5
Vorbereitungen
Drachen?«, wiederholte ich.
Mr. Kadam kicherte mitfühlend. »Ich denke, die Drachen werden Ihnen helfen. Ich glaube nicht, dass Sie gegen sie kämpfen müssen.«
»Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Sie recht behalten. Nun, wenn ich mich nicht täusche, haben Sie schon das eine oder andere herausgefunden?«
»Sie vermuten richtig. Bei ein paar Dingen bin ich mir sicher, andere müssen noch nachrecherchiert werden. Möchten Sie mir dabei helfen?«
»Auf jeden Fall. Es wäre eine angenehme Ablenkung.«
»Ausgezeichnet! Aber erzählen Sie mir zunächst, was Phet gesagt hat.«
Wir plauderten zwei Stunden. Währenddessen tauchte Kishan auf, sah mich und verschwand sofort wieder.
Schließlich bemerkte auch Mr. Kadam die offenkundige Anspannung. »Haben die Brüder etwas angestellt, was Sie verärgert hat?«
»Tun sie das nicht immer?«, fragte ich trocken.
»Was ist geschehen?«
Ich rutschte auf meinem Stuhl nervös hin und her. »Sie haben nichts getan, wirklich. Es ist nur, dass Ren und ich uns wegen seiner Amnesie in die Haare bekommen haben. Es war ein wirklich schlimmer Streit, und Kishan hat zumindest einen Teil zufällig mitangehört. Phet meinte, sie wären beide Kissen, was sicherlich stimmt, aber das macht die Sache nicht leichter.«
Mr. Kadam hatte meinen sprunghaften Gedankenfetzen offenbar folgen können und fragte: »Was hat Phet gemeint?«
»Im Grunde hat er gesagt, dass sie Kissen seien in einer Welt voller Steine, was wohl bedeutet, dass sie gute Menschen sind und ich mit beiden mein Glück finden würde, egal wen ich wähle.«
»Ich verstehe. Es ist mir nicht entgangen, dass Kishan Gefühle für Sie entwickelt hat. War das der Grund, weshalb Sie sich mit Ren gestritten haben?«
»Nein. Kishan war nur … der Sündenbock. Ich war sauer auf Ren, weil er mich aus seinem Leben ausgeblendet hat. Weil er mich vergessen hat.«
»Wir wissen immer noch nicht genau, was geschehen ist.«
»Ich weiß.« Ich zupfte am Saum meines Hemdes und seufzte. »Dann sind meine alten Unsicherheiten wieder zum Vorschein gekommen, und ich bin ausgerastet. Er hat die richtigen Knöpfe gedrückt, wofür er ein Talent zu haben scheint, Gedächtnisverlust hin oder her. Er macht mich manchmal so wütend, dass ich ihn einfach schütteln möchte.«
»Wenn er so starke Gefühle in Ihnen entfacht, dann ist es für mich offensichtlich, für wen Sie sich entscheiden sollten.«
»Richtig.« Ich seufzte. »Ich sollte wohl Kishan wählen. Mit ihm hätte ich ein viel friedvolleres Leben.«
Mr. Kadam lehnte sich vor. »Das ist zwar nicht das, was ich meinte, aber die Entscheidung liegt natürlich allein bei Ihnen. Phet scheint der Meinung zu sein, dass Sie keine falsche Wahl treffen können?«
Ich nickte verdrossen.
»Hm. Das ist interessant. Ein wahrlich nervenaufreibender Besuch. Wenn mir die Anmerkung erlaubt ist, so würde ich Ihnen raten, dass Sie lernen, den beiden zu vertrauen. Für die vor uns liegende Aufgabe ist es unerlässlich, dass wir gemeinsam in Eintracht zusammenarbeiten. Wir haben bereits den halben Weg hinter uns gebracht, um den Fluch zu bannen. Durgas dritte Gabe zu finden, wird unsere bis dato größte Herausforderung sein.«
Ich seufzte und stützte den Kopf in die Hände. »Sie haben vollkommen recht. Ich werde mich bei beiden für meinen Wutausbruch und mein störrisches Verhalten entschuldigen, aber damit warte ich bis morgen. Das lässt mir genügend Zeit, um mich zu beruhigen.«
»Gut. Und was hätten Sie gerne zum Abendessen?«
»Was halten Sie von sturem Esel in Sahnesoße?«
Er lachte. »Sollen wir also die Vorratskammer nach Eselfleisch durchsuchen, Miss Kelsey?«
Ich lachte ebenfalls. »Ich frage mich, welche Gewürze am besten zu Esel passen.«
Am nächsten Morgen machte ich mich auf die Suche nach Kishan und fand ihn im Fitnessraum – neben der Küche oder meinem Balkon sein Lieblingsort. Er trainierte gerade und machte Klimmzüge. Ich sah ihm durchs Fenster zu, bewunderte heimlich seine Muskeln und dachte über das nach, was Phet mir gesagt hatte.
Könnte ich Kishan wirklich von ganzem Herzen lieben? Es wäre nicht allzu schwer. Schwer wäre nur, Ren zu vergessen. Vielleicht würde mir das nie gelingen. Meine Eltern hatten nie andere Dates gehabt. Vergisst man denn je seine erste Liebe? Wie schaffen das die Menschen? Könnte ich Kishan mit derselben Zuneigung ansehen, die ich für Ren verspürt habe?
Vermutlich ist das möglich. Überall auf der Welt schlittern Menschen von einer Liebe zur nächsten. Ich hätte nur nie gedacht, dass ich einer von ihnen wäre. Damals, als ich Ren fand, habe ich geglaubt, nie wieder einen anderen Mann ansehen zu müssen. Phet hingegen scheint überzeugt zu sein, dass ich in naher Zukunft eine Entscheidung fällen muss. Ich biss mir auf die Lippe. Es gibt immer noch Hoffnung, dass Ren sich wieder an mich erinnert. Aber was, wenn nicht? Was, wenn er mich nie mehr ohne Schmerzen berühren kann? Gebe ich einfach auf und sage: Danke für die schöne Zeit und tschüss? Wie kann ich mit dem einen zusammen sein, wenn der andere in der Nähe ist?
