26

Auftauchen

Wow! Was geschieht hier?«, rief Kishan.

Nachdem die Statuen verschwunden waren, senkte sich eine flimmernde Wolke über uns. Als sie sich wieder auflöste, hatten sich meine Kleidung und die von Ren verwandelt. Mir fiel die Kinnlade herunter. Er sah aus wie ein indischer Gott.

Das einzige Kleidungsstück an seinem Körper war ein weißer Wickel-Dhoti, der in der Taille zusammengeknotet war und knapp über den Knien endete. Ren trug einen goldenen Kopfschmuck, Armbinden und Gamaschen an Hand- und Fußgelenken. Um seinen Hals hing eine feingliedrige goldene Kette. Sein muskulöser bronzefarbener Körper glänzte.

»Bist du«, ich schluckte schwer, »eingeölt?« Ich starrte seine breite Brust ungläubig an.

Ren gab keine Antwort. Er gaffte mich ebenfalls mit einem sehr sonderbaren Gesichtsausdruck an.

»Was? Was ist los?«, fragte ich nervös.

»Du … bist das wunderschönste Geschöpf, das mir je unter die Augen gekommen ist.«

»Was?« Ich blickte auf mein Kostüm herab und berührte zögerlich den dicken goldenen Gürtel um meine Taille. »Warte mal.«

Ich eilte zu einem der meergeschwärzten Fenster, in der Hoffnung, einen Blick auf mein Spiegelbild zu erhaschen. »Huch.« Ich sah tatsächlich aus wie eine Göttin. Ein schwerer, reichlich bestickter weißer Rock bauschte sich von meinen Hüften bis hinab zum Boden. Meine Haare waren zu Zöpfen geflochten und im Nacken zu einer Schnecke eingedreht, während lose Strähnen meine nackte Haut kitzelten. Ein Dupatta-Schal war um mein enges, mit Perlen besetztes Oberteil gewickelt und in Falten um den Gürtel drapiert. Der goldene Gürtel umschloss fest meine Taille und betonte meine Hüfte.

Auch ich trug goldenen Schmuck – eine funkelnde Tiara, eine mehrmals um meinen Hals geschlungene Goldkette, schwere Ohrringe, Armreifen und sogar Fußkettchen. Obwohl die hauchdünne weiße Dupatta an meinem Rücken herabhing und meine Vorderseite bedeckte, bestand das Hemdchen darunter nur aus einem Hauch von Stoff. Sobald ich mich bewegte, spürte ich, wie die seidene Dupatta über meine Taille und den Rücken streichelte. In dem vergeblichen Versuch, meine nackte Haut zu verbergen, verschränkte ich verschämt die Arme.

Dass Ren mich immer noch unverhohlen anstarrte, als ich mich wieder umdrehte, half mir auch nicht unbedingt weiter. Zu meinem größten Erstaunen fiel er vor mir auf die Knie, nahm meine Hand und drückte seine Stirn daran. Nervös stammelte ich: »Äh … Ren? Was tust du da?«

»Vor einer Göttin niederknien.«

»Ich bin keine Göttin.«

»Doch. Eine Göttin, eine Prinzessin, eine Königin. Als Soldat schwöre ich dir lebenslange Treue. Als Prinz erfülle ich dir jeden Wunsch. Als Mann verlange ich nichts mehr, als zu deinen Füßen zu sitzen und dich anbeten zu dürfen. Ich werde dir jeden Wunsch von den Augen ablesen.« Er hob den Blick und umfasste meine Hände. »Sundari Rajkumari, mein Herz schlägt schneller, wenn ich dich in dem Gewand einer königlichen Prinzessin meiner Zeit sehe. Hätte ich dich damals getroffen, hättest du unserem Palast einen Besuch abgestattet, wäre ich wie jetzt sofort vor dir auf die Knie gefallen und hätte dich angefleht, mich niemals zu verlassen.«

Ich errötete und sagte: »Entweder übertreibst du maßlos, oder du hast einen Tiefenrausch erlitten.«

Ren lächelte sein strahlendes, blendend weißes Lächeln, das jedes Mädchen im Umkreis von zehn Meilen zum Schwärmen gebracht hätte, und erklärte feierlich: »Deine Bescheidenheit steht dir noch besser zu Gesicht. Du bist die zauberhafteste Frau auf Erden, Kelsey.«

Ich betrachtete Ren genauer. Er wollte mir nicht schmeicheln. Er meinte jedes Wort ernst. Wer hätte gedacht, dass ich einen Mann in die Knie zwingen könnte? Doch ich konnte nicht widerstehen und lächelte den wunderschönen Mann an, der vor mir kniete, strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Er drehte den Kopf und führte meine Hand an seine Lippen.

