüber und freute sich sichtlich über meine Begeisterung. »Es gefällt dir.«

»Zu sagen, dass es mir gefällt, wäre eine schamlose Untertreibung.«

Er lachte. »Gut. Möchtest du jetzt essen?«

»Ja. Wie genau funktioniert das hier eigentlich? Du benutzt die Goldene Frucht, oder?«

Er nickte. »Ich habe mir ein Menü überlegt. Vertraust du mir?«

»Natürlich.«

Er schloss die Augen, und ein opulentes Abendessen erschien vor uns. Wir stürzten uns auf die Köstlichkeiten und redeten darüber, was uns beim dritten Drachen erwarten könnte. Anfangs gingen wir noch mit großem Ernst an die Sache heran, dann wurden unsere Ideen immer abstruser, bis wir uns die wildesten Drachenszenarien ausmalten. »Und wenn er nun zahnlos ist? Die Größe einer Katze hat? Wenn er ein verängstigter Drache ist, der Witze erzählt, so wie der Drache in dem Film Mulan?«

Kishan hatte den Film nie gesehen, weshalb wir entschieden, ihn uns später anzusehen. Ich sang ihm Puff, the Magic Dragon vor, zumindest so viel, wie ich in Erinnerung hatte, und er erzählte mir eine verrückte chinesische Geschichte über einen Drachen, der seinen Schwanz verlor.

Zum Nachtisch zauberte Kishan eine achtstöckige Schokoladen-Himbeer-Torte mit heißer Karamellsoße, frischen Himbeeren und Schokoschlagsahne herbei.

Ich schloss die Augen und stöhnte. »Du kennst mich wirklich gut. Schokolade kann ich nicht widerstehen.«

Er beugte sich vor. »Das hoffe ich doch.«

Ich lachte. »Das einzige Problem ist nur … Ich bin zu satt, um ihn zu essen.«

»Wir haben Zeit. Das kann warten.« Er erhob sich und streckte die Hand aus. »Möchtest du mit mir tanzen, Kelsey?«

»Das wäre wunderbar.« Ich nahm seine Hand, und er zog mich zu sich.

Die Musik war ein Säuseln im Wind, die Nacht kühl. Ich kuschelte mich an ihn, genoss seine Wärme.

»Das ist das erste Mal, dass ich mit dir tanzen kann, ohne mir Sorgen machen zu müssen, dass sich jemand auf mich stürzt und dich aus meinen Armen reißt.«

»Hm … Das stimmt.«

Er nahm meine Hand und wirbelte mich sonderbar im Kreis herum. Ich kicherte, als sich unsere Arme verhedderten.

»Tut mir leid. Ich bin kein sonderlich guter Tänzer. Es ist nur so …«

Ich hob den Kopf. »Was ist los?«

»Es hatte den Anschein, dass du diesen ausgefallenen Tanzstil magst. So wie du mit Ren getanzt hast. Das werde ich wahrscheinlich nie lernen.«

»Kishan, du darfst dich nicht mit ihm vergleichen. Ich mag dich um deiner selbst willen, nicht weil ich eine Art Blaupause von ihm will.«

»Was ist eine Blaupause?«

»Das ist … Ach, spielt keine Rolle. Der springende Punkt ist, sei einfach du selbst. Ich will nicht, dass du dich verbiegst. Wenn du nicht gerne tanzt, ist das in Ordnung.«

»Oh, ich tanze gerne, ich bin nur nicht besonders gut.«

»Das macht doch nichts. Ich bin auch keine begnadete Tänzerin.«

»Wirklich?«

»Wirklich.« Ich lehnte den Kopf wieder an seine Schulter und schloss die Augen, überließ ihm die Führung. Ich vertraute ihm. Ich wusste, er würde mir niemals wehtun, und ich wollte ihm dasselbe Gefühl des Friedens vermitteln, das er mir so selbstlos angedeihen ließ. Mit einer Verzweiflung, die mich förmlich von innen her auffraß, wollte ich ihn nicht nur lieben, sondern mich in ihn verlieben. Verstohlene Gedanken schlichen sich in mein Bewusstsein, malten das Bild, wie ich in den Armen eines anderen tanzte. Entsetzt riss ich sie heraus und zertrampelte sie. Ich wollte, dass sich all meine Gedanken ausschließlich um Kishan drehten. Um diesen guten Menschen vor mir, der mich bedingungslos liebte.