Ich hörte ein Stöhnen, und meine Blicke glitten zurück zu Kishan.
Was ist mein Problem? Ich Arme! Sich zwischen den zwei wunderbarsten Männern des Planeten entscheiden zu müssen. Gute, liebe, ehrliche Männer, die sich beide wirklich etwas aus mir machen. Beide wunderschöne Prinzen. Kishan wäre gut zu mir. Würde mich lieben. Ein Mädchen könnte es schlechter treffen. Viel schlechter. Das darf ich nie vergessen.
Ich öffnete die Schiebetür aus Glas und setzte mich auf einen Stuhl. Kishan ließ die Klimmzugstange los und sprang auf den Boden. Wie immer war ich überrascht, dass er trotz seiner Größe völlig lautlos landete.
»Hallo«, sagte ich lahm.
Er zog einen Stuhl vor mich und setzte sich, durchbohrte mich mit seinem goldenen Blick. »Auch hallo.«
»Ich wollte nur sagen, es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich wollte mich entschuldigen.«
»Das musst du nicht. Du warst einfach nur frustriert. Das kenne ich.«
»Ich will, dass wir alle uns darauf konzentrieren, den Fluch zu bannen. Wenn es Spannungen zwischen uns gibt, sind wir abgelenkt, und jemand könnte verletzt werden.«
»Und … äh … wie beabsichtigst du, diese Spannungen zu lösen?«
»Das ist eine gute Frage. Am besten wäre es wohl, die Dinge offen anzusprechen.«
»Na gut. Du fängst an.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Was fühlst du für mich?«
Ich sog scharf die Luft ein und murmelte: »Schön, warum um den heißen Brei herumreden, wenn man auch gleich in die Vollen gehen kann? Okay. Offen und ehrlich, nicht wahr?« Ich klemmte mir das Haar hinters Ohr und lehnte mich in dem Stuhl zurück. »Dann leg ich die Karten auf den Tisch. Ich vertraue dir. Ich bin gern mit dir zusammen. Ich empfinde … mehr für dich, als ich sollte. Mehr, als ich will, weshalb mich schreckliche Schuldgefühle plagen. Und Phet meinte …«
»Fahr fort.«
»Phet meinte, ich würde mit jedem von euch beiden glücklich werden und müsste bald eine Entscheidung treffen.«
Kishan schnaubte und betrachtete mich eingehend. »Glaubst du ihm?«
Ich verschränkte die Finger und nuschelte ein leises »Ja«.
»Gut. Ich würde gerne glauben, dass ich dich glücklich machen könnte. Bin ich jetzt an der Reihe?«
»Ja.«
»Na schön. Ganz ehrlich, Kells, ich will dich. Ich will mit dir zusammen sein, und zwar mehr, als ich sonst in meinem Leben jemals irgendetwas gewollt habe. Aber ich sehe, wie du Ren ansiehst, selbst jetzt noch. Du hast immer noch Gefühle für ihn. Starke. Und ich will nicht zweite Wahl sein. Falls du dich je entscheidest, mit mir zusammenzusein, dann weil du mich liebst. Nicht, weil du ihn nicht haben kannst.«
Er starrte mich mit seinen eindringlichen goldenen Augen an, und ich senkte den Kopf unter seinem prüfenden Blick.
»Und was ist, wenn es am Ende auf beides hinausläuft?«, fragte ich leise.
»Ich denke, damit könnte ich leben, solange ich überzeugt bin, dass mir dein Herz gehört. Noch etwas …« Er nahm meine Hand zwischen seine und fuhr imaginäre Linien auf meinem Handrücken nach. »Falls du dich für Ren entscheidest, ist das in Ordnung. Die Hauptsache ist, dass … du glücklich bist.«
»Bedeutet das, du wirst deine Krallen nicht mehr ausfahren?«
»Ren und ich verbringen neuerdings viel Zeit zusammen«, sagte Kishan mit einem Achselzucken. »Er hat mir wegen Yesubai und all der anderen Dinge verziehen, die ich ihm angetan habe. Wenn ihr zwei zueinanderfindet und glücklich werdet, muss ich wohl oder übel damit leben.«
»Er hat recht. Du hast dich verändert.«
Als ich aufstand, schlang Kishan seine Finger um mein Handgelenk und zog mich zurück. Zärtlich glitten seine Fingerkuppen an meinen nackten Armen hoch, was mir eine Gänsehaut verursachte.
»Das bedeutet allerdings nicht, dass ich dich kampflos aufgebe. Ich habe immer noch vor, dich für mich zu gewinnen, Bilauta.«
Er küsste meine Fingerspitzen, bevor er mich losließ. Ich taumelte rückwärts und stählte mich für das bevorstehende Gespräch mit Ren.
Das Problem war nur, ich konnte ihn nicht finden. Ich suchte am Pool, im Garten, in der Küche, dem Musikzimmer und dem Multimediaraum. Keine Spur von ihm. Ich klopfte an seiner Schlafzimmertür.
»Ren? Bist du da drinnen?« Keine Antwort.
Ich drückte den Griff hinunter. Die Tür war unverschlossen. Ich schlich hinein, und mein Blick fiel auf seinen Schreibtisch, der mit Gedichten übersät war, ein Teil auf Englisch, ein paar auf Hindi. Ein Buch mit Shakespeare-Zitaten lag aufgeschlagen da, mit dem Einband nach oben. Ich sank in seinen mit Leder überzogenen Schreibtischstuhl und nahm die Seite zur Hand, an der er gerade arbeitete.
Erinnern
Wo ist das X?
Ein Piratenschatz ward versteckt
Doch die Karte ist verblasst
und nicht zu entziffern
Die Truhe vergraben und abgesperrt
Der Schlüssel fehlt
Das Schiff treibt ziellos
Die Insel verschwunden
Wie soll er ihn wiederfinden?
Den kostbaren Talisman?
