14

Von Drachen und
verlorenen
Kontinenten

Ich streckte die Hand aus, tastete mich blind vor und keuchte auf, als ich warme Finger spürte, die meine berührten. Ich folgte dem zarten Ziehen der Hand, ließ mich führen, bis ich auf eine Barriere stieß. Mit den Fingerspitzen fuhr ich die Oberfläche nach, suchte nach einer Öffnung. Die Hand, die mich umklammert hielt, zerrte fester und zog mich mit einem leisen Knall aus der Dunkelheit. Ich taumelte gegen eine breite Brust, und Arme schlossen sich um mich. Ich befand mich in dem etwas helleren Hauptraum des Ufertempels.

Blinzelnd blickte ich in das Gesicht meines Retters. »Ren?«

»Geht’s dir gut?«

»Ja. Vielen Dank.«

Er stieß ein erleichtertes Seufzen aus und strich kurz über eine meiner Haarsträhnen.

Ich wollte Ren gerade eine Frage stellen, als ich eine Stimme rufen hörte: »Kells? Mr. Kadam! Ich habe sie gehört!«

Mr. Kadam und Kishan kamen aus einem anderen Saal herbeigeeilt.

Kishan zerrte mich aus Rens Umarmung und schlang nun ebenfalls seine Arme um mich. »Wo warst du?« Er wandte sich an Ren. »Wie hast du sie gefunden?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Ren. »Das Steinrelief eines Pferdes mit einem Schal um den Hals erschien an der Wand, das vorher nicht dort gewesen war. Das Pferd verwandelte sich in einen Mann, der auf ein anderes Bild zeigte, das sich auf einmal aus der Wand schälte. Es war Kelsey, die auf einem Stuhl am Fenster saß und nähte. Als ich es berührte, versank meine Hand im Mauerwerk. Dann erhob sich die in Stein gemeißelte Kelsey und kam auf mich zu. Ich streckte die Hand aus, berührte ihre Finger und zog sie näher. Und bevor ich es mich versah, stand sie leibhaftig vor mir.«

Kishan schnaubte: »Ist bei dir alles in Ordnung, Bilauta? Bist du verletzt?«

Mr. Kadam trat vor. »Wir suchen Sie nun schon seit einer geschlagenen Stunde. Wir haben uns allmählich … Sorgen gemacht.«

Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass seine Worte eine Untertreibung waren. Ich umarmte Kishan und tätschelte Ren kurz den Arm, um meine Tiger zu beruhigen. »Ich habe Lady Seidenraupe besucht.« Ich blickte auf die gefaltete Seide, die in meiner Armbeuge lag. »Kommt. Lasst uns zum Schiff zurückkehren. Ich habe euch viel zu erzählen.«

Rasch verließen wir den Ufertempel und begaben uns zur Jacht.

Kishan legte mir den Arm um die Schulter. »Ich hatte Angst um dich, Kells.«

»Ich weiß. Aber jetzt ist alles gut, und wir haben, weswegen wir gekommen sind.«

»Es gefällt mir ganz und gar nicht, dass du einfach so verschwunden bist. Wir konnten dich nicht einmal mit dem GPS-Gerät aufspüren. Du hast dich regelrecht in Luft aufgelöst. Dein Punkt war fort.«

»Es tut mir leid.« Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte ihm den Arm. »Bis der Fluch gebannt ist, müssen wir wohl mit solchen Überraschungen rechnen. Das weißt du.«

»Ja.« Er küsste mir die Stirn. »Ich wünschte, ich könnte immer da sein, um dich zu beschützen. Es ist so frustrierend, wenn einem die Hände gebunden sind.«

Ich nickte und lehnte den Kopf an seine Schulter. Ren beobachtete uns. Einen kurzen Moment sah er mich nachdenklich an, dann richtete er den Blick auf die offene See. Als wir die Jacht erreichten, sprang Ren als Erster aus dem Motorboot und verschwand eilig im Inneren des Schiffs. Kishan erhob sich, um Mr. Kadam zu helfen, und streckte dann die Hand nach mir aus. Wir gingen zur Lounge in der Nähe unserer Kabinen, während sich Mr. Kadam bei Nilima nach der Crew erkundigte.

