7

Die Jacht

Mr. Kadam verkündete, dass wir am nächsten Morgen in aller Frühe nach Mumbai abreisen würden, weshalb wir unseren letzten Tag auf dem Festland genießen und uns entspannen sollten. Wir schliefen alle aus. Als ich schließlich meine Zimmertür öffnete, wartete Ren auf der anderen Seite.

Er lächelte und sagte: »Wie wäre es mit Frühstück?«

»Sicher.« Ich lächelte schüchtern zurück. »Schokoladen-Erdnussbutter-Bananen-Pfannkuchen?«

Er blinzelte. »Schmeckt mir das denn?«

»Wir hatten früher lange Diskussionen über deine Pfannkuchen-Präferenzen. Komm schon, Tiger.«

»Wenn ich dich noch nicht lieben würde, hättest du mich hiermit verzaubert«, murmelte er nach den ersten Bissen von unseren selbst gebackenen Pfannkuchen mit vollem Mund. »Was kann ich für dich tun, das auch nur annähernd so gut ist? Da muss es doch etwas geben.«

»Die Pfannkuchen sind wirklich lecker und auf jeden Fall einen Kuhhandel wert. Hm, weißt du, was ich vermisse? Deine Massagen, die sind die besten der Welt. Deine Hände sind magisch, aber das würde dir im Moment wohl zu große Schmerzen bereiten. Vielleicht bitte ich Kishan. Er ist auch nicht schlecht. Ich glaube, ich habe mir heute Nacht den Nacken verrissen.«

Ren legte seine Gabel hin und sah mich stirnrunzelnd an. »Ich will, dass Kishan die Hände von dir lässt. Lieber ertrage ich die Schmerzen.«

»Das musst du nicht. Er ist Experte.«

»Kishan ist in vielen Dingen ein Experte, und das Ausspannen von Freundinnen steht ganz oben auf seiner Liste.«

»Bin ich das für dich? Deine Freundin?«

Ren suchte mein Gesicht mit seinen blauen Augen ab. »Willst du das denn nicht sein?«

»Ich dachte nicht, dass du schon so weit wärst, unserer Beziehung diesen Stempel aufzudrücken.«

»Irgendwelche Stempel sind mir weniger wichtig als mein Gefühl. Ich will mit dir zusammen sein, und je weiter ich Kishan von dir entfernt weiß, desto lieber ist mir das.«

»Beeilst du dich so, weil Kishan Interesse zeigt? Stürzt du dich auf das Reh, bevor der andere Tiger zum Sprung ansetzt? Ist es das?«

»Darin mag ein Körnchen Wahrheit stecken«, gestand er kleinlaut. »Aber das bedeutet nicht, dass es ein Fehler ist, in unserer Beziehung einen Schritt nach vorne zu machen. Du fühlst dich einfach richtig an. In jeder Hinsicht.« Er grinste. »Nun? Willst du wieder meine Freundin sein?«

»Ich habe nie wirklich aufgehört, deine Freundin zu sein. Ich habe immer zu dir gehört.«

Ren warf mir sein atemberaubendes Lächeln zu, das zum Dahinschmelzen war, und sagte: »Genau das wollte ich hören.« Er nahm meine Hand, küsste sie und biss dann wieder genüsslich in seinen Pfannkuchen.

Ich runzelte die Stirn und drehte meine Gabel im Sirup. »Ich muss mit Kishan reden.«

»Wann wirst du es ihm sagen?«

»Je früher, desto besser. Wahrscheinlich ist er immer noch sauer auf mich, weil ich ihn gestern Abend versetzt habe.«

»Gut. Okay, wir treffen uns in etwa einer Stunde wieder hier. Ich mach solange Klarschiff, und du redest mit ihm.«

»Warum? Was tun wir in einer Stunde?«

»Ich habe vor, den Tag mit dir zu verbringen … als Tiger. Der Vorteil liegt darin, dass ich viele Stunden bei dir sein kann, ohne einen Nebeneffekt zu verspüren. Und falls du dem Drang nicht widerstehen kannst, mir den Rücken zu streicheln, die Ohren zu kraulen oder mich zu küssen, umso besser.«

Ich lachte. »Okay, also alles wie in alten Zeiten. Bis später.«

Nachdem ich ihm einen Kuss auf den Kopf gedrückt hatte, machte ich mich auf die Suche nach Kishan.