Die von der Sonne geküssten Juwelen
Lippen aus funkelndem Rubin
Haare aus goldenen Dublonen
Rinnen einem durch die Hände
Seidene Stoffe, gehüllt um weiche, perlmuttfarbene Haut
Schamesröte aus Mandaringranat
Schimmernde Topasaugen, feurige Diamanten
Ein Duft – zart und rein und verführerisch
Ein wahrlich reicher Mann
Könnte er nur finden
Das X
Ich hatte das Gedicht gerade ein zweites Mal gelesen, da wurde es mir aus der Hand gerissen.
»Ich dachte, du hasst meine Gedichte. Und wer hat dich überhaupt hereingebeten?«, sagte Ren in scharfem Ton, hob jedoch süffisant grinsend eine Augenbraue, als freue er sich auf einen erneuten Schlagabtausch.
»Die Tür war nicht abgesperrt«, erwiderte ich. »Ich habe dich gesucht.«
»Nun, du hast mich gefunden. Was willst du? Weitere Gedichte, die du verbrennen kannst?«
»Nein. Ich habe dir doch gesagt, dass ich deine Gedichte nicht verbrennen werde.«
»Gut.« Ren blickte zu dem Gedicht in seiner Hand und entspannte sich. »Denn das ist das erste, das ich seit meiner Befreiung schreiben konnte.«
»Wirklich? Vielleicht hat Phet deine posttraumatische Störung wirklich behoben«, äußerte ich vorsichtig.
Ren steckte das Gedicht in ein ledergebundenes Notizbuch und lehnte sich gegen den Bettpfosten. »Vielleicht, aber das glaube ich nicht.«
»Und warum kannst du dann wieder schreiben?«
»Anscheinend hat mich die Muse geküsst. Aber warum bist du in meinem Zimmer?«
»Ich wollte mit dir reden. Reinen Tisch machen.«
»Ich verstehe.« Er schritt am Bett entlang, setzte sich ans Kopfteil und klopfte auf die Matratze neben sich. »Dann setz dich und rede.«
»Äh, ich denke nicht, dass wir so nah beisammensitzen sollten.«
»Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Es ist eine gute Belastungsprobe.« Ren klopfte erneut aufs Bett. »Komm näher, subhaga jadugarni.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir gefällt dieser Spitzname nicht besonders.«
»Dann verrat mir, wie ich dich früher genannt habe.«
»Du hast mich Priya, Rajkumari, Iadala, Priyatama, Kamana, Sundari und erst kürzlich Hridaya patni genannt.«
Ren starrte mich mit undurchdringlicher Miene an. »Ich … hatte all diese Kosenamen für dich?«
»Ja, und noch ein paar andere, an die ich mich gerade nicht erinnere.«
Er betrachtete mich nachdenklich. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Komm her. Bitte.«
Gehorsam ging ich näher. Er legte mir die Hände auf die Hüften, darauf bedacht, meine nackte Haut nicht zu berühren, und hob mich auf die andere Seite des Bettes.
»Vielleicht sollte ich mir ein paar neue Spitznamen ausdenken?«, schlug Ren vor.
»Zum Beispiel? Und wehe, wenn es noch mal etwas wie ›Sirene‹ oder ›hübsche Hexe‹ ist.«
Er lachte. »Wie wäre es mit strimani? Es bedeutet ›die beste aller Frauen‹ oder ›das Juwel einer Frau‹. Wäre das in Ordnung?«
»Wie kommst du auf diesen Namen?«
»Ich hatte kürzlich eine Inspiration. Worüber wolltest du eigentlich mit mir reden?«
»Ich wollte die Dinge offen auf den Tisch legen, damit wir uns in der Gegenwart des anderen wohler fühlen. So können wir besser zusammenarbeiten, und alles wird reibungslos ablaufen.«
»Du willst die Dinge offen auf den Tisch legen? Welche Art von Dingen?« Ren musterte mich mit seinen umwerfend blauen Augen. Unwillkürlich neigte ich mich zu ihm, riss mich jedoch in letzter Sekunde zusammen und wich zurück, wobei ich mir den Kopf am Betthaupt stieß.
»Hm … vielleicht ist das keine gute Idee. Es hat bei Kishan geklappt, aber eine innere Stimme sagt mir, dass es bei dir nicht glattlaufen wird.«
Sein amüsierter Gesichtsausdruck war wie weggewischt, und er biss die Zähne fest zusammen. »Was hat bei Kishan geklappt?«
»Wir … haben über unsere Gefühle geredet.«
»Und? Was hat er gesagt?«
»Es wäre wohl keine gute Idee, dir das auf die Nase zu binden.«
Er knurrte leise und murmelte etwas auf Hindi. »Okay, Kelsey, du wolltest reden, also rede.«
Ich seufzte, rutschte zur anderen Seite des Betts und schob mir ein Kissen unter den Kopf. Es roch nach ihm: nach Wasserfall und Sandelholz. Ich sog den Duft tief ein, lächelte unwillkürlich und errötete dann, als ich bemerkte, dass er mich neugierig beobachtete.
»Was tust du da?«
Ich stammelte verlegen: »Wenn du es genau wissen willst, das Kopfkissen riecht nach dir. Und ich mag deinen Geruch nun mal.«
»Wirklich?« Er grinste.
