24
Der Ozean der Milch
Auf Wiedersehen? Warum vermassele ich immer alles? Eigentlich hatte ich ihm sagen wollen, warum meine Wahl nicht auf ihn fiel. Ich wollte, dass er meinen Gedankengang verstand … oder er mich zumindest ausreden ließ. Im Grunde meines Herzens hatte ich angenommen, dass er bleiben würde und versuchen würde, mich umzustimmen. Mir ins Gesicht sagen würde, ich sei eine Idiotin. Mir aufzeigen würde, dass meine Ängste etwas Wunderbares, etwas Perfektes zerstörten.
Ich wusste, es war einfacher, praktischer, wenn ich mich für Kishan entschied. Nein. Praktisch ist das falsche Wort. Sicherer. Das ist das richtige. Ren war risikofreudig. Ren umgab sich mit wunderschönen Bikinimädchen. Ren stellte mir Randi vor die Nase. Ich weiß nicht, warum er es getan hat, aber Tatsache ist und bleibt nun mal, dass er es getan hat. Und falls sich eine weitere Möglichkeit bieten würde, mich zu »retten«, würde er nicht zögern, und ich wäre dann wieder allein. Beinahe hätte ich den Mann meiner Träume gehabt. Aber beinahe zählte nicht.
An Beinahe-Gewinner erinnert man sich nicht. Niemanden interessiert es, wenn man beinahe einen Touchdown erzielt. Einem beinahe der Drei-Punkte-Wurf am Ende eines Basketballspiels gelingt. Oder beinahe einen Homerun. Was zählte, war das Endergebnis. Ich war ein Trainer, der seinen weltbesten Neuling auf die Ersatzbank geschickt hat. Ich hatte meine Gründe, aber die Fans kümmerte das nicht. Alles, was sie sahen, war ein Trainer, der ihrer Ansicht nach eine fatale Entscheidung getroffen hat.
Aber seien wir doch mal ehrlich: Wirft man einen Anfänger ins kalte Wasser und setzt ihn bei einem wichtigen Meisterschaftsspiel ein, in der Hoffnung, dass sein ansteckender Enthusiasmus zu Punkten führt? Oder entscheidet man sich für den langsameren, aber beständigeren Kerl? Die Spieler, die sich die gesamte Saison hindurch bewiesen haben, schaffen vielleicht nicht immer einen Touchdown, aber zumindest halten sie bis zum Ende durch. Hallo? Ziehe ich etwa Sportvergleiche heran? Ich muss echt verzweifelt sein.
Und wer hat sich um mich gekümmert, als sich Ren so selbstlos hat entführen lassen? Kishan. Wer hat Randi scharf zurechtgewiesen, als sie mich beleidigt hat? Kishan. Wer lässt mich meine Haare so tragen, wie ich will? Kishan. Wer hat gesagt, er würde mich einem anderen überlassen, wenn ich das wirklich wollte? Kishan. Wer streitet sich nie mit mir? Kishan. Wer hat die Finger von mir gelassen, als ich ihn darum gebeten habe? Kishan. Einen Moment wurde ich abgelenkt von der Erinnerung an einen Streit mit Ren, der damit geendet hatte, dass er seine Finger nicht bei sich lassen konnte und mir das sehr gefallen hatte, aber dann schüttelte ich den Gedanken entschlossen ab. Wo war ich gerade stehen geblieben? O ja. Bei Kishan.
Kishan war eine sichere Sache. Ren zu lieben ein Glücksspiel.
Mit einem Seufzen glitt ich unter die blaue Decke des Eispalasts. Konnte ich wirklich erwarten, dass Ren bei uns bleibt und mir und seinem Bruder zusehen muss? Ich zumindest könnte es nicht, wären unsere Rollen vertauscht. Vielleicht wird Lokesh mich töten, dann ginge es allen besser. Mein Verschwinden würde mit einem Schlag alle Probleme lösen. Ich schlief ein und träumte von Lokesh, der mich im Dschungel jagte, genauso, wie Lüsèlóng die Brüder gejagt hatte, nur dass ich keine Krallen besaß, die mich schützten.
Ich erwachte mit einem Gefühl der Heimatlosigkeit, bis ich mich erinnerte, dass ich im Palast des Eisdrachen war. Ich drehte mich zur Seite und barg meine Faust unter der Wange. Das Bett schwankte ein wenig und leuchtete sanft, während sich winzige Tierchen an die Oberfläche stürzten und jede Stelle meines Körpers, die die Matratze berührte, wärmten und massierten. Meine Gedanken knüpften nahtlos dort an, wo sie in der Nacht zuvor aufgehört hatten. Ich war mir nicht sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, doch ich war fest entschlossen, sie bis zum bitteren Ende zu tragen.
Das sonderbare Schlafzimmer verfügte über ein angrenzendes Bad. Die glänzenden Duschhähne ließen sich leicht drehen, und blaue Wasserstrahlen trafen mich aus einer Vielzahl von Düsen. Das Wasser war heiß und dampfig. Ich benutzte ein himmelblaues Eisgel, um mir die Haare zu waschen. Es prickelte und roch nach Minze.