Wir machten es uns gemütlich, Mr. Kadam in einem Sessel und Kishan und ich auf dem Sofa. »Will Ren denn gar nicht wissen, was vorgefallen ist?«, fragte ich. »Ich dachte, er wird uns bei dem Abenteuer helfen.«

»Ich werde ihm später alles berichten«, entgegnete Mr. Kadam. »Er … will nur anwesend sein, wenn unbedingt nötig.«

»Ich verstehe.« Ich biss mir auf die Zunge und seufzte lediglich, bevor ich Kishans Hand nahm und ihnen die Geschichte von Lady Seidenraupe erzählte, angefangen von dem steinernen Faden, dem ich an der Wand folgte, bis zum Ende, als Ren mich aus dem Mauerwerk führte. Mr. Kadam und Kishan schwiegen während meiner langen Erzählung. Als ich geendet hatte, hielt ich Mr. Kadam das seidene Geschenk hin. Behutsam faltete er es auseinander.

Es war ein schwarzer Seidenkimono. Auf dem Rücken prunkten fünf handgestickte Drachen, die bis ins kleinste Detail wundervoll ausgearbeitet waren. Sie ähnelten eher chinesischen Schlangendrachen als Drachen, wie ich sie kannte. Ihre langen, geschmeidigen Körper wanden und rollten sich ein. Sie hatten einen Bart, lange Zähne und vier kurze Beine mit krallenbewehrten Zehen. Oben links auf der Vorderseite des Kimonos befand sich eine Landkarte mit sieben Punkten und Symbolen. Mit ernstem, eindringlichem Blick besah sich Mr. Kadam das Vorderteil, während Kishan und ich die Rückseite betrachteten.

»Rot, weiß, gold, grün und blau. Ja, das sind tatsächlich unsere Drachen.« Ich fuhr den roten Drachen mit dem Zeigefinger nach. »Kishan … Sieh dir das an.« Er sah aus, als schwebte er in den Sternen. Jeweils ein Symbol umgab jeden der fünf Drachen: Sterne, Wolken, Blitze, Wellen und Schneeflocken. »Ich frage mich, welche Bedeutung sie haben.«

Mr. Kadam legte den Kimono beiseite und ging zu seinem Schreibtisch, um ein Hängeregister aufzusperren und ein paar Unterlagen zu holen. »Meines Erachtens haben wir eine Karte mit Anweisungen vor uns. Sie verrät uns, wohin wir uns wenden und welchen Drachen wir zuerst aufsuchen sollen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.

»Die sieben Punkte stellen die sieben Pagoden dar. Das hier ist der Ufertempel. Neben jedem der Tempel stehen auf Chinesisch die entsprechenden Zahlen. Sehen Sie? Der Ufertempel ist mit der Nummer eins versehen.« Er zeichnete ein Muster nach, wobei er bei dem Symbol begann, das einem Bindestrich glich, und ging dann von einem Punkt zum nächsten vor.

Sternkarte.tif

»Ein Stern!«, verkündete ich.

»Ja, das denke ich auch.«

»Mr. Kadam, Sie meinen also, wir werden den ersten Drachen bei dem Tempel oder der Pagode mit der Nummer zwei finden?«

»Ja.«

»Ihre Theorie hat einen kleinen Haken.«

»Ja, ich weiß.«

Gemeinsam sagten wir: »Es gibt nur fünf Drachen.«

Kishan beugte sich vor. »Was glaubst du, erwartet uns bei der letzten Pagode?«

Mr. Kadam presste die Hände aufeinander, lehnte sich zurück und klopfte mit den Fingern gegen seine Lippe. Schließlich sagte er: »Ich vermute, die Gefahr kommt nicht notwendigerweise von den Drachen, sondern von dem, was ihr in dem letzten Tempel vorfindet. In der chinesischen Mythologie werden Drachen als hilfreiche Geschöpfe verehrt, insbesondere Wasserdrachen.«

»Warum müssen wir die Drachen dann in dieser Reihenfolge abklappern? Wenn wir wissen, dass Durgas Halskette in der letzten Pagode versteckt ist, warum gehen wir nicht einfach dorthin und bringen es hinter uns?«, fragte ich.