»Ja. Siehst du? Alle Karten sind auf dem Tisch.«
»Nichts liegt auf dem Tisch. Ich mache dir einen Vorschlag. Erzähl mir, was Kishan gesagt hat, und du kannst ihm von mir aus alles verraten, was wir besprechen. Keine Geheimnisse.«
Ich dachte über Kishans mögliche Reaktion nach. Wahrscheinlich würde er Ren zustimmen. »Also schön.« Ich begann zaghaft, erwärmte mich dann jedoch für die Sache. Ich weihte Ren in alles ein, was ich mit Kishan besprochen hatte, und ließ nichts aus. Es war schön, endlich einmal wieder so offen mit ihm zu reden. Früher hatte ich ihm alles sagen können, und er hörte mir nun so aufmerksam wie damals zu. Ich erzählte ihm sogar Dinge, die er während seiner Gefangenschaft verpasst hatte. Dann wartete ich ab und beobachtete, wie er die Informationen aufnahm. Ich endete mit den Worten: »Was dich anbelangt, wollte ich mich entschuldigen, dass ich dich im Dschungel angeschrien habe. Ich weiß, ich war in letzter Zeit eine Nervensäge, und es tut mir wirklich leid. Ich war wütend und verletzt und habe dir die Schuld zugeschoben.«
»Vielleicht habe ich es ja verdient.« Ren hob eine Augenbraue, und dann erhellte ein breites Grinsen sein Gesicht. »Du bist also hier, um dich mit einem Kuss zu versöhnen?«
»Äh, versöhnen ja, Kuss nein.«
»Okay, nur fürs Protokoll. Kishan hat dir versprochen, dich nicht zu küssen, bis er sicher ist, dass die Sache zwischen uns aus ist.«
»Ja.«
»Hast du mir eigentlich irgendwelche Versprechungen gemacht, als wir miteinander gegangen sind? Zum Beispiel, keine anderen Männer zu küssen?«
»Ich habe nie ausdrücklich etwas in Bezug aufs Küssen versprochen. Aber sobald wir zusammen waren, gab es einfach niemanden, den ich hätte küssen wollen. Wenn ich ehrlich bin, gab es auch davor niemanden, den ich hätte küssen wollen.«
»Na schön. Habe ich dir jemals etwas versprochen?«
»Ja, aber das spielt keine Rolle, denn du bist jetzt nicht mehr derselbe Mensch.«
»Raus mit der Sprache! Ich will genau wissen, was ich getan habe, um dich derart zu verletzen, abgesehen von dem offensichtlichen Gedächtnisverlust.«
»Okay.« Ich stieß die Luft aus. »Erinnerst du dich an meine Geburtstagsfeier?«
»Ja.«
»Du hast mir Socken geschenkt.«
»Socken?«
»Am Valentinstag hast du mir die Ohrringe deiner Mutter geschenkt. Ich habe dir gesagt, das wäre nicht nötig gewesen, ich hätte mich genauso über Socken gefreut. Daraufhin hast du gesagt, und ich zitiere: ›Socken sind wohl kaum ein romantisches Geschenk, Kells.‹ An meinem Geburtstag hast du gesagt, du machst dir nichts aus Pfirsich-Sahne-Eis, aber in Tillamook hast du Pfirsich und Sahne genommen, weil es angeblich nach mir riecht. Außerdem hast du gesagt, dass dir Nilimas Parfüm besser gefällt als mein natürlicher Geruch.«
»Gibt es da noch mehr?«
»Ja. Du hast mir gesagt, du würdest nie mehr mit Nilima tanzen, und wenn du über Nilima redest, macht mich das eifersüchtig. Und apropos Eifersucht, du wirst überhaupt nicht mehr eifersüchtig. Du warst ständig eifersüchtig, und jetzt kümmert dich nicht einmal Kishans Flirten. Seit Shangri-La stellt er mir nach. Normalerweise hätte dich das längst zur Weißglut getrieben. So sieht es aus. All das hat mir schlaflose Nächte bereitet, seitdem wir wieder zurück sind.
Ich habe dir einmal gesagt, dass ich mich für dich entschieden habe – nicht für Kishan. Aber jetzt behauptet Phet, dass ich auch mit ihm glücklich werden könnte und bald eine Entscheidung treffen muss. Irgendwie ist das ein tröstlicher Gedanke, denn falls ich nicht mit dir zusammen sein und dich glücklich machen kann, könnte ich, zumindest rein hypothetisch gesehen, ihn glücklich machen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass ich ohne dich glücklich werden könnte.«
Meine Stimme brach. »Und da ich nun schon mal dabei bin, dir mein Herz auszuschütten … Ich liebe deine Gedichte. Sie sind wertvoller für mich als alles andere auf der Welt. Und … ich vermisse dich. Es ist schwer und sonderbar und aufwühlend, in deiner Nähe zu sein und nicht mit dir zusammen zu sein. Oh, und noch etwas: Dieses Lied – an das du dich nicht mehr erinnern kannst – hast du damals für mich geschrieben. Und ich habe versprochen … Ich habe versprochen, dich nie mehr zu verlassen.« Ich senkte den Blick und verstummte. Als ich endlich wieder wagte, durch meine Wimpern zu spähen, starrten mich Rens blaue Augen eindringlich an.
Ein langer Moment verstrich, bevor er sagte: »Nun, wenn das mal kein Geständnis war … Vermutlich bin ich jetzt an der Reihe.« Er machte eine kurze Pause. »Ich fühle nur, wenn du bei mir bist.«
»Was meinst du damit?«
»Normalerweise fühle ich mich taub und leer. Ich erwache erst aus meiner Starre, wenn du in meiner Nähe bist. Ich brauche dich, um zu musizieren, zu lesen oder zu schreiben. Du bist meine Muse, Strimani. Ohne dich scheine ich keinerlei Leben in mir zu haben. Und da wir völlig offen und ehrlich sein wollen, kann ich mit ziemlicher Bestimmtheit behaupten, dass ich mich gerade wieder in dich verliebe. Was die Eifersucht anbelangt, bin ich sicher, dass sie ein Comeback feiert. Wegen der Socken muss ich mich entschuldigen. Mir wurde erst in letzter Minute gesagt, dass du Geburtstag hast, und Kishan hat mir das Geschenk in die Hand gedrückt, wobei ich vermute, dass er es absichtlich getan hat. Ich mag deinen Geruch. Nun, da du es gesagt hast, Pfirsich und Sahne ist tatsächlich eine treffende Beschreibung. Tut mir leid wegen dem Eis, aber ich mag Erdnussbutter-Schoko einfach lieber. Ich verspreche, nicht mehr mit Nilima zu tanzen. Ich finde dich wunderschön, und falls du mir nicht glaubst, solltest du mein Gedicht noch mal lesen. Es handelt von dir. Ich finde dich interessant, lieb, clever und mitfühlend. Ich mag sogar deinen Hitzkopf. Der ist süß. Und wenn es mir nicht unsägliche Schmerzen bereiten würde, würde ich dich auf der Stelle küssen.«
»Wirklich?«
»Ja. Das würde ich. Habe ich nun alles zu deiner Zufriedenheit beantwortet?«
»Ja«, flüsterte ich leise.