Ich musste mein Handy-GPS benutzen, um ihn aufzuspüren. Er war im Wäldchen hinter dem Haus und benutzte die Chakram, um einen Baum dem Erdboden gleichzumachen. Ich hörte das Zischen der zurückfliegenden Scheibe und duckte mich automatisch.

Er redete mit mir, ohne sich umzudrehen. »Was bringt dich hierher? Ist es dir mit Ren langweilig geworden?«

»Du bist sauer auf mich.«

Er seufzte. »Ich bin nicht sauer. Ich bin nur … Ich bin ein wenig verstört.«

»Können wir reden?«

Endlich drehte er sich um und sah mich an. Er war unglücklich, aber er nickte und streckte die Hand nach mir aus. Ich nahm sie, und er führte mich zu einem umgestürzten Baumstamm, an den wir uns setzten.

»Zuallererst, es tut mir leid, dass ich dich gestern Abend versetzt habe. Ren hatte diese große Sache geplant, und er hat sich wirklich richtig viel Mühe gegeben.«

Kishan schleuderte einen Stein gegen einen Baum, wo er mit einem lauten Rumms abprallte und auf den weichen Boden fiel. »Das kann ich mir bildlich vorstellen.«

»Genau«, fuhr ich fort. »Aber ich habe die Zeit mit dir wirklich genossen.«

»Kells, hör auf. Du musst nichts erklären. Du wolltest mit ihm zusammen sein, deshalb bist du mit ihm weggegangen. Aus, basta. Du hast mir keinerlei Versprechungen gemacht, und du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn ich mir Hoffnungen gemacht habe, ist das meine Schuld, nicht deine. Ich habe deine Geste einfach falsch gedeutet.«

»Was meinst du damit? Welche Geste?«

»Als du deine Laterne ins Feuer geworfen und mich angelächelt hast, dachte ich, dass es vielleicht, ganz vielleicht, bedeutet, dass du dich für mich entschieden hast.«

»Das stimmt auch … irgendwie. Ich habe meine Laterne nicht ins Wasser gesetzt, weil ich weiß, dass der Mann, mit dem ich letztlich zusammenkomme, hier ist.«

»Sicher, Ren.«

»Ich hoffe, dass er es sein wird. Wir haben gestern Nacht geredet, und er hat mir seine Liebe gestanden. Er will versuchen, wieder mit mir zusammen zu sein.«

»Ihr seid also wieder ein Paar?«

»Soweit wir das können. Und ich habe an ihn gedacht, als ich die Laterne ins Feuer geworfen habe. Aber ich habe auch an dich gedacht.«

»Und wie ist das möglich?«

Ich seufzte und zog die Knie an die Brust. »Ich denke, ich habe an dich gedacht, weil ich weiß, dass für den Fall, dass ich nicht mit Ren zusammen sein kann, ich dich wählen würde.«

»Ich bin also eine Art Ersatzspieler? Dein Plan B?«

»So habe ich das nicht gemeint. Du bist weder zweite Wahl, noch die schlechtere oder die falsche Wahl. Du bist eine andere Wahl. Ich denke, ich war mir bei dem Mann weniger sicher als bei der Familie. Ich gehöre hierher. Ich bin ein Teil von euch.«

Er schnaubte. »Das ist wahr. Und wenn dich Ren noch mal gehen lassen sollte, werde ich dich todsicher zurückhalten.«

Ich nickte. »Vermutlich bin ich einfach nur felsenfest davon überzeugt, dass ich irgendwie zu euch Tigern gehöre.«

»Du gehörst zu uns.« Kishan legte mir den Arm um die Schulter und zog mich näher.

»Ich weiß nicht, wie all das hier ausgehen wird. Ich habe dir ein Happy End versprochen, und ich hoffe immer noch, dass es eintreten wird.«

»Ich halte das für wenig wahrscheinlich, aber danke, dass du nicht all meine Hoffnungen zerstört hast.«

»Ich weiß nicht, ob ich dir damit einen Gefallen tue.«

»Das tust du. Du hast dich uns verschrieben. Egal was geschieht, du gehörst zu Ren und mir. Du wirst immer in meiner Nähe sein, und das ist ein beruhigender Gedanke.«

»Und ich weiß, dass ich immer euch zwei haben werde.«

Ich schmiegte den Kopf an seine Brust, zuckte vor Schmerz zusammen und rieb mir den Hals.