Es gab keine Handtücher, aber als ich die Dusche ausstellte, schalteten sich mehrere Heißlüfter ein. Ich stand erschrocken da, fühlte mich wie ein alter Wagen in einer Autowaschanlage. Warme Luft trommelte von allen Seiten auf meinen Körper ein, und sobald ich die erste Überraschung überwunden hatte, genoss ich es sogar. Huch. Jetzt verstehe ich, warum Hunde den Kopf aus dem Autofenster stecken.
Vollkommen trocken stieg ich aus der Dusche und versuchte, mir mit den Fingern durchs Haar zu fahren. Entsetzt stellte ich fest, dass es zu riesigen Wattebäuschen aufgeplustert war. Es würde eine Ewigkeit dauern, es auszukämmen, weshalb ich mich nicht weiter darum kümmerte und mir mit dem Göttlichen Tuch neue Kleidung fertigte. Dann machte ich mich auf die Suche nach anderen Menschen. Nun ja … wohl eher dem, was Menschen am nächsten kam. Schließlich fand ich meine Tiger, die mit dem Drachen frühstückten.
»Mhm … riecht gut.«
»Willst du dich nicht zu uns gesellen, meine Liebe?«, fragte der Drache höflich. Dann blickte er auf. »Du meine Güte, du siehst … flauschig aus.«
Ich stöhnte und zog eine aufgeplusterte Haarsträhne über die Schulter, um sie mir anzusehen. Kishan sah auf und brach in schallendes Gelächter aus. Ich verengte die Augen zu Schlitzen. »Das ist nicht so lustig. Du hast wohl nicht zufällig einen Kamm oder eine Bürste dabei?«
Kishan kicherte. »Nein. Tut mir leid, Kells.«
»Yínbáilóng?«
»Wir Drachen brauchen einen solchen Tand nicht.«
Ich seufzte und setzte mich.
»Ich habe einen«, sagte Ren leise von der anderen Seite des Tischs. Ich hatte jeglichen Augenkontakt mit ihm vermieden. Ihn zu ignorieren, hatte nicht wirklich funktioniert, da ich seine Gegenwart mit jeder Pore meines Körpers spürte, doch ich hatte mir die größte Mühe gegeben. Resigniert blickte ich auf, aber er hatte sich bereits abgewandt.
Ren griff in seinen Beutel und zog einen goldenen Kamm heraus. Mit geschmeidiger Eleganz erhob er sich von seinem Platz, kam zu meiner Seite des Tischs und legte ihn neben meinen Teller, bevor er abrupt das Zimmer verließ. Ich hob das erlesene Kleinod auf und fragte mich, wie ich eine solch unbezahlbare Kostbarkeit benutzen sollte, um meine widerspenstige Mähne zu bändigen. Der Kamm war schmal, vielleicht so groß wie mein Handteller, mit langen Zinken. Der Griff war aus Perlmutt und zeigte einen Ritter zu Pferde, der irgendein wildes Tier besiegte.
Kishan spießte ein Melonenstück auf und sagte mit einem Grinsen: »Irgendwie gefällt mir deine neue Frisur.«
Nach dem Frühstück folgte ich Kishan und dem Drachen ins Wohnzimmer, wo Ren bereits auf uns wartete. Ich nahm den Kamm und bearbeitete mein Haar, während Yínbáilóng uns von den Eishöhlen und dem verborgenen Schlüssel erzählte, den wir bräuchten, um Zugang zur Siebten Pagode zu erhalten. Er sagte, der Schlüssel könnte allein von jemandem benutzt werden, in dessen Adern das Blut der Götter floss.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Meine Aufmerksamkeit war abgelenkt, was kein gutes Zeichen war in Anbetracht des Umstands, dass es die geballte Kraft von uns dreien brauchen würde, um Durgas Perlenkette aufzuspüren und es lebendig zurück zum Schiff zu schaffen. Zum Glück schien Kishan konzentriert zu lauschen. Ich lächelte und gab mich ein wenig meinen Tagträumen hin, während ich methodisch mein widerspenstiges Haar kämmte.
Meine Gedanken schweiften zurück zu einer milden Sommernacht in Indien, als Ren mir sanft das Haar gekämmt hatte. Meine Kopfhaut kribbelte auf einmal, und ich erbebte leicht, als ich mich an seine süße, zaghafte Berührung erinnerte. Ich hob den Blick und bemerkte, dass Ren mich eindringlich beäugte. Ich errötete und fragte mich verwundert, ob ihm derselbe Gedanke gekommen war. Rasch riss er den Blick von mir und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Drachen. Nachdem ich endlich meine Zottelmähne gezähmt und zu einem Zopf geflochten hatte, hatten die drei einen Plan gefasst und die Brüder waren bereit zum Aufbruch.
Ich schnappte mir meinen Rucksack, schob Fanindra den Arm hoch und folgte Kishan, Ren und dem weißen Drachen durch eine Tür aus Eis. Wir betraten einen riesigen, rechteckigen Raum bar jeder Einrichtung. Durchsichtiges Eis umgab uns, während der dunkle Ozean außerhalb des Würfels angestrahlt wurde. Sonderbare Kreaturen schwammen gemächlich an uns vorbei.
»Dieses Zimmer nenne ich das Goldfischglas«, verkündete der weiße Drache.