»Bist du sicher, es gibt nichts weiter, was ich dir versprochen habe? Bist du noch wegen etwas anderem sauer?«
Ich zögerte. »Ja. Eine Sache ist da noch. Du hast mir einmal versprochen, dass du mich nie verlassen würdest.«
»Ich hatte keine Wahl. Ich wurde gekidnappt. Erinnerst du dich?«
»Es war deine Wahl zurückzubleiben.«
»Um dein Leben zu retten.«
»Tu das bitte nie wieder. Ich will bei dir bleiben und Seite an Seite mit dir kämpfen.«
»Das kann ich dir leider nicht versprechen. Dein Leben ist mir wichtiger als mein Wunsch, dich bei mir zu haben. Aber ich werde, wenn es irgendwie geht, bei dir bleiben. Reicht das?«
»Das klingt wie Mary Poppins. Du wirst gehen, wenn sich der Wind dreht. Aber wahrscheinlich ist das das Beste, was ich bekommen kann.«
Ren sah mir tief in die Augen. »Da ist noch ein Punkt, den ich gerne offen ansprechen würde.«
»Nämlich?«, fragte ich.
»Liebst du mich … immer noch?«
Ich blickte in sein wunderschönes Gesicht und wurde von zärtlichen Gefühlen überwältigt. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich zögerte nur einen Herzschlag, bevor ich einmal nickte. »Ja, ich liebe dich noch immer.«
»Dann können mich die Konsequenzen mal.« Mit zitternder Hand umschloss er mein Kinn und berührte meine Lippen mit seinen, schlang seinen Arm um meine Taille und zog mich zu sich, sodass ich regelrecht auf ihm lag. Bei jedem Kuss murmelte er zärtliche Worte gegen meine Lippen, drückte seine Hände auf meinen Rücken. »Wenn ich … deine Haut nicht berühre … ist es überhaupt nicht schlimm.« Er hauchte sanfte Küsse von meinem Mund bis zu meinem Ohr.
Zögerlich fuhr ich ihm durchs Haar. »Tut es weh, wenn ich dein Haar berühre?«
»Nein.« Er lächelte und presste seine Lippen auf meine Schulter, die von einem T-Shirt bedeckt war.
»Ist es schlimmer, wenn ich dich küsse?«
Ich küsste seinen Scheitel, dann glitten meine Lippen zu seiner Stirn, um sie mit hauchzarten Küssen zu liebkosen.
»Wenn du mein Haar küsst, tut es überhaupt nicht weh, aber wenn dein Mund meine Haut berührt, brennt es. Jedoch auf eine fast angenehme Art.« Er warf mir ein schiefes Grinsen zu.
Ich senkte den Blick auf seine Lippen, da presste er mich stürmisch an seine Brust und küsste mich wieder. Es war zugleich leidenschaftlich und süß, und ich erwiderte sein glutvolles Verlangen. Aber schon viel zu bald begann sein Körper zu beben. Er riss seine Lippen von meinen, stöhnte schmerzgepeinigt auf.
»Es tut mir leid, Kelsey«, keuchte Ren. »Ich kann nicht. In deiner Nähe bleiben.«
Ich drückte mich von ihm weg und rutschte zum äußersten Kopfende. Ren sprang auf und hastete zur Verandatür, wo er mehrmals tief Luft holte. Dann lächelte er mich schwach an, mit blassem Gesicht und zitterndem Körper.
»Kommst du klar?«
Er nickte. »Es tut mir leid. Ich kann jetzt nicht bei dir bleiben.« Im nächsten Moment war er verschwunden.
Ich saß noch eine Weile auf seinem Bett, drückte meine Nase in sein Kissen und sog seinen Geruch in mich auf. Den restlichen Tag über bekam ich Ren nicht zu Gesicht, doch ich fand eine Notiz auf meinem Bett. Sie lautete: »›Wer könnte sich da zügeln, der ein Herz voll Liebe hat und in dem Herzen Mut, die Liebe zu beweisen?‹«
Wahrlich, wer könnte das?
Mr. Kadam war fest entschlossen, Rens Gedächtnistrigger aufzuspüren, und verbrachte unzählige Stunden mit ihm, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ren widmete sich der Sache mit einer Inbrunst, die er vorher nicht an den Tag gelegt hatte. Kishan nutzte diese Gelegenheiten stets, um mich wegzulocken. Entweder sahen wir uns einen Film an oder gingen spazieren oder zum Pool.
Wenn ich Zeit mit Ren verbrachte, redeten wir einfach oder lasen gemeinsam. Er beobachtete mich häufig, und er strahlte mich an, sobald ich aufblickte, um zu sehen, was er gerade tat. Meistens verwandelte er sich später in einen Tiger und saß bei mir oder hielt nachmittags ein kleines Schläfchen, und ich konnte ihn umarmen. Er legte dann den Kopf in meinen Schoß, während ich ihm das Fell kraulte, aber er versuchte kein einziges Mal mehr, mich zu küssen. Die Erfahrung musste so qualvoll gewesen sein, dass er nicht wagte, sie zu wiederholen. Verbissen überging ich die nagende Stimme in meinem Kopf, die pausenlos fragte, was ich tun würde, falls sein Schmerz niemals enden sollte.
Die nächsten paar Wochen half ich Mr. Kadam bei den Recherchearbeiten zur dritten Prophezeiung. Wir fanden heraus, dass wir einem weiteren Tempel Durgas einen Besuch abstatten müssten und zwei neue Waffen erhalten würden – diesmal einen Dreizack und ein Kamandal. Mr. Kadam und ich lasen uns ein paar der Stellen mehrmals laut vor, und ich machte mir von den wichtigen Ergebnissen Notizen. Während einer unserer Sitzungen fiel mir etwas Interessantes auf.