»Ich habe mir heute Nacht den Nacken verrenkt.«

»Ich könnte mit einer Massage dienen.«

»Ren würde die Wände hochgehen. Er will, dass du die Finger von mir lässt.«

»Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Dreh dich um.«

Nach einer gründlichen Nackenmassage wanderte ich zurück ins Haus, wo Ren in der Bibliothek auf mich wartete. Wie angekündigt verwandelte er sich in den weißen Tiger und machte es sich auf meinem Schoß bequem. Zuvor hatte ich ihm noch das Versprechen abgenommen, dass er sich mit feuchten Tigerküssen zurückhalten würde, doch er leckte mir trotzdem den Arm. Ich streichelte ihm das Fell und las ihm Gedichte vor, während er vor sich hindöste.

Er blieb in Tigergestalt und folgte Kishan und mir später am Abend in den kleinen Kinosaal, um sich dort mit uns einen Film anzusehen. Ich setzte mich neben ihn auf den Fußboden und fütterte ihn mit Popcorn, das er mir aus der Hand schleckte. Dann lehnte ich den Kopf an Kishans Knie und schlief ein.

Als ich mitten in der Nacht erwachte, lag ich, in die Steppdecke meiner Großmutter gehüllt, auf meinem Bett. Ich strampelte die Decke fort und schwang in dem stockdunklen Zimmer die Beine über den Bettrand. Meine Füße berührten einen pelzigen Körper.

»Ren? Bist du das?«

Der Tiger schnurrte als Antwort. Ren.

Ich lächelte und küsste ihn auf meinem Weg zum Bad auf den Kopf. Nachdem ich mir die Zähne geputzt und einen Pyjama angezogen hatte, eilte ich zurück zum Bett. Da bemerkte ich ein Paar goldene Augen, die mich von der Veranda aus anstarrten. Ich öffnete die Tür und tätschelte den schwarzen Tiger.

»Vielen Dank, dass du mich ins Bett getragen hast. Gute Nacht.« Ich küsste ihn ebenfalls auf den Kopf und legte mich wieder schlafen.

Am nächsten Morgen hörte ich ein Klopfen an der Tür und gedämpfte Stimmen. Ich schlief prompt wieder ein, bis ich Rens sanfte Berührung an meiner Stirn spürte.

»Zeit aufzuwachen, du Langschläfer. Wir fahren zur Jacht.«

Ich rollte mich auf die andere Seite und murmelte in mein Kissen: »Noch fünf Minuten. Okay?«

»Ich würde dir liebend gerne noch fünf Minuten geben, aber Kadam ist abfahrbereit.«

Ich stöhnte und schüttelte den Kopf, als Ren mir das zerzauste Haar aus dem Gesicht strich. »Du bist so süß, wenn du quengelst. Komm schon, Iadala. Wir müssen los.«

»Ren? Du nennst mich längst nicht mehr Iadala, was beweist, dass ich immer noch träume. Lass mich schlafen.«

»Na schön, dann Strimani

»Hm. Mir gefällt Iadala besser.«

»Okay, wir treffen uns unten.«

Nachdem ich geduscht, mich angezogen und mir meine Tasche geschnappt hatte, hockten die anderen längst wartend im Wagen. Mr. Kadam saß am Steuer, Kishan neben ihm, Ren auf der Rückbank. Als ich Kishan einen verwirrten Blick zuwarf, lächelte er traurig und bedeutete mir, dass ich hinten Platz nehmen sollte. Ren strahlte übers ganze Gesicht, als ich mich ins Polster fallen ließ, drückte mir einen Kuss auf den Scheitel, nahm dann Tigergestalt an und legte mir den Kopf in den Schoß.

Mr. Kadam drehte sich zu uns um. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Miss Kelsey?«

»Sicher. Sie haben nicht zufällig ein Frühstück to go dabei?«

»Ich habe die Goldene Frucht in meinem Rucksack«, schaltete sich Kishan ein. »Wünsch dir, was auch immer dein Herz begehrt.«

Ich bat um einen Blaubeer-Smoothie. Interessiert blickte Ren zu meinem Getränk.

»Vergiss es, Tiger. Das letzte Mal war es eine widerlich klebrige, tigerspuckige Angelegenheit. Möchtest du vielleicht etwas anderes?«

Er murrte und senkte den Kopf.