Kishan näherte sich und warf Ren einen bedrohlichen Blick zu. »Normalerweise entscheide ich im Zweifelsfall zu deinen Gunsten, weil ich weiß, dass du das Gedächtnis verloren hast, aber wärst du jetzt bitte so freundlich, dich von meiner Freundin zu entfernen und mir zu erklären, was hier los ist? Warum habt ihr euch umgezogen?«

Ren wich zurück und ließ Kishan durch – doch im nächsten Moment blieb auch Kishan wie angewurzelt stehen.

»Du siehst hinreißend aus!«, rief Kishan.

»Hinreißend trifft es wohl nicht recht«, fügte Ren leise hinzu. »Sie ist … göttlich, himmlisch, atemberaubend …«

Ich hielt die Hand hoch. »Na schön. Okay, wenn wir jetzt alle aufhören könnten, Kelsey anzustarren, wäre ich nicht ganz so verlegen.«

Ungläubig sagte Ren: »Verlegen? Warum um alles in der Welt solltest du verlegen sein?«

»Weil ich mich unwohl fühle, so viel Haut zu zeigen. Könnten wir unsere Aufmerksamkeit bitte anderen Dingen zuwenden?«, bat ich auf eine sehr wenig göttinnenhafte Weise, die die beiden mit einem Schlag zurück in die Realität versetzte.

Ren und Kishan blinzelten, und Ren wandte sich schließlich widerwillig ab, um seinem Bruder zu erzählen, was für einen riesigen Hai er gesehen hatte. Dennoch erwischte ich die beiden immer wieder, wie sie verstohlen meine unbedeckte Haut bewunderten. Ein leises Knurren von einem der Brüder brachte den anderen für gewöhnlich rasch zurück zu unserer Unterhaltung.

Auch Kishan war neu eingekleidet worden. Er trug eine Art gewickelten Lendenschurz, dazu mehrere Perlenketten um den Hals und Armbänder am Handgelenk. Ein Teil seines Haars war zu einem Knoten zurückgebunden und mit Juwelen verziert, während die übrigen Strähnen seine breiten Schultern streiften. Er trug eine dünne Kordel um die Taille, an der ein Horn angebracht war, das auf seiner Hüfte ruhte. Goldene Kreolen an seinen Ohren klirrten bei jeder Kopfbewegung, und ein drittes Auge war auf seine Stirn gemalt.

Da fiel mir etwas auf. »Wartet mal!«

Die Brüder hielten mitten im Satz inne, während ich um sie herumspazierte und ihre Gewänder eingehend betrachtete. »Unsere Kleidung ist nicht willkürlich gewählt. Wir sind sie! Ich bin Parvati.«

Die beiden wandten sich zu mir um, und Kishan zuckte mit den Schultern.

Ren beäugte mich eindringlicher. »Du hast recht. Du trägst ihre Kleidung.«

»Dann gehört das hier wohl dir.« Kishan lächelte mich an, während er mir eine Halskette darbot.

Da ich nichts weiter vermochte, als sie anzustarren, trat Kishan hinter mich und legte sie mir an. Sie bestand aus einem filigranen Netz aus Silberbögen, in deren Mitte winzige Diamanten funkelten. An jeder Spitze baumelte eine schimmernde schwarze Perle von der Größe meines Daumennagels. Ein Muster aus schwarzen und weißen Perlen hing in Form einer Lotosblüte von der Mitte herab. Die Kette umhüllte schwer meinen Hals. Vorsichtig strich ich mit dem Finger über die Lotosblume.

Kishans Lippen berührten sanft die empfindliche Haut unter meinem Ohr und flüsterten: »Sie steht dir.«

Genau in dem Moment, als ich das Einrasten des Verschlusses vernahm, rief Ren: »Warte!«

Augenblicklich wurde ich in einen Windkanal gesogen, der mich in eine weiße Leere katapultierte. Das Amulett, das an meiner Kehle hing, brannte. Für einen kurzen Moment war ich wie benommen, versuchte, eine entspannte Haltung einzunehmen und beobachtete, wie eine Abfolge an verschwommenen Szenen an mir vorbeizog.