Ich schnaubte. »Nur dass wir die Fische sind.« Ich schritt auf eine Wand zu, und Kishan folgte mir. Eine wurstförmige Seegurke bewegte sich am Glas entlang, zog eine Spur hinter sich her. Schnecken und Seesterne klammerten sich an die durchsichtige Wand. Ich ließ den Blick an den Seesternen vorbeigleiten und sprang erschrocken zurück, als ich einen Tiefsee-Beilfisch von der Größe eines Sitzsacks sah, mit großen, leuchtenden Augen und einem klaffenden Maul.
Andere Fische ließen mich ebenfalls zusammenzucken: Pelikanaale mit riesigen Köpfen und mächtigem Kiefer, breit genug, um sich selbst Fische einzuverleiben, die größer als sie selbst waren. Armflosser mit großen Zähnen und einem auf und ab schaukelnden Leuchtorgan am Kopf sowie Laternenfische mit einer Reihe winziger, pulsierender Lichter an der Unterseite ihrer Körper schwammen an uns vorbei, bereit, blitzschnell nach unseren Fingern zu schnappen. Ein Viperfisch mit gebogenem Kiefer, der so lang war, dass der Fisch kaum das Maul schließen konnte, Albino-Hummer und Krabben, farbenprächtige Quallen und Vampirtintenfische – so zumindest nannte Yínbáilóng sie – näherten sich ebenfalls, um uns eindringlich zu beäugen.
Ein gewaltiger dunkler Schatten glitt an der Eishöhle vorbei und brüllte.
»Was war das?«, fragte ich zitternd. »Sagt mir bitte, dass das kein riesiger Hai war.«
Yínbáilóng lachte. »Das war ein Pottwal. Das sind die einzigen großen Geschöpfe, die es bis in diese Tiefen schaffen. Von Zeit zu Zeit statten sie mir ganz gerne einen Besuch ab.«
»Oh«, sagte ich mit unerklärlicher Erleichterung. »Äh, in welcher Tiefe befinden wir uns eigentlich?«
»Nun, lass es mich so formulieren: Normalerweise wäre es nicht möglich, dass du hier überlebst. Der Druck würde dich umbringen. Glücklicherweise stehst du unter meinem Schutz, solange du dich in meinem Reich aufhältst. Drachen können jedem Druck standhalten. Ich könnte selbst im Marianengraben überleben, der tiefsten Tiefseerinne der Welt, auch wenn es dort nicht besonders behaglich ist. Ich ziehe den unteren Teil des Bathyals vor.«
»Was ist das?«, fragte Kishan.
»Der Ozean wird gemäß seiner Tiefe in vier Zonen unterteilt. Jınsèlóng lebt in der euphotischen Zone, der obersten Schicht des Wassers bis einhundertfünfzig Meter. Dort wachsen Pflanzen, und es wimmelt von Meereslebewesen. Gelegentlich verlässt er jedoch diesen Bereich, um in allen Zonen nach Schätzen zu suchen. Die mesopelagische Zone kommt als Nächstes. Es gibt dort keine Fauna, aber viele Tiere finden in dieser Tiefe noch Nahrung. In dieser Zone lebt ein Großteil der Haie.« Der weiße Drache warf mir rasch ein Lächeln zu und fuhr fort: »Wir befinden uns zwischen tausend und viertausend Metern Tiefe, in der bathypelagischen Zone, wo das einzige große Lebewesen, wie bereits erwähnt, der Pottwal ist. Nahrung ist schwer zu finden, doch ich kümmere mich um all jene, die den Weg in mein Reich wagen. Bald ist Fütterungszeit, und ich versichere euch, es ist ein unvergesslicher Anblick. An diese Zone schließt sich das Abyssopelagial an, das bis zum Meeresboden reicht. Dort unten ist nicht sonderlich viel los. Allerdings ist die Siebte Pagode im oberen Teil dieser Zone errichtet. Sie liegt nicht viel tiefer, als ihr euch gerade befindet, und sobald ihr den Ozean der Milch erreicht, kann euch nichts mehr passieren.«
Ich stieß Kishan den Ellbogen in die Seite. »Der Ozean der Milch? Haben wir von dem schon gesprochen?«
Kishan lehnte sich vor und flüsterte: »Ich setze dich später ins Bild.«
»Vielen Dank.«
»Wollt ihr vor eurer Abreise bei der Fütterung der Fische zusehen?«, erkundigte sich der Drache.
»Wenn es dir nichts ausmacht, Drache, würden wir gerne aufbrechen«, sagte Ren mit unruhigem Blick.
»Natürlich. Stell sicher, dass dir warm ist, meine Liebe.«
»Äh, okay.« Nicht vergessen: Das nächste Mal, wenn ich bei einem weißen Drachen am Meeresboden rumhänge, besser aufpassen!
Kishan benutzte das Tuch, um mir einen knöchellangen Parka und Schneekleidung zu fertigen. Er legte mir den Mantel über Arme und Schultern und reichte mir ein Paar Handschuhe, die so dick waren, dass meine Finger völlig unbrauchbar wurden. Dann wickelte er mir einen Schal um den Hals und vervollständigte mein Outfit nicht nur mit einer, sondern zwei Mützen.