»Na schön. Falls du später hungrig wirst, lass es mich wissen.«

Mr. Kadam, Kishan und ich unterhielten uns den ganzen Weg über die Prophezeiung, und ich war derart in unser Gespräch vertieft, dass es mich völlig unerwartet traf, als wir in den dichten Verkehr Mumbais eintauchten. Ren schnurrte leise. Es war schön, ihn berühren zu können, wenn auch nur den Tiger in ihm. Ich streichelte ihm den Kopf, vergrub die Finger in das weiche Fell seines Halses und massierte es leicht, was ihn in eine Art Tigertrance fallen ließ.

Ich kurbelte mein Fenster nach unten und roch das Meer und die würzigen Gerüche Mumbais. Mr. Kadam bahnte sich geschickt einen Weg über einen Fischmarkt, und als sich mehrere Verkäufer auf unseren in Schrittgeschwindigkeit dahintuckernden Wagen stürzten, schloss ich das Fenster rasch wieder.

Wir fuhren über den Markt zum Hafen, ließen einen Anlegesteg nach dem anderen und unzählige Boote hinter uns. Ich fragte Mr. Kadam, welches unseres sein würde.

»Keines davon, Miss Kelsey. Unseres ist weiter draußen.«

»Oh.«

Die Schiffe wurden immer größer, je weiter wir kamen.

Schließlich hielt Mr. Kadam vor einem umzäunten Anwesen, und Kishan steckte eine Karte in den Schlitz des Lesegeräts. Das Tor schwang auf, und wir fuhren an einem schicken Gebäude mit uniformierten Arbeitern entlang, die sich um die weitläufigen Außenanlagen kümmerten.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein Jachtclub.«

Wir folgten der kreisförmigen Auffahrt um das Gebäude bis zum Meer und bogen auf eine Straße, die über dem Wasser gebaut war und zu einem sternförmig verzweigten Pier führte, an dem riesige Schiffe vertäut lagen.

Meine Kinnlade klappte herunter. »Ihr besitzt ein Kreuzfahrtschiff?«

Mr. Kadam lachte. »Streng genommen lautet die korrekte Bezeichnung Mega-Jacht.«

»Sie meinen, es ist größer als eine normale Jacht?«

»Ja. Jachten werden aufgrund ihrer Größe klassifiziert. Die gängige Meinung unter Bootsbesitzern lautet, dass eine Jacht ein Schiff ist, das eine Crew benötigt. Super-Jachten haben eine Länge von fünfundzwanzig bis fünfzig Metern, Mega-Jachten sind fünfzig bis hundert Meter lang und Giga-Jachten über hundert Meter. Kaum eine dieser Jachten gehört einer Einzelperson.«

Ich blinzelte und zog ihn grinsend auf. »Mr. Kadam! Ich bin schockiert, dass Sie keine Giga-Jacht besitzen.«

»Ich habe selbst darüber nachgedacht, aber Giga-Jachten sind für unsere Zwecke zu wuchtig. Unsere hat etwa die Größe der kleinsten Giga-Jacht. Mein Gefühl sagt mir, dass uns dieses Boot genügen wird.«

»Denken Sie wirklich?«

Er nickte ernst. »Ich hoffe, ja«, sagte er und schien meinen Sarkasmus völlig überhört zu haben.

Mr. Kadam bog links auf den dritten Anlegesteg ein, und wir fuhren an der gesamten Längsseite des Schiffs vorbei, während ich mit offenem Mund die unzähligen Fenster anstarrte. Die Mega-Jacht schimmerte und funkelte und war einfach überwältigend. Die obere Hälfte war weiß, von Fenstern durchbrochen und schien aus drei Decks zu bestehen, mit einem gedrungenen weißen Schornstein ganz oben. Die untere Hälfte war schwarz und besaß kleinere Bullaugen. Vermutlich lagen noch ein oder zwei weitere Decks unterhalb der Wasseroberfläche.

Als wir das Heck erreichten, blickte ich auf und sah den Bootsnamen, der dort auf Hindi geschrieben stand.

»Wie heißt das Schiff, Mr. Kadam?«

»Deschen.«

Mr. Kadam lenkte den Jeep eine robuste Rampe hinauf, die mit dem Rumpf des gewaltigen Schiffs verbunden war, und parkte den Wagen in dessen Garage. Ren verwandelte sich in einen Menschen zurück, zwinkerte mir zu, und wir stiegen alle aus.