Mr. Kadam schüttelte den Kopf. »Nein. Die Anweisungen wurden uns aus einem bestimmten Grund gegeben. Vielleicht werden die Drachen Sie führen oder Ihnen helfen, zum nächsten Tempel zu gelangen. In Shangri-La hätten Sie auch nicht die vier Häuser überspringen können. Sie mussten jeden Test bestehen, bevor Sie sich als würdig erwiesen hatten und weiterziehen durften. Ich vermute, dass den Drachen eine ähnliche Bedeutung innewohnt.«

Ich stöhnte laut. Da begann Mr. Kadam, uns Geschichten über Drachen zu erzählen, und bevor ich michs versah, war ich vor lauter Erschöpfung an Kishans Schulter eingeschlafen.

»Warum geht ihr zwei nicht zu Bett«, hörte ich Mr. Kadam irgendwann sagen, »während ich mir die Sache noch ein wenig genauer anschaue. Morgen werde ich euch berichten, was ich über die sieben Pagoden in Erfahrung gebracht habe. Wir treffen uns nach dem Frühstück wieder hier.«

Kishan drückte meine Hand, als ich schläfrig nickte. Wir wünschten Mr. Kadam eine gute Nacht, und Kishan begleitete mich zu meiner Kabine.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt und in meinen Pyjama geschlüpft war, fand ich Kishan in meinem Zimmer vor, der es sich auf meinem Bett bequem gemacht hatte, mit nichts weiter bekleidet als einer Freizeithose, die gefährlich tief auf seinen Hüften hing.

»Äh … was gibt’s?«, stammelte ich nervös.

»Ich dachte, wir könnten etwas Zeit zusammen verbringen, falls du nicht zu müde bist.«

»Oh.«

Er klopfte auf die freie Seite neben sich, und ich ging zögerlich aufs Bett zu.

Was ist nur los mit mir? Immerhin ist er mein Freund, oder nicht? Wäre das Ren auf dem Bett, hätte ich keine Sekunde gezögert. Warum bin ich bei Kishan derart nervös?

Er beobachtete mich mit einer Mischung aus Neugierde und einem Hauch Traurigkeit, weshalb ich meine treulosen Gedanken aus meinem Bewusstsein verbannte und zu Bett ging. Er legte den Arm um mich, zog mich an seine warme, breite Brust und strich mir über den Rücken. Schließlich entspannte ich mich, und wieder überfiel mich eine unsägliche Müdigkeit.

»Was ist los?«, fragte er leise.

»Nichts, wirklich. Ich denke, ich bin nur etwas nervös bei der Vorstellung, dir körperlich so nah zu sein.«

Ich hörte ein Grollen in seiner Brust. »Du musst bei mir nicht nervös sein, Kells. Ich würde dir niemals wehtun.«

Meine Erinnerungen hüpften zu einem grün gefärbten Feuer zurück. Ich lag in Rens Armen, als er genau dieselben Worte aussprach. Kelsey, ich hoffe, du weißt, dass ich dir nie wehtun würde. Mein Herz klopfte im falschen Rhythmus. Für eine Sekunde fühlte es sich an, als würde es entzweigerissen.

Ich legte den Arm auf Kishans Brust und umarmte ihn. »Ich weiß, dass du mir niemals wehtun würdest. Nimm es nicht persönlich. Ich finde es schön, so in deiner Nähe zu sein.«

»Gut«, schnaubte er, »denn ich bewege mich keinen Zentimeter weg.« Er nahm meine Hand und drückte sie an seine Brust, hielt sie dort gefangen. »Bist du müde?«

Ich nickte. »Du nicht?«

»Noch nicht. Schlaf ruhig.«

Ich machte es mir an seiner Schulter bequem und fiel in einen ruhigen Schlaf, ohne zu bemerken, dass er sich längst in einen Tiger verwandelt hatte.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück trafen wir uns mit Mr. Kadam, der seine gesamten Rechercheergebnisse über die Stadt der Sieben Pagoden vor sich ausgebreitet hatte.

»Die erste urkundliche Erwähnung der Stadt geht auf Aufzeichnungen eines Mr. John Goldingham im Jahre 1798 zurück. Entweder kannte er die Tempel nur vom Hörensagen, oder sie waren zu jener Zeit noch nicht überspült.