»Mr. Kadam, in diesem Buch heißt es, ein Kamandal ist ein Gefäß, in dem normalerweise Wasser transportiert wird, aber gemäß einiger Mythen soll dort das Lebenselixier oder eine Art geheiligtes Wasser aufbewahrt sein. Außerdem symbolisiert es Fruchtbarkeit. Der Ganges soll angeblich aus einem Kamandal entsprungen sein. Huch. Haben Sie eigentlich Wasser vom Ganges im Haus? Hier heißt es, dass in fast allen indischen Haushalten ein Fläschchen aufbewahrt wird.«
Mr. Kadam lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Nein, das habe ich nicht, aber meine Frau hatte immer etwas im Haus. Der Ganges ist den Menschen in Indien sehr wichtig. In religiöser Hinsicht ist er für die Hindu wahrscheinlich ebenso von Bedeutung wie für die Christen der Jordan. In wirtschaftlicher Hinsicht ist er wahrscheinlich ebenso bedeutend wie der Mississippi für Amerika oder der Nil für Ägypten. Die Menschen glauben, der Ganges habe heilende Kräfte, und die Asche der Toten wird gerne seinen Fluten übergeben. Als meine Frau verstarb, wurde ihre Asche in den Ganges gestreut, und ich hatte immer angenommen, dass mein Ende ebenso aussehen würde, aber das war vor langer Zeit.«
»Wurden Rens Eltern eingeäschert?«
Mr. Kadam setzte sich auf und rieb die Handinnenflächen in langsamen Kreisen aneinander. »Nein. Als Rajaram starb, verfiel Deschen in große Trauer. Ich wollte seinen Leichnam einäschern und seine Überreste zum Ganges bringen, aber sie ließ es nicht zu. Sie ertrug den Gedanken nicht, nicht mehr in seiner Nähe zu sein. Sie müssen wissen, die Hindu glauben, dass die Seele den Toten sofort verlässt. Sie äschern den Toten so rasch als möglich ein, damit die Seele nicht in Versuchung gerät, zu lange unter den Lebenden zu verweilen.
Aber Deschen war Buddhistin, und in ihrer Kultur bleibt der Leichnam drei Tage aufgebahrt in der Hoffnung, dass die Seele ihre Meinung ändert und sich entschließt, wieder in den Körper zu fahren. Wir haben gemeinsam die Totenwache abgehalten und für Rajaram gebetet, und als die drei Tage verstrichen waren, habe ich ein Grab ausgehoben und ihn in ihrem Garten bestattet.
Sie hat die ihr verbleibende Zeit fast ausschließlich im Garten gearbeitet und mit Rajaram gesprochen, als könnte er sie hören. Wenn Kishan nicht auf der Jagd war, leistete er seiner Mutter Gesellschaft und wachte über sie. Aber schon bald wurde sie krank, und während ich sie pflegte, schnitzte ich aus Holz ein Grabmal für ihren verstorbenen Gatten. Als das Grabmal fertig war, wusste ich, dass ich schon bald ein weiteres würde fertigen müssen.
Kurz darauf brach ich auf, um Ren zu suchen. Ich kam häufig zurück, um Blumen auf ihre Gräber zu legen, und im Laufe der Zeit habe ich die hölzernen Grabmale durch Grabsteine ersetzt. Obwohl Rajarams Beerdigung nicht seinem Glauben entsprach, bin ich fest überzeugt, wäre es ihm möglich gewesen, hätte er mich vermutlich gebeten, genau das zu tun, was ich getan habe, damit sie Frieden finden kann.«
Er blinzelte sich Tränen aus den Augen und schob ein Buch auf dem Tisch beiseite. »Ach, entschuldigen Sie meine Gefühlsduselei.«
»Sie haben sie geliebt.«
»Ja. Ich habe seither oft gedacht, dass es mich zutiefst beglücken würde, neben ihnen begraben zu werden, sobald meine Zeit gekommen ist. Ich weiß natürlich nicht, ob dieser Wunsch anmaßend ist, aber es ist für mich ein … besonderer Ort. Ich habe häufig an ihren Gräbern gekniet und ihnen von ihren Söhnen erzählt. Dies ist zwar kein herkömmlicher Brauch in der hinduistischen Kultur, aber ich musste feststellen, dass er mir Trost spendet.«
Mr. Kadam riss sich aus seiner melancholischen Stimmung. »Nun denn, wir haben also über den Ganges gesprochen. Nebenbei bemerkt, es gibt tatsächlich Belege für die heilende Wirkung des Flusses.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich trotzdem lieber nicht in dem Fluss schwimmen.«
»Ich denke nicht, dass Sie im Ganges schwimmen müssen. Dennoch findet in der Prophezeiung das Tauchen ausdrücklich Erwähnung, weshalb ich einen Tauchkurs eingeplant habe.«
»Sind Sie sicher, dass es nicht im übertragenen Sinn gemeint ist? Wie beim Ozeangleichen Lehrer?«
»Nein. Ich bin ziemlich sicher, dass wir es diesmal mit dem Meer zu tun haben. Die anderen beiden Prophezeiungen stützten sich auf die Elemente Erde und Luft. Ich glaube, dass dieser Prophezeiung das Thema Wasser zugrunde liegt – wahrscheinlich sogar das Thema Unterwasserwelt.«
Ich stöhnte. »Das verheißt nichts Gutes, insbesondere der Teil über Tod bringende Ungeheuer, die beißen und schaben. Es gibt unzählige Dinge im Meer, denen ich lieber nicht begegnen würde. Außerdem ist die Kraft der Tiger im Ozean quasi vernachlässigbar, und ich bin mir nicht sicher, ob mein Blitz unter Wasser funktioniert.«
»Ja. Ich muss zugeben, dieselben Gedanken sind mir auch schon durch den Kopf gegangen. Die gute Nachricht lautet, dass ich zu wissen glaube, wonach wir diesmal suchen.«
»Wirklich?«
Mr. Kadam blätterte in einem Buch und fand die Stelle, nach der er gesucht hatte. »Nämlich das hier«, verkündete er und deutete mit großer Geste auf ein Bild. »Sehen Sie sich den Hals an.«
Ich blickte auf das Buch hinunter. Mr. Kadam zeigte auf ein wunderschön gestaltetes Abbild von Durga. Die Göttin trug eine atemberaubende Kette aus Diamanten und schwarzen Perlen.