Mr. Kadam übernahm sogleich das Kommando. »Ren? Kishan? Wärt ihr zwei so freundlich, das Gepäck auf unsere Zimmer zu bringen und den Kapitän wissen zu lassen, dass wir an Bord und abfahrtbereit sind, sobald er den Befehl gibt? Ich würde mit Miss Kelsey gerne einen Rundgang machen, falls sie nichts einzuwenden hat.«

Ich nickte stumm und reichte Kishan meine Tasche, der mir sanft den Arm drückte, bevor er Ren die Treppe hinauf folgte. In der Zwischenzeit waren zwei Männer herbeigeeilt, die die Rampe entfernten. Während sie die äußeren Tore des Schiffs fest verschlossen, sah ich mich in der hell erleuchteten Garage um, in die problemlos ein weiteres Auto gepasst hätte. Ich konnte immer noch nicht so recht glauben, dass wir ohne viel Aufhebens einfach auf das größte Boot gefahren waren, das ich je in meinem Leben gesehen hatte.

»Sollen wir?«

Mit einer galanten Handbewegung bedeutete mir Mr. Kadam vorauszugehen, und ich stieg die Treppe hinauf.

»Das Einzige, was ich über Schiffe weiß, ist, dass sich der Bug vorne und das Heck hinten befindet. Die anderen beiden Begriffe kann ich mir einfach nicht merken.«

»Steuerbord und Backbord. Steuerbord ist zu Ihrer rechten Seite. Als mögliche Eselsbrücke könnte unser Straßenverkehr dienen.«

»Der Straßenverkehr?«

»Ja. In Indien ist das Steuer in Autos auf der rechten Seite. Steuerbord ist also rechts. Was bedeutet, dass Backbord links liegt. Die Hülle eines Schiffs wird Rumpf genannt, und das oberste durchlaufende Deck wird Hauptdeck genannt oder auch Schottendeck, da bis dorthin alle wasserdichten Schotten hinaufreichen müssen. Hier entlang, Miss Kelsey.«

Ich folgte ihm zur Mitte des Schiffs und einem runden, von allen Seiten verglasten Aufzug. Ich wirbelte herum. »Hier gibt es einen Aufzug? Auf einer Jacht?«

Mr. Kadam kicherte. »Der war bereits eingebaut, als wir sie kauften. Aber er ist sehr nützlich. Sollen wir mit dem Ruderhaus beginnen?«

»Was ist das?«

»Die Kommandobrücke des Schiffs. Dort können Sie den Kapitän kennenlernen.«

Wir betraten den Aufzug der Deschen, der sich ebenso gut in Willy Wonkas Schokoladenfabrik hätte befinden können. Er hatte einen Hebel wie die altertümlichen, von Liftboys bedienten Hotelaufzüge. Anscheinend befanden wir uns auf dem fünften von sechs Stockwerken. Mr. Kadam drehte den Hebel bis ganz nach oben, und wir schnellten in die Höhe. Auf dem Weg flogen eine Lounge, eine Bibliothek und ein Fitnessstudio an uns vorbei.

»Genau genommen verfügt das Steuerhaus heutzutage nicht mehr unbedingt über ein Steuer«, erklärte Mr. Kadam, »und die meisten Menschen bezeichnen es als Brücke. Aber ich bin ein altmodischer Kauz und benutze immer noch den früheren Namen.«

»Wie viele Crewmitglieder sind an Bord?«

»Der Kapitän, sein Assistent, drei Besatzungsmitglieder, ein Koch, zwei Dienstmädchen und in Bälde unser Tauchlehrer.«

»Sind das nicht sehr viele Menschen? Können Sie das Boot nicht selbst fahren? Immerhin ist das alles hier top secret, oder? Und warum brauchen wir einen Koch, wenn wir die Goldene Frucht haben?«

»Vertrauen Sie mir, Miss Kelsey. Diese Menschen stehen bereits seit sehr langer Zeit in meinen Diensten. Nilima hat ihre Herkunft und Vorgeschichte genau überprüft, und sie haben sich als loyal, zuverlässig und exzellent ausgebildet erwiesen. Der einzige Neuling ist der Tauchlehrer, und auch der wurde gründlich durchleuchtet. Meines Wissens hat er eine lupenreine Weste. Wir brauchen einen Koch, weil die Angestellten ebenfalls essen müssen, und sie wären womöglich beunruhigt, würden wir Essen auf den Tisch bringen, ohne dass wir Vorräte an Bord haben.«

Ich flüsterte: »Aber was, wenn wir auf Drachen oder ähnliches stoßen? Werden sie dann nicht ausflippen? Was, wenn sie alle weglaufen und wir dieses riesige Schiff allein steuern müssen?«