Wie ich euch schon erzählt habe, heißt es, dass Marco Polo die Stadt besucht haben muss, da sie auf einer seiner Weltkarten von 1275 verzeichnet ist. Allerdings gibt es dafür keine Belege. Was mich am meisten interessiert, sind die Verbindungen, die ich zu Shangri-La gefunden habe.«

»In welcher Beziehung steht die Stadt mit Shangri-La?«, fragte ich.

»Erinnern Sie sich an die utopischen Gesellschaften, die wir recherchiert haben, und wie sich das Motiv der Flut durch alle Kulturen zieht?«

»Ja.«

»In Shangri-La wurden die Mythen mehrerer Kulturen verwoben. Dort trafen Sie auf die Raben Hugin und Munin aus der nordischen Mythologie, die Sirenen aus der griechischen. Der Ozeangleiche Lehrer stammt aus Tibet, die Geistertore sind aus Japan und die Kappa in Kishkindha aus der chinesischen Mythologie … All das geht über Indien hinaus, und aus diesem Grund habe ich begonnen, in anderen Kulturen nach versunkenen Städten zu suchen. Die wohl bekannteste ist …«

»Atlantis.«

Mr. Kadam lächelte mich an. »Korrekt. Atlantis.«

»Was ist Atlantis?«, fragte Kishan.

Mr. Kadam wandte sich an ihn. »Atlantis gilt als fiktive Schöpfung Platos, auch wenn es Gelehrte gibt, die annehmen, die Sage beruhe auf Tatsachen. Die Insel Atlantis, heißt es, sei ein wunderschönes Land gewesen, das Poseidon gehörte. Ihr Herrscher war Poseidons Sohn Atlas, daher der Name. Die Insel war angeblich größer als Australien und lag im Atlantischen Ozean – der übrigens ebenfalls nach Atlas benannt ist – einige Meilen von den Säulen des Herakles oder der Straße von Gibraltar entfernt.

Poseidon war stolz auf seinen Sohn und die starken, mutigen Menschen, die auf seiner Insel lebten. Doch obwohl das Paradies den Menschen alles bot, was ihr Herz begehrte, wurden sie habgierig und verlangten nach mehr. Sie schufen ein Heer und begannen, die Gebiete jenseits der Säulen des Herakles zu unterwerfen. Dieses Verhalten wurde von den Göttern im Großen und Ganzen toleriert, doch die Atlanten zwangen die Besiegten in die Sklaverei.

Nun trafen die Götter zusammen und besprachen, was dort vor sich ging, und Schritte wurden eingeleitet, um diesen Missstand aufzuheben. Erdbeben, Feuer und Fluten wurden herabgesandt, um die Atlanten zur Räson zu bringen, aber die Gier nach Macht und Reichtum war so groß, dass sie sich weigerten, ihre Sitten zu ändern. Schließlich zwangen die Götter Poseidon, Atlantis zu zerstören. Er ließ die Meere anschwellen und rief mächtige Erdbeben herbei, um das Land in Stücke zu reißen. In seinem Zorn schleuderte er Teile der zerstörten Insel übers Meer, wo sie versanken und in Vergessenheit gerieten. Atlas, der ein weiser Mathematiker und Astronom gewesen war, wurde von den Göttern bestraft und gezwungen, allein das Gewicht des Himmels zu stemmen.«

»Einen Augenblick, ich dachte, Atlas hätte die Erde auf dem Rücken getragen«, sagte ich.

»Nein, er trägt das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern. Homer sagte, Atlas sei ›derjenige, der die Untiefen aller Meere kennt, der die hohen Säulen trägt und Himmel und Erde voneinander trennt‹. In den Überlieferungen heißt es, als Atlantis zerstört und in Stücke gerissen wurde, wäre Atlas tief verzweifelt gewesen und hätte große Qualen wegen seines Volks erlitten. Die Götter waren enttäuscht von ihm, und was noch schlimmer war, er hatte den Respekt seines Vaters verloren. Bei jedem Teil, der fortgerissen wurde, hatte Atlas das Gefühl, er wäre ihm aus der Brust geschnitten worden. Das ist der Grund, weshalb Atlas auf vielen Bildern niedergebeugt und zu Tode betrübt dargestellt wird, während er seine Strafarbeit erledigt.«