»Findest du nicht, dass du ein bisschen übertrieben hast? Ich komme mir wie ein Schneemann vor.«
»Auf unserem Weg wird es kalt werden«, erklärte Kishan. »Und …«
»Tretet zurück«, unterbrach ihn der Drache. »Ich muss meine natürliche Gestalt annehmen, um die Türen zu öffnen.«
Ich sah keine weitere Tür, außer der, durch die wir gekommen waren, doch Kishan drückte mich gegen die Wand, während ich vorgab, die hungrigen Fische mit riesigen Zähnen nicht zu bemerken, die sinnlos gegen das Eis klopften und versuchten, uns anzuknabbern. Yínbáilóng barst und zersplitterte in tausend Teile, die funkelten und sich auflösten, während sich ein glitzernder weißer Körper auf den spiegelglatten Boden ergoss. Seine Drachenkrallen waren blau, ebenso wie seine Augen. Die Unterseite seines Bauchs schimmerte hell wie das Polarlicht. Die Schuppen auf seinem Rücken glichen weißen Diamanten und funkelten bei jeder Bewegung.
Das lange Gesicht des weißen Drachen drehte sich lächelnd zu mir um, und seine gespaltene blaue Zunge schnalzte aus seinem Mund, während ich sein Kichern in meinem Bewusstsein vernahm. Die zwei Hörner auf dem hinteren Teil seines Kopfs sahen aus wie lange Eiszapfen, und er besaß weitere solcher Hörner am Ende seines Schwanzes. Eine weiße Mähne wallte vom Scheitel seines vornehmen Kopfes bis zu seinem Rücken hinab.
Ich zog einen Handschuh aus und streichelte dem Drachen die Nase, die glatt und warm war, kein bisschen kalt. »Du bist wunderschön!«
Vielen Dank, meine Liebe. Und jetzt einen Schritt zurück, damit ich die Tür öffnen kann.
Yínbáilóng wandte den Kopf zur Wand. Sein Mund klaffte auf und enthüllte lange Reihen spitzer Zähne. Sein Körper leuchtete immer heller und heller, bis ich wegsehen musste. Das Licht schien sich auf seinen Kopf zuzubewegen, bis es sich in seinem Auge sammelte. Blaues Licht schoss aus seinem Augapfel und durchdrang die Wand. Eine Schicht dickes Eis nach der anderen schälte sich ab, als würde es schmelzen. Nachdem der Drache endlich zufrieden war, schlurfte er zurück, gab ein eisiges Schnauben von sich und verwandelte sich wieder in seine menschliche Gestalt.
»Es ist vollbracht. Hinter dieser Tür liegt ein Pfad, der euch geradewegs zum Ozean der Milch führen wird. Sobald ihr ihn betreten und die Wächterin gefunden habt, wird sie euch zum Schlüssel und der Siebten Pagode bringen. Folgt ihren Anweisungen genau. Soll ich euch beim Einspannen helfen?«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Kishan.
Genau in dem Moment, als ich fragen wollte, wovon alle sprachen, führte mich Kishan durch die Tür zu einem Schlitten. Rasch breitete er mehrere dicke Decken über mir aus und schnallte mich an.
»Wir nehmen den Schlitten«, erklärte Kishan.
»Ja. Das sehe ich. Wo sind die Hunde?«
Der Drache tätschelte mir den Kopf und antwortete: »Deine jungen Männer werden den Schlitten ziehen.«
»Was? Wie? Sie werden erfrieren.«
»Ihnen wird wohlig warm sein. Gentlemen?«
Ren fiel das Haar über die Wange, als er sich herabbeugte, um seinen Beutel an den Schlitten zu binden. Er war so nah, dass sich sein warmer Sandelholzduft wie eine Seifenblase um mich legte. Es juckte mich in den Fingern, ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen, doch er erhob sich, ohne mich anzusehen, nickte, und er und Kishan nahmen ihre Tigergestalt an. Ich beobachtete entsetzt, wie der Drache ihnen das Schlittengeschirr anlegte.
»Sie müssen mich nicht ziehen«, stammelte ich. »Ich kann zu Fuß gehen.«
Der Drache verwarf sofort meinen Vorschlag. »So geht es viel schneller. Außerdem ist es besser, nicht zu lange hinter dem Eis zu verweilen. Die Fische hier unten sind sehr hungrig. Die Wände sind dick, aber man weiß nie, wann die Tiere durchbrechen.«
»Und mit ›durchbrechen‹ meinst du … durchs Eis brechen?«
»Ja. Erst kürzlich habe ich die Tunnel verstärkt, allerdings herrscht in diesem Teil des Meeres ein solcher Druck … Aber keine Sorge, ihr seid dem Ozean nicht immerfort schutzlos ausgeliefert. Der Eistunnel führt auch durch Höhlen.«
»Na großartig. Und wie lenke ich dieses Ding?«
»Das ist der beste Teil. Du musst überhaupt nichts tun. Deine Tiger übernehmen das für dich.«
»Wunderbar«, murmelte ich sarkastisch.
»Viel Glück euch allen. Ich wünsche euch das Allerbeste.«
Mit diesen Worten schloss der Drache die Tür hinter sich, und wir stürzten in Dunkelheit. Fanindra wickelte sich um den Griff des Schlittens und erleuchtete die kleine Höhle mit ihren grünen Augen.