»Die Kette? Sie denken, dass wir nach der suchen? Und sie ist irgendwo in den Weiten des Meeres versteckt? Kein Problem«, sagte ich fassungslos.
»Zumindest wissen wir, wonach wir diesmal suchen. Ihre Kette wurde angeblich vor vielen Hundert Jahren von einem eifersüchtigen Gott gestohlen – was mich übrigens zu meiner zweiten Entdeckung führt.«
»Und die wäre?«
»Der Ort, an dem wir unsere Suche beginnen werden. Wir werden uns in die Stadt der Sieben Pagoden begeben.«
»Was ist das für eine Stadt?«
»Ach, das werde ich alles heute Abend erklären«, sagte Mr. Kadam geheimniskrämerisch. »Die ganze Geschichte erfahren Sie nach dem Abendessen.«
Trotz meines flehentlichen Bittens, mir unser Ziel sofort zu verraten, beharrte Mr. Kadam darauf, unsere kostbare Zeit lieber der Prophezeiung zu widmen. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir mit konzentriertem Lesen. Mr. Kadam richtete sein Augenmerk auf die Stadt, während ich mehr über die Drachen erfahren wollte.
Nachdem wir das schnellste Abendessen in der Geschichte der Menschheit hinter uns gebracht hatten, versammelten wir uns im Pfauenzimmer. Kishan setzte sich neben mich. Beiläufig legte er den Arm auf meine Stuhllehne und ließ ihn dann dreist auf meine Schultern sinken, als Ren uns gegenüber Platz nahm. Schließlich kam Mr. Kadam herein und machte es sich gemütlich.
»Die Göttin ist unter vielen Namen bekannt«, begann er Durgas Geschichte. »Einer von ihnen lautet Parvati. Parvatis Gatte Shiva war wütend, weil sie ihm nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die er zu verdienen glaubte. Shiva warf sie hinab auf die Welt, wo sie als Sterbliche in einem Fischerdorf ihr Leben fristen sollte.
Obwohl Parvati in Menschengestalt lebte, hatte sie ihre himmlische Schönheit nicht eingebüßt, und viele Männer hielten um ihre Hand an. Shiva vermisste sie schon bald und wurde eifersüchtig ob all der Aufmerksamkeit, die andere ihr zollten. Er sandte seinen Diener Nandi zu dem Fischerdorf.
Dieser stahl ihre Kette und verkündete den Dorfbewohnern, dass die Schwarze Perlenkette der wunderschönen Jungfer unter den Wellen versteckt sei und von einem wilden Hai bewacht werde. Der Mann, der den Hai töten und die Kette finden würde, bekäme Parvati zur Braut.
Was die Männer nicht wussten, war, dass Nandi die Gestalt eines Haies annahm und die Halskette erbarmungslos für seinen Herrn Shiva beschützte. Dieser hatte den Plan ausgeheckt, selbst die Perlen zu retten und die anderen Männer bei dem Versuch umkommen zu lassen. Er hoffte, diese Geste würde genügen, um die Zuneigung seiner Frau zurückzugewinnen.
Schon bald waren alle heiratswürdigen Männer tot und vom Hai gefressen oder zu verängstigt, sich ins Meer zu wagen.
Parvati war untröstlich wegen der sinnlosen Menschenopfer. Nandi, der Hai, patrouillierte in den Gewässern, verbreitete Angst und Schrecken.
Aber es gab einen anderen, niederen Gott, der die Stadt liebte. Viele der Tempel waren zu seinen Ehren erbaut worden. Er war der Gott des Blitzes, des Donners, des Regens und des Krieges und, nebenbei bemerkt, derjenige, der Parvati die Macht des Blitzstrahls schenkte. Sein Name war Indra. Er hatte von dem Grauen gehört, das über sein Volk gekommen war, und er wollte der Sache selbst auf den Grund gehen.
Indra erblickte die wunderschöne Frau in dem Fischerdorf und erkannte nicht die Göttin, die sie in Wirklichkeit war, und entbrannte augenblicklich in Liebe für sie. Er beschloss, sie für sich zu gewinnen, indem er sich als Sterblicher ausgab und den Hai eigenhändig tötete. Das war genau der Plan, den auch Shiva im Sinn hatte, und er war nicht glücklich, dass ein anderer Mann, und noch dazu ein Gott, auf dieselbe Idee gekommen war.
Die zwei Götter, verkleidet als Menschen, strebten nun danach, den Hai zu erlegen und den verborgenen Schatz zu heben. Indra hatte die Macht über das Wetter und ließ schreckliche Stürme und Wellen peitschen, die Nandi, den Hai, verwirrten. Während Indra den Hai in Schach hielt, suchte Shiva den Ozean nach der Kette ab und fand sie bald. Er kehrte genau in dem Moment an Land zurück, als Indra den Leichnam des erschlagenen Monsters ans Ufer zog und die Göttin für sich beanspruchte, da er den mächtigen Fisch erlegt hatte.
Shiva gab seine wahre Identität zu erkennen und erklärte Indra, dass er in Wirklichkeit keinen Fisch, sondern seinen Diener Nandi erschlagen hatte. Der tote Körper des Hais zuckte und verwandelte sich in den lebenden Nandi. Dann legte Shiva Parvati die Kette an. Als das Schmuckstück an seinem rechten Platz war, erinnerte sich Parvati, wer sie war, und umarmte ihren Gatten. Indra war erzürnt und bat die Dorfbewohner, das Urteil zu fällen, wer der wahre Gewinner sei.