»Das alles wusste ich gar nicht. Aber Sie meinten, es gibt noch andere versunkene Städte. Von denen habe ich nie gehört.«

»Es gibt tatsächlich unzählige versunkene Städte. Mehr, als ich benennen kann. Jede Geschichte hat mich zu fünf weiteren geführt. Da wäre Meropis, ein von dem antiken Schriftsteller Theopompus erdachtes Land; der versunkene Kontinent Mu, der im Pazifik zwischen Polynesien und Japan überschwemmt worden sein soll; und Lemuria, ein verschollenes Land, das entweder im Indischen oder Pazifischen Ozean versunken sein soll. Dann wären da noch Kumari Kandam, ein versunkenes Königreich, das auch ›Land der Reinheit‹ genannt worden und am indischen Südkap gelegen haben soll; und Ys oder Ker-Is in der Bretagne. Die Dänen haben Vineta, die Ägypter Menouthis und Herakleion, Jamaika hat Port Royal und Argentinien Santa Fe la Vieja.

Einige dieser Städte sind gefunden worden, andere bleiben Mythen. Der rote Faden in diesen Geschichten ist stets, dass die Menschen den Zorn der Götter heraufbeschworen haben und vom Meer bestraft wurden. In vielen Legenden heißt es, wenn man diese Städte aufsucht, zieht man den Fluch auf sich, der ursprünglich gegen die Bewohner ausgestoßen wurde.«

»Existiert auch für die Stadt der Sieben Pagoden ein solcher Fluch?«, fragte ich.

»Ich hoffe nicht. Vielleicht können wir, indem wir Lady Seidenraupes Anweisungen folgen, das Schicksal vermeiden, das den Menschen dort widerfahren ist. Womöglich wird uns die See verschonen.« Mr. Kadam gab uns Abbildungen der fünf Drachen. »In der chinesischen Kultur steht einer für jede Himmelsrichtung: Norden, Süden, Osten und Westen. Wobei der fünfte Drache übrig bleibt.«

»Vielleicht ist er obdachlos oder der Mittelpunkt der Welt«, schlug ich vor.

»Könnte sein. Tatsächlich wird an einer Stelle von einem heimatlosen Drachen gesprochen, aber vermutlich liegen Sie mit dem Mittelpunkt der Welt richtiger. Sie werden auch die Drachen der fünf Meere genannt.«

»Und was sind die fünf Meere?«

»Der Ozean des Nordens ist die Arktis, der Pazifik der Osten, der Atlantik der Westen, der Indische Ozean die Mitte und der Südliche Ozean der Süden.«

»Wir haben demnach für jeden Drachen einen Ozean. Glauben Sie, wir werden zu jedem reisen müssen?«

»Nein. Ich vermute, dass wir alles, was wir suchen, hier vorfinden. Vielleicht werden sie herbeigerufen.«

»Sie pendeln also zur Arbeit.«

Mr. Kadam lächelte. »Ja. So könnte man es wohl ausdrücken.«

Ich hob ein Blatt Papier mit dem Bild eines chinesischen Drachentanzes hoch. »Ich habe einen solchen Tanz bei einer Hochzeit gesehen, auf die ich mit Li gegangen bin.«

Ich reichte Kishan das Bild, während Mr. Kadam nickte und mit seinen Erklärungen fortfuhr: »Der Drachentanz ist ein typischer Bestandteil des chinesischen Neujahrsfests. Er wird zu Ehren des Drachen getanzt und bittet ihn, den Tänzern im kommenden Jahr nur Gutes widerfahren zu lassen. Drachen bringen den Regen, beschützen Wasserstraßen, bewachen Schätze und sind für Kraft, Reichtum, Glück und Fruchtbarkeit verantwortlich. In früheren Jahrhunderten habe die Chinesen sich sogar ›Kinder des Drachen‹ genannt.