»Na schön, Jungs. Dann mal los, hü-hott!«
Ren machte als Erster einen Satz, und der Schlitten neigte sich gefährlich zur Seite, bis die Brüder schließlich einen gleichmäßigen Rhythmus fanden. Ich beobachtete die Tiger beim Laufen, wie sie die Krallen tief ins Eis gruben, und hielt gleichzeitig nach hungrigen Fischen Ausschau. Einmal bekundete ein Fisch von der Größe von Rens Hummer ein reges Interesse an uns. Er schwamm mehrere Minuten neben uns her, ließ sich gegen die Tunnelwand knallen und kratzte sogar mit seinen langen, spitzen Zähnen am Eis, bevor er – zu meiner großen Erleichterung – davonschwamm. Ren und Kishan schienen über unendliche Kraftreserven zu verfügen, liefen stundenlang und legten nur äußerst selten eine kurze Pause ein.
Irgendwie und irgendwo auf dem Weg durch den Eistunnel war ich eingeschlafen – nur um von einem plötzlichen Poltern aufgeschreckt zu werden. Ich blinzelte in die Dunkelheit und fragte mich verschlafen, wie weit wir gekommen waren. Der glatte Eistunnel durch den Ozean hatte sich in einen schneebedeckten, mit Eissplittern überzogenen Pfad verwandelt, aus dem Steinformationen herausragten, und ich erkannte, dass wir nicht länger von Wasser, sondern von Erde umgeben waren. Ich bestand auf einer Pause, damit die Brüder etwas essen konnten, und wünschte ihnen jeweils einen ganzen Schmorbraten herbei. Ich nippte an einer dampfenden Tasse heißer Schokolade, während die beiden aßen und sich ausruhten.
Es war kalt. Ich fühlte mich wie der Blechmann aus Der Zauberer von Oz. Jedes einzelne Gelenk war in dem Winkel eingefroren, in dem ich eingeschlafen war. Ich verlagerte das Gewicht und versuchte, eine bequemere Position zu finden, was mir jedoch ebenso wenig gelang, wie die Gurte zu lösen, die mir schmerzhaft in die Schultern schnitten. Verärgert riss ich mir einen Handschuh von den Fingern und spürte augenblicklich den Temperaturunterschied. Die Kälte war so schneidend, dass es wehtat. Es war die Art Kälte, die einem in die Knochen kroch und die selbst von der heißesten Dusche nicht vertrieben werden konnte.
Nach ein paar weiteren Stunden des Laufens entschieden Ren und Kishan, ein Nachtlager zu errichten. Ich nahm den Brüdern das Geschirr ab, bat das Tuch, uns ein Zelt und mehrere Dutzend Decken zu fertigen, und kletterte dann unter den Haufen. Meine Tiger schmiegten sich an mich, einer auf jeder Seite, und wie kleine Heizkörper hielten sie mich die ganze Nacht über kuschelig warm.
Am nächsten Tag setzten wir unsere Reise fort. Am späten Vormittag öffnete sich die Steinhöhle in eine größere Kaverne mit einem zugefrorenen See. Zaghaft traten die Tiger aufs Eis, schnüffelten bei jeder Bewegung. Nach ein paar weiteren vorsichtigen Schritten begannen sie wieder zu laufen, wenn auch langsamer als zuvor. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, woher sie den richtigen Weg kannten, doch sie liefen unaufhaltsam weiter. Vielleicht verfügten die Tiger über einen sechsten Sinn. Oder – und diese Erklärung war wahrscheinlicher – sie hatten einfach dem weißen Drachen aufmerksam zugehört, während mein Verstand anderweitig beschäftigt gewesen war.
Auf der anderen Seite des Sees stießen wir auf einen weiteren Tunnel, und es dauerte nicht lange, bis wir zu einer von unserem Eispfad umrahmten Höhle kamen, in deren Mitte sich ein hoher Springbrunnen aus Stein befand. Ren und Kishan blieben stehen, und ich bat das Tuch, ihnen Kleidung zu fertigen, während ich sie abschnallte. Schließlich wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Springbrunnen zu, der ungefähr sechs Meter in die Höhe ragte, vier Becken hatte und mit Eis bedeckt war.
Kishan schlüpfte in einen dicken Mantel und kam zu mir. »Jetzt kommt es allein auf dich an, Kells. Befrei die Wächterin.«
»Was? Was soll ich tun?«, fragte ich nervös und dachte darüber nach, welcher Schrecken wohl als Nächstes auf mich warten mochte.
»Schmilz das Eis«, erwiderte Kishan mit einem Nicken zum Springbrunnen hin.
Erleichtert beruhigte ich mich und lächelte. »Das ist kein Problem. Fließendes Wasser, kommt sofort.«
Dann schälte ich mich aus meinen Handschuhen und hob beide Hände. Ich begann am oberen Ende des Springbrunnens und arbeitete mich langsam nach unten. Mit jedem Zentimeter, den ich zum Schmelzen brachte, kamen die wunderschönsten, aus Stein gehauenen Fische, Delfine, Seesterne, Krabben und Schildkröten zum Vorschein. Meine Kraft schwand, als ich erst ein Drittel der Arbeit hinter mir hatte.
»Was ist los?«, fragte Kishan.