Zuerst war ich zurück auf der Deschen und lauschte Mr. Kadam und Nilima, die Landkarten studierten. Sie konnten mich weder sehen noch hören, auch wenn ich mehrere Minuten vergeblich versuchte, mit ihnen zu kommunizieren. Dann zersplitterte das Bild, und ich wurde zu einem anderen Schiff gefegt, auf dem sich etwas befand, das Mr. Kadams Geist zu sein schien. Flossen durchbrachen das Wasser und tauchten wieder unter. Ein sechs Meter langer Weißer Hai hob den Kopf aus dem Wasser, schnappte mit seinem mächtigen Kiefer zu und machte ein schreckliches Geräusch. Lokesh stand über dem wilden Tier, die Hand am Amulett.

Ich trat zur Seite und keuchte auf, als ich Kapitän Dixon erkannte. Sein rechtes Auge war zugeschwollen, und blutige Schnittwunden bedeckten seine Brust und seine Arme. Ich hörte Lokesh zu, der ihn befragte, doch der großmütige Seemann bot ihm trotzig die Stirn und weigerte sich, unseren Aufenthaltsort oder unser Ziel zu verraten – selbst als er über die Brüstung gedrückt wurde und sehen konnte, dass die Haie tief unten hungrig auf ihn warteten.

»Vielleicht brauchst du einen stärkeren Anreiz?«, hörte ich Lokesh freundlich nachhaken. Der dunkle Magier winkte mit der Hand, und eine unsichtbare Macht schubste eines seiner Besatzungsmitglieder über Bord in ein Gewühl aus todbringenden Geschöpfen. Die Schreie des Mannes verstummten rasch, doch die Geräusche der Haie, die sich an ihm labten, waren schrecklich – das Schmatzen, das Knacken von Knochen, das Platschen von geschmeidigen, torpedoförmigen Körpern, die sich auf abgetrennte Gliedmaßen stürzten, Schwänze, die vor und zurück peitschten, während mächtige Kiefer das Fleisch in Stücke rissen, um sie herunterzuschlingen.

Bei den widerwärtigen Geräuschen stahl sich ein Lächeln auf Lokeshs Züge. »Letzte Chance, Kapitän. Ist dir dein Leben nichts wert?«

Die Antwort des Kapitäns lautete: »Seit ich eine kleine Junge bin, der im Wasser geplanscht hat, weiße ich, dasse meine Leiche weit weg von die Ufer beigesetzt wird. Meine Knochen werden liegen auf die Grund dese Meeres. Dase Meer … sie ise meine Frau, und deine Haie sind meine Kinder. Ich werde in ihre Arme sterben. Ich bereue nichtse.«

Stirnrunzelnd schnipste der Zauberer mit den Fingern. »Wie du willst.« Und Lokesh schickte den Gefangenen über Bord. Der Kapitän fiel stumm, stürzte langsam in die Fluten, während er sich noch einmal in der Luft überschlug. Als er das schwarze Wasser schließlich berührte, legten sich die Wellen wie eine dunkle Decke über ihn.

Ohne einen Laut versank sein Körper und wurde blitzschnell von den Haien verschlungen. Ich keuchte entsetzt auf, unfähig, einen Ton von mir zu geben. Ihre Flossen verschwanden, und im nächsten Moment war das Wasser so schwarz und still wie die Seele des Mannes an der Reling, den ich beobachtete.

Ich sah, wie sich auf Lokeshs boshaftem Antlitz ein bewundernder Zug stahl, bevor er dem Todgeweihten den Rücken zuwandte – und dann erstarrte.

Es war, als wären wir auf irgendeine Weise aus dem Zeit-Raum-Kontinuum getreten und nun Geister in einer weißen, ätherischen Welt.

Beide, Lokesh und Mr. Kadam, sahen hinter mich und so drehte ich mich um. Ren war verstummt, hielt meinen schlaffen Körper in den Armen, während Kishan mir Liebkosungen zuflüsterte und mir das Haar zurückstrich.

Da wandte sich Lokesh erstmals mir zu. »Interessant. Ich nehme an, du hast eben meiner Unterhaltung gelauscht.« Er betrachtete das Bild hinter mir. »Wie ich sehe, hast du die Herzen beider Brüder gestohlen, was auch meiner wunderschönen Yesubai gelungen ist. Wie höchst … machiavellistisch von dir, meine liebe Kelsey

»Reden Sie nicht mit ihm«, warnte mich Mr. Kadam.