Bei einer Hochzeit bittet das frisch vermählte Brautpaar die Drachen, die Verbindung zu segnen. An Neujahr bitten alle Einwohner um ihren Segen. Nebenbei bemerkt, habe ich auch eine kleine Recherche zum Thema Farben durchgeführt. Allem Anschein nach haben die Farben unterschiedliche Besonderheiten und Eigenschaften. Schwarze Drachen gelten als böse und verschlagen. Rote werden mit Blut, Wut, Zorn, Liebe, Feuer, Leidenschaft und Vulkanen in Verbindung gebracht. Blaue Drachen sind friedfertiger. Sie lieben Eis und kalte Gewässer. Goldene sind die Könige und Königinnen der Drachen und häufen Reichtümer an. Grüne können heilen und das Wohlbefinden steigern, sind jedoch gleichzeitig für Erdbeben verantwortlich, speien Säure und fressen Menschen. Weiße Drachen sind nachdenklich und weise, werden nur selten gesichtet, erzählen Halbwahrheiten, sind Todesboten, und ihre Schuppen glänzen wie Spiegel.«

»Hört sich verlockend an.«

Kishan legte den Arm um mich und drückte meine Schulter.

»Vergessen Sie nie, Miss Kelsey, dies ist nur meine Recherche. Ihre Drachen können damit übereinstimmen oder völlig anders sein.«

»Ich weiß.«

»Die Hälfte meiner Nachforschungen in Bezug auf Kürbisse war nicht zutreffend, nicht wahr?«

»Ja. Ich erinnere mich. Aber es ist trotzdem ein angenehmes Gefühl, gut vorbereitet zu sein.«

»Vielleicht wäre es hilfreich, wenn du uns noch einen Überblick verschaffst, wie man sie töten kann … nur für alle Fälle«, schlug Kishan vor.

Mr. Kadam stimmte zu und sprach während der folgenden zwei Stunden leidenschaftlich über die verschiedenen Arten von Drachen und ihre Eigenschaften. Nachdem er schließlich überzeugt war, dass wir alles wussten, was es über Drachen zu wissen gab, schlug er vor, zur Brücke hinaufzugehen, um uns einige der Landkarten des Kapitäns genauer anzusehen. Als ich beiläufig fallen ließ, dass wir auf dem Oberdeck zu Mittag essen könnten, erklärte er, dass wir auf die Goldene Frucht angewiesen waren, weil er der gesamten Crew Landurlaub gegeben hatte, einschließlich des Kapitäns und seines ersten Offiziers.

Ich holte die Goldene Frucht, während Mr. Kadam behutsam seine Notizen ordnete und sie wieder in der Schreibtischschublade verschwinden ließ. Dann machten wir uns auf den Weg zur Brücke, wobei Mr. Kadam den Kimono mitnahm, damit er ihn später mit den Landkarten vergleichen konnte. Als wir ankamen, zog er eine große, laminierte Karte vom Golf von Bengalen heraus. Die Frucht lieferte Sandwiches und ein Tablett mit aufgeschnittenen Melonenscheiben, die ich Mr. Kadam anbot, doch er machte nur eine abwehrende Handbewegung, derart konzentriert war er auf sein Unterfangen. Kishan und ich aßen ohne ihn.

Bedächtig fuhr ich noch einmal den roten Drachen nach, bevor ich den Kimono, mit der Drachenseite nach unten, auf dem Regal über der Reihe an Monitoren ausbreitete. Ich legte den Finger auf den Ufertempel und folgte der Stickerei bis zum roten Punkt, der Ersten der sieben Pagoden. Der rote Punkt begann zu wachsen, und meine Hand glühte. Die Fäden trennten sich auf und fingen an, mit unsichtbarer Nadel neu vernäht zu werden, bevor sie auf der anderen Seite des Kimonos verschwanden.

Nervös rief ich nach Kishan und Mr. Kadam, die beide über die Landkarte gebeugt waren, und drehte den Kimono um. Die roten Stiche bewegten sich immer noch, bis sie den roten Drachen erreichten. Der Drache blinzelte und knurrte, dann machte er es sich wieder auf dem Stoff gemütlich.

Von Panik ergriffen, rief ich: »Was habe ich nur getan? Was geschieht hier?«

Mr. Kadam eilte herbei und legte mir beruhigend die Hand auf den Arm, doch dann erstarrte er. »Spürst du das ebenfalls, Kishan?«

»Ja.«

»Was? Was ist los?«, fragte ich. Beide drehten sich zum Fenster und starrten aufs Meer.

»Sagt schon. Was geht hier vor sich?«

Kishan legte mir die Hände auf die Schultern. »Das Schiff, Kells. Wir bewegen uns.«