»Ihr ist kalt«, erwiderte eine samtig warme Stimme hinter uns. Eine, die ich verzweifelt zu ignorieren versuchte.
Kishan nahm meine Hand und rieb sie zwischen seinen Handinnenflächen. »Ist das besser? Versuch es noch mal.«
Das tat ich, aber die Hitze war kurz darauf erneut verpufft, und was noch schlimmer war, das Wasser, das ich soeben erst aufgetaut hatte, begann schon wieder zu gefrieren.
»Vielleicht musst du dich nur eine Weile ausruhen«, schlug Kishan vor.
Ren kam herbei und streckte schweigend die Arme aus. Ich wagte einen raschen Blick auf seine Hände und schüttelte den Kopf.
»Sei nicht so dickköpfig, Kelsey.«
Ich rieb meine Hände kräftig aneinander. »Ich kann das allein, vielen Dank.« Ich zapfte den Kern meines inneren Feuers an und warf alles, was ich hatte, in die Flamme, wild entschlossen, Rens Hand nicht zu nehmen und mir das köstliche Brennen zu untersagen, das ich verspürte, sobald er mich berührte. Ich würde es auch ohne ihn schaffen.
Ich stieß Hitze aus, bis die Höhle vor Energie summte. Das Eis schmolz schneller und immer schneller. Ich begann zu schwitzen, während das Feuer an meinen Armen hinabzüngelte. Als ich schließlich den Boden des Springbrunnens erreicht hatte, blieben mir etwa zwei Sekunden, um die lebensgroße Meerjungfrau zu bestaunen, die ich freigelegt hatte, bevor ich zu Kishans Füßen zusammenbrach. Besorgt hob er mich auf und setzte mich an den Rand des Brunnens, damit ich dort wieder zu Kräften käme. Ren hielt mir eine Standpauke, trotz meiner Beteuerungen, dass es mir gut ginge, und meinen warnenden Worten, mich in Ruhe zu lassen.
Nun, da das Wasser frei floss, bemerkte ich, wie wunderschön es war. Es war weder durchsichtig noch blau. Es war von milchig weißer Farbe und funkelte hell. Delfine hoch oben auf dem Springbrunnen schossen das Wasser in das zweite Becken, während Steinfische aus dem dritten Bassin herauslugten und das Wasser in das nächste träufelten. Schildkröten lagen auf Steinen, als würden sie sich sonnen, und die Meerjungfrau wackelte mit ihrem Schwanz und kämmte sich mit gespreizten Fingern das lange Haar und … Moment mal … die Meerjungfrau war am Leben!
Sie kicherte, lockte Kishan mit aufreizendem Finger zu sich und sagte zu mir: »Du bist ein echter Glückspilz, von zwei so hübschen Männern auf Händen getragen zu werden.«
»Ja. Ich kann mein Glück kaum fassen. Bist du die Wächterin des Schlüssels?«
»Das kommt darauf an«, zwitscherte sie, lehnte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Aber das bleibt unter uns Mädchen: Kann ich einen der beiden behalten?«
Ich runzelte die Stirn. »Und was genau würdest du mit ihm anstellen?«
Die Meerjungfrau kicherte. »Da würde mir schon etwas einfallen.«
»Du solltest wissen, sie haben Klauen und Schwänze.«
»Und ich habe Schuppen. Was soll’s?«
»Ja wirklich, du hast Schuppen«, schnaubte Kishan anerkennend.
Ich boxte ihm leicht gegen den Arm. »Hör auf, sie so anzustarren.«
»Okay.« Er räusperte sich. »Wir brauchen unbedingt den Schlüssel zur Siebten Pagode. Äh … wie heißt du eigentlich?«
Sie machte einen hübschen Schmollmund. »Kaeliora. Na schön, ihr könnt den Schlüssel haben. Aber ihr müsst ihn euch selbst holen. Wenn ich keinen der Männer bekomme, gibt es für mich keinen Grund, mein Haar ohne Not nasszumachen.« Stirnrunzelnd besah sie sich ihr Spiegelbild im Wasser. Mit einer eleganten Handbewegung nahm sie einen Kamm aus Korallen zu Hand und begann, sich grazil die Unmengen an langem blondem Haar zu kämmen.
Als sie die Strähne nahm, die ihren rechten Oberkörper bedeckte, keuchte ich leise auf. Sie hatte tatsächlich Schuppen. Und zwar überall. Ihre Arme, ihr Gesicht und ihr Rücken waren menschlich, aber die Schuppen von ihrem Fischschwanz zogen sich bis zu ihrer Brust und wanden sich wie ein schulterfreies Top um ihren Hals. Als sie sich erneut leicht drehte, um einen Blick auf ihr Spiegelbild zu werfen, bemerkte ich, dass ihr gesamter Oberkörper von einem schuppenhaften Catsuit umhüllt war, der sonderbarerweise noch aufreizender wirkte, als Nacktheit das je gekonnt hätte. Kaelioras Schuppen glitzerten purpurgrün und grau, wie die einer Regenbogenforelle. Sie war wunderschön und versuchte mit aller Macht, Rens und Kishans Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Absichtlich wandte ich den Blick den Schildkröten zu und sagte: »Du musst dir die Haare nicht nass machen. Ich hole den Schlüssel.«
»Na schön, aber zuerst will ich mein Geschenk.« Sie schnipste mit den Fingern.