Mr. Kadam lachte. »Falls ein solcher Fall eintreten sollte und unsere Crew meutert, dann sind Nilima und ich durchaus in der Lage, das Schiff zurück zur Küste zu manövrieren. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, Miss Kelsey. Diese Menschen werden sich im Angesicht der Gefahr nicht vor ihrer Verantwortung drücken. Kommen Sie. Ich stelle Ihnen den Kapitän vor und werde Ihnen damit hoffentlich ein paar Ihrer Befürchtungen nehmen.«

Wir betraten die Brücke, einen matt schimmernden, makellosen Raum aus riesigen Fensterfronten und poliertem Edelstahl. Ein Mann starrte mit einem Fernglas aus dem Fenster.

»Miss Kelsey, darf ich Ihnen Kapitän Diondre Dixon vorstellen?«

Der Mann senkte sein Fernglas, drehte sich um und lächelte. »Ah! Kadam, mein Freund. Ise das die junge Lady, vone der Sie mir so viel erzählt haben?« Der Kapitän kam näher und klopfte Mr. Kadam auf die Schulter. Er trug eine weit geschnittene, weiße Hose und ein grünes Hawaiihemd. Ich erkannte sofort seinen Akzent.

»Sie sind aus Jamaika?«

»Dase ise richtig, Misse Kelsey. Die wunderschöne Insel Jamaika ise Ort, dene ich Heimat nenne, aber die See, sie ise meine Frau.« Er lachte, und ich schloss ihn augenblicklich ins Herz. Ich schätzte ihn auf ungefähr fünfundsechzig. Er war ein wenig untersetzt, seine Haut schimmerte braun, und seine Wangen und Stirn waren von Sommersprossen bedeckt. Er hatte einen weißen Oberlippen- und Backenbart, und sein dichtes weißes Haar war ihm aus der fliehenden Stirn gekämmt.

Beherzt schüttelte ich ihm die Hand und sagte: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Ich machte ein paar Schritte auf die Fenster zu und spähte hinaus. »Wie hoch sind wir hier?«

Kapitän Dixon gesellte sich zu mir. »Im Moment sinde wir ungefähr zwanzig Meter über die Wasserpegel. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen dase Steuerhaus.«

Zwei breite Kapitänsstühle aus Leder thronten auf einem Podest in der Mitte des Raums, mit Blick auf ein langes Steuerpult voller Knöpfe und Schalter. Darüber, in einem leicht schrägen Winkel, waren eine Reihe Monitore angebracht, die verschiedene Messwerte anzeigten. In der Wand hinter uns befanden sich zwei große Armaturenbretter hinter Glas.

»Dieses Schiff ist so riesig! Es ist verblüffend, dass Sie etwas so Großes mit nur ein paar Knöpfen manövrieren können. Hier oben ist es wunderschön!«

»Ja. Ise guter Ausblick. Haben Sie schone mal eine Kreuzfahrt gemacht, Misse Kelsey?«

»Nein, das ist mein erstes Mal.«

»Ah, danne werde ich versuchen, Ihre erste Fahrt so angenehm wie möglich su machen.«

Mr. Kadam unterbrach ihn. »Kommen Sie, Miss Kelsey. Der Kapitän hat vor unserer Abfahrt noch viele Dinge zu erledigen, und wir müssen unseren Rundgang fortsetzen.«

Kapitän Dixon lächelte. »Ware schön, Sie kennensulernen. Ich hoffe, Sie genießen die Reise. Wanne immer Sie wollen, kommen Sie bitte vorbei. Vielleicht lasse ich Sie auch mal dase Boot steuern. Wase denken Sie, Kadam?«

»Ich bin der festen Überzeugung, dass Miss Kelsey alles schafft, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Ich schaue später noch einmal vorbei, Dixon.«

Wir ließen Kapitän Dixon zurück, und Mr. Kadam führte mich die Treppe hinunter, um mir den Rest des Decks zu zeigen. Beim Gehen erzählte er mir mehr über das Schiff.

»Sie ist vierundsechzig Meter und sieben Zentimeter lang, mit einer Breite inklusive Fender-Gang von zwölf Metern und einem Tiefgang von knapp vier Metern. Sie kann ungefähr 115000 Liter Treibstoff und 30000 Liter Wasser aufnehmen und verfügt über zwei Diesel-Motoren mit jeweils 3516 PS. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei zwanzig Knoten, normalerweise fährt sie jedoch mit sechzehn.«

Ich wollte Mr. Kadam gerade gestehen, dass mir all diese Zahlen nicht das Geringste sagten, als ich endlich ein Wort hörte, das ich verstand.