Glücklicherweise unterbrach er meine Gedanken. »Weißt du, wann ich mich in dich verknallt habe?«

»Nein.«

»Als ich dich beobachtet habe, wie du nach unserem Kampf im Dschungel Rens Wunden versorgt hast. Das war, bevor du wusstest, dass wir schnell heilen. Als du geweint hast.«

»Daran erinnere ich mich.«

»Du hast so viel Zärtlichkeit und Besorgnis an den Tag gelegt. Ich wollte dich trösten. Ich wollte dich glücklich machen. Deine Tränen trocknen.«

»Das tust du doch.«

Er schnaubte. »Erinnerst du dich, wie ich das erste Mal aus dem Dschungel gekommen bin und dich überrascht habe?«

»Ja.«

»Ich hatte dich beobachtet. Du hast mich fasziniert. Es war fast so, als könnte ich deine Gedanken allein an deinem Gesicht ablesen.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich ein offenes Buch bin.«

»Du hast ein offenes, gütiges Gesicht.«

»Vielen Dank.«

Eine leichte Brise wehte mir das Haar über die Wange, und Kishan schob es mir hinters Ohr, wobei er mir sanft den Hals liebkoste. »Wusstest du, dass du der erste Mensch warst, mit dem ich seit über hundert Jahren gesprochen hatte?«

Ich blinzelte. »Das wusste ich nicht. Du musst einsam gewesen sein.«

»Das war ich. Ich war so lange allein gewesen, dass es mir vorkam, als wäre ich der letzte Mensch auf Erden. Dann, als ich dich erblickte, war es wie ein Traum. Du warst ein Engel, der herabgestiegen war, um mich aus meinem erbärmlichen Dasein zu befreien. Als du dann fortgegangen bist, dachte ich, ich könnte einfach in mein elendes Leben zurückkehren. Nie hätte ich die Hoffnung gehegt, dass du eines Tages mein sein könntest. Es war offensichtlich, dass Ren dich für sich wollte, weshalb ich deine Anziehung ignoriert habe. Doch sie war zu stark. Ich war dir ergeben.

Ich bin ins Land der Lebenden zurückgekehrt. Ich lernte wieder, auf meinen eigenen zwei Beinen zu gehen. Ich lernte, was es bedeutete, ein Mensch zu sein. Dann bist du abgereist, und ein Teil von mir war glücklich. Ich hatte die Absicht, dir etwas Zeit zu lassen und dir dann nachzureisen. Aber das hat nicht funktioniert.«

Ich nickte, sagte jedoch nichts. Die Verlockung war zu groß, und ich ließ die Erinnerungen an jene glückliche Zeit mit Ren in Oregon in mir hochsteigen, schloss dann aber rasch die Tür zu diesen Gedanken und kehrte in die Gegenwart zurück. Ich lächelte Kishan an.

»Als ich dich wiedersah«, fuhr er fort, »so glücklich in Amerika, beschloss ich, mich damit zu begnügen, dein Freund und Beschützer zu sein. Ich versuchte, meine Gefühle für dich in Schach zu halten. Alles in meiner Macht Stehende zu tun, um dich glücklich zu machen. Aber als wir allein in Shangri-La waren, habe ich mich noch mehr in dich verliebt. Ich wollte dich, und es interessierte mich nicht, wen ich verletzen oder wie du dich dabei fühlen musstest. Ich war wütend, als du mich gebeten hast, mich zurückzuhalten. Ich wollte, dass du mich mit derselben Inbrunst willst, mit der ich dich begehrte, und das hast du nicht. Ich wollte, dass du genauso für mich empfindest wie für Ren, aber das konntest du nicht.«

»Kishan …«

»Warte … Lass mich ausreden.«

Ich nickte.