»Was für ein Geschenk?«, fragte ich.
»Du weißt schon … etwas Leuchtendes und Lebendiges.«
»Äh … tut mir leid. Wir haben dir nichts mitgebracht.«
Sie schürzte die Lippen. »Dann kann ich euch wohl doch nicht helfen.«
»Warte«, rief Ren, öffnete seinen Beutel und holte Durgas Lotosblüten heraus. »In der Prophezeiung heißt es, dem Ozean der Milch gebühre der gewundene Kranz. Ist es das, was du begehrst, Kaeliora? Blumen?« Er legte die Lotosblüten auf das milchige Wasser, wo sie zu den ausgestreckten Fingern der Meerjungfrau trieben.
»Oh!« Sie hob den Kranz auf und drückte sich die Blüten behutsam an die Wange. »Ich habe seit Tausenden von Jahren keine frischen Blumen mehr gerochen. Sie sind perfekt.«
Sie legte sich den Kranz um den Hals und ließ ihren Schwanz glücklich hin und her peitschen.
Wir standen eine Weile schweigend um sie herum, in der Hoffnung, dass sie sich wieder uns zuwenden würde. Doch die Meerjungfrau bewunderte allein ihr Spiegelbild, die Blumen und ihr Haar.
Schließlich sagte ich: »Der Schlüssel?«
»Oh! Ihr seid immer noch hier? Na schön«, murmelte sie, während sie ihr Haar nach Spliss untersuchte. »Der liegt am Grund des Sees.«
»Am Grund des Sees! Und wie bitte schön sollen wir ihn uns holen?«, fragte ich.
Grinsend hob sie den Kopf. »Natürlich indem ihr schwimmt. Was für eine dumme Frage.«
»Aber das Wasser ist gefroren und viel zu tief!«
»Es ist nicht so tief. Höchstens sechs oder sieben Meter, allerdings ist es wahrlich kalt. Wer auch immer hineinspringt, wird wohl erfrieren, bevor er wieder auftaucht.«
»Ich gehe«, meldete Ren sich mit leiser Stimme freiwillig.
Etwas barst in mir, und ich konnte den Worten nicht Einhalt gebieten, die aus mir herausplatzten. »Natürlich musstest du das sagen!«, schrie ich. »Immer bereit, sich den schlimmsten Gefahren auszusetzen, nicht wahr? Du kannst einfach keiner edlen Tat widerstehen, egal wie waghalsig sie sein mag! Warum auch nicht? Er ist schneller als die schnellste Gewehrkugel und springt spielend leicht auf die höchsten Gebäude. Natürlich willst du gehen.«
»Warum sollte ich bleiben?«, fragte er ruhig.
»Nein. Du hast recht. Es gibt natürlich überhaupt keinen Grund, dass du in Sicherheit bleibst. Für dich ist das nichts weiter als ein kleiner Spaziergang, nicht wahr, Superman? Nein, Iceman wäre in diesem Fall wohl der passendere Name. Warum nicht? Nur zu! Flieg los und rette uns, wie du das immer tust. Pass bloß auf, dass du nicht als Mr. Freeze zurückkommst. Er ist nämlich einer von den Bösen.«
Kishan schritt ein. »Ich denke, du reagierst über, Kells.«
»Das tue ich sicherlich, aber wir haben alle unsere Rollen zu spielen, oder? Und ich habe die Rolle der lästigen Freundin zu übernehmen. Du kannst der nette Kerl sein, der zurückbleibt, das Mädchen tröstet und ihr die Hand hält, während Ren loszieht und die Welt rettet. So funktioniert das doch, nicht wahr?«
Ren seufzte, und Kishan sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren, was irgendwie ja auch stimmte, und die Meerjungfrau rümpfte kichernd die Nase. »Wie lustig!«, sagte sie. »Aber das spielt sowieso keine Rolle. Er kann nicht gehen. Nur der dort kann es wagen.« Sie zeigte auf Kishan und bewunderte dann ihre Fingernägel.
»Was? Warum er?«, fragte ich.
»Weil er das Soma getrunken hat. Würde der dort versuchen, ins Wasser zu steigen«, erklärte sie mit einem Fingerzeig auf Ren, »würde es ihn auf der Stelle umbringen.«
»Das Soma getrunken? Meinst du das Gebräu in Phets Haus?«
»Ich habe keine Ahnung, wo er es getrunken hat. Ich weiß nur, dass dem so ist. Die Macht schimmert auf seiner Haut. Kannst du sie nicht sehen? Wie verführerisch sie glitzert …«
Ich spähte zu Kishan. »Nein, ich kann seine Macht nicht sehen.«
»Nun, das Wasser ist voll davon. Von der Macht, meine ich. Meine Aufgabe besteht darin, sie gelegentlich umzurühren, damit sie sich nicht auf dem Grund des Sees absetzt. Tauch einen Finger hinein, und du erlebst den Schock deines Lebens. Einen Arm, und dein Gehirn schaltet ab. Deinen ganzen Körper? Zack! Du zerplatzt.«
»Großartig«, murmelte ich.