»Das ist das Sonnendeck«, sagte er und führte mich zu der noch beeindruckenderen Vorderseite des Schiffs, wo ich eine luxuriöse Sitzgruppe mit grandiosem Panoramablick und eine tiefer liegende Lounge entdeckte.

Die Lounge war atemberaubend. Sie sah aus wie ein elegantes Wohnzimmer, das mitten auf dem Schiff unter freiem Himmel lag. Ein Sofa und zwei breite Récamieren waren an der Rückwand angeordnet. Zwei Schiebetüren führten zurück ins Innere des Schiffs, während gegenüber des Sofas gepolsterte Stühle im Halbkreis um einen kleinen ovalen Esstisch gruppiert waren. Es war die perfekte Kulisse für ein romantisches Candle-Light-Dinner unter den Sternen.

Das Sonnendeck verfügte außerdem über eine Innen-Lounge, wo wir uns Filme ansehen konnten. Mr. Kadam erklärte, wir hätten ebenfalls eine Satellitenschüssel, über die wir jeden Kanal der Welt empfangen könnten. Auf dem Achterdeck gab es ein Esszimmer unter freiem Himmel für bis zu zwölf Personen, mitsamt einer Bar und einem Büfett. Mr. Kadam meinte, dass wir wohl hier frühstücken würden.

Eine Etage tiefer war das sogenannte Aussichtsdeck. Ein atemberaubendes Wohnzimmer mit bodentiefen Fenstern bot eine unglaubliche Aussicht aufs Meer. Am Heck befand sich ein riesiger Swimmingpool aus Onyx und Marmor, mit einem Springbrunnen in der Mitte. Ein geräumiger, hochmodern ausgestatteter Fitnessraum sowie eine Fruchtbar vervollständigten das Deck. Wir übersprangen das nächste Deck und gingen geradewegs zum Unterdeck.

»Hier befinden sich die Kabinen der Crewmitglieder«, erklärte Mr. Kadam. »Alle außer dem Kapitän sind hier untergebracht, und keiner von ihnen darf ohne Nilimas Erlaubnis das Hauptdeck betreten, wo unsere Räumlichkeiten liegen. Wir dürfen doch nicht zulassen, dass sie zufällig auf einen der Tiger stoßen, nicht wahr?«

Die Quartiere der Crew waren um eine runde Eingangshalle angeordnet, und jede Kabine verfügte über eine Toilette mit Dusche, die Mr. Kadam auch Triton nannte.

»Hier unten haben wir auch eine Reihe hübscher Gästezimmer. Unser Tauchlehrer wird in einem davon wohnen. Die Wäschekammer und die Küche, auch Kombüse genannt, sind ebenfalls auf diesem Deck untergebracht.«

Anschließend zeigte mir Mr. Kadam eine der Galerien, die sich durch die gesamte Längsseite des Schiffs zogen, und wir stiegen ins nächste Geschoss hinab. »Das ist das Brunnendeck mit der Garage. Der Jeep befindet sich hinter dieser Tür, und dort drüben«, er trat durch eine Luke, »ist ein zweigeschossiger Laderaum.«

»Warum wird es Brunnendeck genannt?«

»In einigen Schiffen kann dieser Teil geflutet und durch ein großes Tor achtern von Landungsbooten befahren werden. Wir fluten den Laderaum zwar nicht, aber wir benutzen ihn für ähnliche Zwecke.«

Ich duckte mich durch die Luke und tauchte in ein nautisches Wunderland ein. An einer Wand hingen die verschiedensten Gerätschaften für den Anglerbedarf, Towing rings und Surfbretter. An der anderen Wand lehnte eine Vielzahl an Wasserski. Vier Wave Runners standen mit Planen abgedeckt an der hinteren Wand, und zwei schnell aussehende Motorboote lagen auf einer Art Rampe.

»Sie haben Boote im Schiff?«

»Es sind Boston Whaler. Das eine hat eine Länge von knapp acht Metern, das andere sechs.«

Mr. Kadam war völlig in seinem Element und freute sich wie ein Schneekönig, als er die schnittigen Wasserspielzeuge beschrieb. Die Vorliebe des Geschäftsmanns für teure, schnelle Wagen war mir nicht neu, aber jetzt wurde mir klar, dass sie auch Wasserfahrzeuge mit einbezog. Diese Jacht und alles darin bereitete ihm ebenso viel Freude wie sein McLaren.