»Vielleicht liegt es an dem, was dieser blöde Vogel mit mir in Shangri-La angestellt hat, doch seitdem kann ich klarer sehen – nicht nur, was meine Vergangenheit mit Yesubai anbelangt, sondern auch, was dich und meine Zukunft betrifft. Ich wusste, dass ich nicht mein Lebtag allein sein würde. Das habe ich im Traumhain gesehen. Und anschließend habe ich erkannt, dass du mich auch liebst. Aber ich habe es überstürzt. Habe dich gedrängt. Dann ist er zurückgekommen, und trotz allem wolltest du immer noch ihn. Vielleicht wird das nie aufhören. Vielleicht wirst du diese Verbundenheit mit ihm niemals überwinden.«

Ich wollte etwas sagen, und er legte mir einen Finger auf die Lippen.

»Nein, ist schon okay. Ich verstehe jetzt. Damals war ich noch nicht bereit für eine Beziehung. Ich hatte nichts zu geben, nichts zu bieten. Nicht einer Frau dieser Zeit. Aber Shangri-La hat mir etwas viel Wertvolleres mitgegeben als sechs weitere Stunden in Menschengestalt. Nämlich Hoffnung. Einen Grund zu glauben. Und so habe ich gewartet. Gelernt, geduldig zu sein. Ich habe gelernt, wie man in diesem Jahrhundert lebt. Und jetzt, was noch viel wichtiger ist, habe ich endlich gelernt, was es bedeutet, jemanden zu lieben.«

Kishan hob einen Finger und glitt damit von meiner Stirn zu meinem Kinn, neigte sanft mein Gesicht, damit ich ihm in die Augen sah. »Und nun bleibt nur eine einzige wichtige Frage offen, Kelsey … Werden meine Gefühle von deinem Herzen erwidert? Fühlst du auch nur einen kleinen Teil dessen, was ich für dich empfinde? Gibt es ein Stück in dir, das du für mich reservieren willst? Das nur mir gehört? Das ich für mich beanspruchen kann und das auf ewig mein sein darf? Ich verspreche, ich werde es in Ehren halten. Und ich werde es bis an mein Lebensende mit aller Gewalt beschützen.«

Kishans Hände legten sich auf meine Hüften, und er senkte die Stirn, um meine zu berühren. »Schlägt dein Herz für mich, meine Liebste?«

Ich schmiegte ihm die Hände aufs Gesicht, während mir eine Träne die Wange herabrollte. Nach einer winzigen Pause versicherte ich ihm: »Natürlich tut es das. Ich werde dich nie mehr allein lassen. Ich liebe dich auch, Kishan.«

Ich lehnte mich vor und drückte meine Lippen auf seine. Er verlagerte sein Gewicht, um mich an sich zu pressen, und küsste mich zurück. Es war ein sanfter und weicher und süßer Kuss. Ich schlang ihm die Arme um den Hals und drängte mich an ihn. Er zog mich an seine Brust und umarmte mich noch fester. Zuerst fühlte es sich nur nett an. Es war angenehm und schön. Aber dann passierte auf einmal etwas.

Ich spürte ein Reißen, ein Ziehen. Mein Herz zuckte wild, und ein Feuer loderte jäh in mir auf. Es verzehrte mich, und ich brannte innerlich mit einer Glut, die ich seit Langem nicht mehr verspürt hatte. Ich küsste Kishan mit einer entfesselten, kopflosen Leidenschaft, und er erwiderte meinen Rausch um das Zehnfache. Das flammende Inferno loderte weiter, zischend, reinigend, läuternd. Ich wollte in der wärmenden Hitze baden, die zwischen uns aufwallte, so stark und berauschend, dass sie meine Sinne benebelte.

Da traf etwas Schweres das Deck hinter mir, und mehrere Kerzen wurden von dem plötzlichen warmen Windhauch ausgeblasen. Ich hörte, wie Holz zersplitterte und barst. Mein Körper vibrierte von dem Aufprall, und die Wucht ließ mich wanken, doch Kishan hielt mich mit Leichtigkeit aufrecht, auch wenn sich unsere Lippen voneinander lösten. Was war das?, dachte ich. Ein Drache? Ein Meteor?

Ungläubig blinzelte ich, als ein Liegestuhl mit einem lauten Sausen an uns vorbeiflog und platschend im Meer landete, wobei er das Porzellan, die Weingläser, den Kuchen und die Muschelkerzen vom Tisch mit sich riss. Kishan sah mich verwirrt an und erstarrte, als wir eine wütende, drohende Stimme irgendwo über uns in der Dunkelheit zischen hörten: »Lass. Sie. Los!«