»Aber bei Schuppen wirkt das Wasser Wunder. Es gibt nichts Besseres als ein Milchbad, wenn dein Schwanz auszutrocknen droht. Du solltest es allerdings lieber nicht ausprobieren. In diesem See tummelt sich nicht nur cremige Gutherzigkeit. Alle möglichen Arten besonderer Kräfte hausen dort, und nur einigen wenigen Auserwählten ist der Zugang gestattet. Man könnte es den Swimmingpool der Götter nennen, Zutritt nur für Mitglieder. Und keiner von euch beiden gehört dem Club an. Er wird wahrscheinlich trotzdem erfrieren, aber zumindest hat er eine faire Chance. Oh, und bevor ich es vergesse, ihr solltet euch beeilen. Meine Zehen frieren schon wieder, und falls der Springbrunnen vollständig vereist, bevor ihr zurückkommt, könnt ihr weder in den See eintauchen noch ihn verlassen, und dann kann ich euch leider nicht verraten, wie ihr die Halskette bekommt.«
Sprachlos standen wir da.
»Husch, husch. Na los. Beeilt euch!«
Wir drei machten uns im Laufschritt davon, rutschten und stolperten den Tunnel zurück zum See. Ganz leise hörte ich noch, wie sich die Meerjungfrau jammernd beklagte, dass ihr Schwanz nicht genügend Feuchtigkeitsfluid erhielt. Dann bogen wir um die Ecke, und ich konnte ihre Worte nicht mehr vernehmen.
Kishan schleuderte den Mantel fort und schlüpfte aus seinen Schuhen, während ich meine Hitze benutzte, um ein Loch ins Eis zu brennen, das groß genug für ihn war.
Da hörten wir schwach Kaelioras Rufen: »Er ist golden! Leuchtet im Dunkeln! Man kann ihn nicht verfehlen!«
Kishan schüttelte seine Arme und Beine aus, küsste mich fest und tauchte im nächsten Moment unter. Er blieb mehrere Minuten unter Wasser, bevor sein Kopf die dünne Eisschicht durchbrach, die das Loch nun wieder bedeckte. Nach einem tiefen Atemzug keuchte er: »Hab ihn noch nicht entdeckt.«
Ich stand wutschäumend da, biss mir auf die Lippe und versuchte, mir eine vernünftige Ausrede aus den Fingern zu saugen, warum ich bei Kishan, als er ins gefährliche Wasser gestiegen war, nicht genauso reagiert hatte wie bei Ren. Schon bald konnte ich mich überzeugen, dass es allein daran lag, dass ich nicht genügend Zeit gehabt hatte, um meine Gefühle zu sortieren.
Noch zweimal kam Kishan an die Oberfläche. Beim letzten Mal verkündete er: »Ich habe ihn gesehen, aber er ist ziemlich weit weg. Keine Sorge, ich kriege ihn trotzdem.« Seine Zähne klapperten, seine Lippen waren blau.
Da tauchte Kishan erneut unter, und die Meerjungfrau rief mit lauter, wenn auch gelangweilter Stimme: »Er wird es nicht schaffen. Er erfriert. Allerdings könntet ihr ihm helfen.«
»Wie?«, brüllte ich zurück.
»Das weißt du doch längst.«
Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor ich mir den Mantel vom Leib riss und dann an Ren zupfte. Er sagte kein Wort, schien jedoch genau zu wissen, was ich vorhatte. Ich schob mir die Ärmel hoch und schleuderte meine gesamte Feuerkraft auf den See. Ren zog mich an seine Brust, drückte seine Wange an meine und strich mit den Händen über meine Arme. Ich spürte, wie heiße Flammen an meiner Haut leckten, als ein goldenes Feuer nicht nur aus einer meiner Hände, sondern aus beiden schoss. Ren verschränkte die Finger mit meinen, und die Hitze nahm an Intensität zu.
Dampf stieg vom See auf, und das Loch wurde rasch größer und breitete sich über die gesamte Oberfläche aus. Ein Kopf tauchte in der Mitte des Wassers auf, und Ren flüsterte: »Ihm geht’s gut. Ich kann seinen Atem hören. Hältst du noch etwas durch?«
Ich nickte und heizte den See weiter auf, bis ich kein Eis mehr sah und Kishan in dem milchigen Wasser zu uns schwamm.
Er kam näher und rief: »Hey! Das fühlt sich richtig gut an. Fast wie in der Sauna! Wie schade, dass ihr zwei nicht reinspringen könnt!«
Als ich wusste, dass er in Sicherheit war, riss ich mich aus Rens Umarmung, der zwar eine Augenbraue hob, ansonsten jedoch nichts weiter sagte, und bat das Göttliche Tuch, uns Handtücher zu fertigen.
Kishan gelangte ans Ufer, watete aus dem Wasser und schüttelte sich wie ein Hund. Dann packte er mich, gab mir einen schrecklich feuchten Kuss und drückte mir den Schlüssel in die Hand. Während Kishan zurückblieb und sich trockene Kleidung überzog, rannte ich den nun matschigen Pfad zurück zum Springbrunnen. Ren folgte mir schweigend auf dem Fuße.
Vor der halb zugefrorenen Meerjungfrau kam ich schlitternd zum Stehen, verpasste ihr einen Hitzeschuss und hielt ihr dann den Schlüssel vor die Nase. »Wir haben ihn. Und was jetzt?«