»Sollen wir unseren Rundgang mit dem Hauptdeck beenden? Ich denke, Ihr Zimmer wird Ihnen gefallen«, sagte Mr. Kadam.

Wir nahmen den Aufzug, und er führte mich zu einem Lounge-Bereich, der in Waldgrün und Burgunder gehalten war, mit tiefen, weichen Sesseln und Bücherregalen aus poliertem Kirschholz, die bis an die Decke mit Büchern vollgestopft waren. Große Fenster mit Blick aufs Meer waren von transparenten Vorhängen umrahmt, und der Teppich war so dick, dass er unsere Schritte verschluckte. Wir blieben vor der ersten Tür stehen, die zu Kishans Zimmer führte. Er kam heraus und zeigte mir seine Kabine, die über ein eigenes geräumiges Bad und ein großes Bett verfügte.

»Kannst du Miss Kelsey den Rest des Decks zeigen, Kishan? Ich kümmere mich darum, dass wir schnellstmöglich ablegen.«

»Sicher«, sagte er und wandte sich mir zu. »Und was hältst du von unserem schwimmenden Zuhause?«

»Das Schiff ist unglaublich! Warst du früher schon mal hier?«

»Einmal. Kadam, Ren und ich sind ein paar Wochen, nachdem du abgereist bist, hergekommen, um uns das Schiff anzuschauen. Wir sind nicht in See gestochen, haben aber eine Nacht hier geschlafen.« Im Weitergehen fuhr er fort: »Ich wohne hier, und das ist Kadams Zimmer. Nilimas ist dort. Dann Rens. Deines ist den Gang weiter hinunter.«

Kishan öffnete die Tür zu meiner Kabine, die so riesig war, dass Lis gesamtes Wushu-Studio dort hineingepasst hätte.

Ich keuchte auf. »Im Vergleich zu meinem Zimmer sind eure geradezu winzig.«

»Wir haben dir die größte Suite gegeben.« Er schlang von hinten die Arme um mich und sagte zärtlich: »Unser Mädchen verdient nur das Beste.«

Kurz dachte ich über Rens Wunsch nach. Ich will ihr das Beste der Welt zu Füßen legen. Ich drückte Kishans Hand. »Ich habe längst das Beste. Ich habe euch alle.«

Kishan ließ mich los, und wir betraten mein Zimmer – das einem Palast gleichkam. Das riesige Bett, das an einer Wand thronte, war mit einem cremefarben-goldenen Überwurf und Kissen bedeckt und zeigte auf eine bodentiefe Fensterfront. Die alte Steppdecke meiner Großmutter lag gefaltet am Fußende.

»Das ist das Heck, nicht wahr?«

Er nickte und ging zum Badezimmer. Ich kam unter einem Luftschlitz vorbei und spürte eine kühle Brise aus der Klimaanlage. Ich hatte meinen eigenen riesigen Plasmafernseher und einen begehbaren Kleiderschrank, in dem sich bereits all meine Habseligkeiten befanden. In dem imposanten Badezimmer gab es einen eingelassenen Whirlpool und eine schicke Dusche. Fein säuberlich zusammengelegte, cremefarbene Handtücher waren in einem glänzenden Kirschbaumregal gestapelt. Wir kehrten ins Schlafzimmer zurück, wo ich meinen Laptop auf dem Schreibtisch vorfand, ebenso einen neuen iPad und ein paar der Bücher, die ich für die Recherche an der Prophezeiung brauchte.

»Haben wir hier Internet-Zugang?«

»Ja. Internet, E-Mail, Fax – alles, was dein Herz begehrt.«

»Ist es schwer, das auf einem Schiff zu bekommen?«

»Nicht wenn man einen eigenen Satelliten besitzt.«

»Ihr besitzt einen Satelliten? Im Weltall?«

»Ja. Bist du hungrig?«

Bei seinen Worten knurrte mir der Magen.

»Anscheinend ja. Sollen wir die Küche plündern?«

Ich lachte über die unbekümmerte Einstellung, die Kishan in Bezug auf seinen Reichtum zur Schau stellte. »Würde das die Crew nicht stören?«

»Papperlapapp. Ich bin sicher, wir können etwas Leckeres zusammenkratzen. Lass uns gehen.«