Aber die Menschen waren Indra zwar dankbar, dass er den Hai erlegt hatte, die Liebe zwischen Shiva und Parvati jedoch war nicht zu übersehen. Eigentlich hatte Shiva vor, Indra zu töten, doch Parvati hielt ihn zurück. Sie flehte um Gnade für sein Leben, da schon zu viel Leid in ihrem Namen geschehen war. Shiva stimmte zu und brachte sie in Windeseile zurück in sein Königreich. Die Menschen in dem Dorf frohlockten und lebten wieder in Wohlstand, nun da der Schrecken der Meere fort war.
Aber Indra vergaß weder die Schmach noch den Streich, den man ihm gespielt hatte. Eines Nachts schlich er sich in das Heim von Shiva und Parvati und stahl die Kette. Er beschwor hohe Wellen und den Wind herauf, damit das Dorf, das ihn verraten hatte, überflutet werde. Alle Tempel, abgesehen von denjenigen, die Shiva und Parvati gewidmet waren, wurden von den Fluten überspült. Er ließ die Bauwerke als leere Monumente zurück, zur Mahnung, dass niemand übrig war, der die Götter anbeten konnte. Dann versteckte er die Kette und nahm die Gestalt des Hais an, um für alle Zeit über seine gestohlene Beute zu wachen und sich jene Wut vorzustellen, die den Gott Shiva jedes Mal überkommen musste, wenn er die nackte Kehle seiner Gattin sah.«
»Wow«, sagte ich. »Diese Geschichte ist auf so vielen verschiedenen Ebenen verstörend. Eines der Dinge, die mich an der indischen Mythologie verwirren, ist der Umstand, wie häufig sich die Namen ändern. Oder die Hautfarbe – erst ist sie golden, dann schwarz, schließlich pink. Ihre Namen wechseln – sie ist Durga, Kali, Parvati. Ihre Persönlichkeit wandelt sich – sie ist eine liebende Mutter, eine erbitterte Kämpferin, schrecklich in ihrem Zorn, schließlich eine zärtliche Geliebte; sie ist rachsüchtig, sie ist schwach und sterblich, dann wiederum mächtig und weiß sich zu verteidigen. Dann ihr Familienstand – manchmal ist sie Single, manchmal verheiratet. Es ist schwer, all die Geschichten auseinanderzuhalten.«
Ren kicherte. »Hört sich für mich wie eine ganz durchschnittliche Frau an.«
Ich funkelte ihn finster an, während Kishan zustimmend lachte.
»Und Haie? Bitte, bitte versprechen Sie mir, dass kein Hai die Kette bewacht.«
»Ich bin nicht sicher, was Sie erwarten wird. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass es dort keine gibt«, erwiderte Mr. Kadam.
»Hast du Angst, Kelsey? Das musst du nicht. Diesmal werden wir beide bei dir sein«, sagte Ren.
»Lasst es mich mit einem Shakespeare-Zitat sagen: ›Wie können doch nur die Fische in der See leben? Nun, ebenso, wie die Menschen zu Lande: die Großen fressen die Kleinen.‹ Und ich bin eine Kleine. Tiger können nicht gegen Haie kämpfen. Und demzufolge sollte ich wohl demnächst anfangen, meinen Unterwasser-Blitz zu trainieren.« Ich biss mir auf die Lippe. »Was, wenn ich mir selbst einen Stromschlag verpasse und sterbe?«
»Hm. Ein interessanter Denkanstoß«, sagte Mr. Kadam.
Ich umklammerte Kishans Hand. Als er sie aufmunternd drückte, fuhr ich fort: »Wenn ich wählen müsste, würde ich es lieber mit den fünf Drachen aufnehmen.«
Mr. Kadam nickte ernst. Ren und Kishan waren still, sodass Mr. Kadam das Wort ergriff: »Soll ich euch verraten, wohin es diesmal geht?«
»Ja«, sagten die Brüder wie aus einem Munde.
»Wir werden zu Indras Stadt fahren, der Stadt der Sieben Pagoden. Diese Stadt war berühmt für ihre sieben Tempel, deren Kuppeldächer mit reinstem Gold überzogen waren. Es handelte sich um eine alte Hafenstadt, die im siebten Jahrhundert erbaut worden war und neben Mahabalipuram an der Ostküste Indiens liegt. Nebenbei bemerkt, kaum ein Gelehrter glaubte an ihre Existenz, bis ein Erdbeben 2004 den Indischen Ozean heimsuchte und einen Tsunami auslöste, der Sandablagerungen und eine aufwendig gearbeitete Unterwasserstadt freilegte.
Bevor der Tsunami auf die Küste traf, zog sich das Wasser zurück, und die Menschen hoch über dem Meeresspiegel berichteten, Überreste von Gebäuden und große Gesteinsbrocken gesehen zu haben, bevor das Wasser zurückschoss und wieder alles bedeckte. Die Stadtmauer ist etwa eine halbe Meile von der Küste entfernt entdeckt worden.
Elefanten-, Pferde-, Löwen- und Götterstatuen sind seither gefunden worden. Das einzige Bauwerk, das über der Wasseroberfläche geblieben ist, ist der Ufertempel. Jahrhundertelang überlieferten Fischer Legenden und beschworen stets, das Funkeln der versunkenen Stadt unter den Wellen gesehen zu haben sowie riesige Fische, die durch die Ruinen schwammen, funkelnde Juwelen, die nie geborgen wurden, da keiner, der hinabtauchte, jemals wieder gesehen ward.«
»Das hört sich nach einem reizenden Ort an«, sagte ich.
»Marco Polo erwähnte die Stadt 1275 und hob die kupferroten Kuppeln der Tempel hervor, die den Seefahrern als Orientierungshilfe dienten. Ich fühle in jeder Pore meines Körpers, dass dies der Ort ist, an dem wir nach der Schwarzen Perlenkette suchen müssen.«
Ich stieß die Luft aus und erhob mich. »Okay. Dann her mit dem Tauchkurs.«
»Sehr schön, aber zuerst sollten wir hier unsere Zelte abbrechen.«
»Und wohin geht es?«, fragte ich verwirrt.
Mr. Kadam klatschte in die Hände und erwiderte begeistert: »Natürlich auf die Jacht.«