»Ach.« Lokesh lächelte bösartig. »Ist es der jungen Dame gelungen, selbst Ihr Herz brennen zu lassen, mein Freund?« Lokeshs Blick glitt zurück zu mir, und in seinen Augen loderte ein Feuer, das ich vorher nicht bemerkt hatte. »Ich muss gestehen«, lachte er beiläufig, doch sein hungriges Grinsen strafte sein freundliches Auftreten Lügen, »mein Interesse hat sie ebenfalls geweckt.«

»Sie ist mein Mündel und fällt damit unter den Schutz des Hauses Rajaram«, warnte Mr. Kadam. »Sehen Sie sie nicht auf diese anzügliche Weise an! Das verbiete ich. Sie ist ein tugendhaftes Mädchen und nicht für Ihresgleichen gemacht.«

Nicht für ihn gemacht? Lokesh wollte … mich? Mir wurde übel, und bei der Art, wie er mich ansah, hätte ich meine Haut am liebsten mit Kernseife geschrubbt, mir die Augen ausgestochen und Bleichmittel in mein Gehirn geschüttet, um ihn aus meiner Erinnerung zu löschen.

»Mörder!«, fauchte ich. »Sie haben Kapitän Dixon umgebracht!«

»Na, na, meine Liebste. Das ist die Schuld deiner hochgeschätzten Tiger. Glaubten sie doch tatsächlich, ich wäre zu einfältig und alt, um das Schiff zu finden, das nach ihrer Mutter benannt ist? Sie sind dumm und schwach. Wie ihr Vater. Rajaram ist damals lieber abgehauen, als sich mir zu stellen. Er hat seine Familie im Dschungel versteckt und sein Volk im Stich gelassen. Sie werden sich ebenfalls von dir abwenden.«

»Das würden sie niemals tun.« Ich biss die Zähne zusammen, um ein Schluchzen zu unterdrücken, während mir heiße Tränen das Gesicht herabliefen.

Lokesh maß mich nachdenklich mit seinen Blicken. »Stell dir vor, was wir gemeinsam erreichen könnten, meine junge Freundin. Mit den vereinten Amuletten könnte ich über die Welt herrschen, und du wärst die Königin an meiner Seite. Ich würde dich mit dem kostbarsten Prunk aller Zeiten überhäufen. Jeden Wunsch würde ich dir augenblicklich erfüllen. Ich bin ein gut aussehender Mann, meine Liebe.« Die Luft um ihn flirrte und verschwamm. »Jung genug, um einer Frau wie dir … zu gefallen.«

Erschrocken betrachtete ich seine Gesichtszüge. Er hatte recht. Er war jung und gut aussehend. Warum ist er mir früher viel älter vorgekommen? Ist das ein Trick? Er war jetzt kräftig und muskulös, das Haar hatte er nach hinten gekämmt. An jedem Finger trug er immer noch einen Ring, doch die Finger waren nicht mehr dick und klobig, sondern lang und schmal.

»Miss Kelsey, das ist ein Trugbild. Ignorieren Sie ihn«, flehte Mr. Kadam mich an.

Lokesh fuhr fort: »Ich könnte dir ein gutes Leben bieten.«

»Was wollen Sie von mir? Warum ich?«, fragte ich. »Sie könnten doch jede beliebige Frau haben.«

»Aber jede beliebige Frau ist meiner nicht würdig. Und was die Frage anbelangt, was ich von dir will …«, er lachte vielsagend, während sein Blick langsam an meinem Körper hinaufglitt und schließlich an dem Amulett hängen blieb, »so gibt es da etwas, was selbst ein Mann mit meiner Macht nicht alleine erreichen kann. Errätst du, was ich meine?«

Als mich die Antwort traf, sog ich scharf die Luft ein. »Ein Kind. Sie wollen ein Kind?«

»Ja. Ich will einen Sohn. Ich habe dich ausgewählt, weil du stark und mutig bist. Yesubais Mutter war schwach. Nur eine einzige andere Frau hat mein Herz auf dieselbe Art berührt wie du, aber sie ist leider verschwunden, was mir sehr ungelegen kam.«

»Deschen«, flüsterte Mr. Kadam ungläubig. »Sie wollten Deschen.«

»Ja. Sie war wunderschön und leidenschaftlich. Deschen hätte mir einen prächtigen Sohn geschenkt, einen Erben. Er wäre vortrefflich gewesen – so hochgewachsen und tapfer wie Dhiren, so muskulös und stark wie Kishan, aber von meiner eigenen Weisheit erfüllt, verschlagen und mit einem unstillbaren Hunger nach Macht gesegnet. Ein Sohn meines Blutes.«

»Aber du«, wandte sich der Zauberer an mich, »bist die bessere Wahl. Du bist nicht nur kühn, sondern in dir lodern ein Feuer und unsägliche Macht. Vielleicht liegt es nur an dem Amulett, allerdings glaube ich das nicht. Du hast etwas Besonderes, etwas … Andersartiges an dir. Und ob du nun willst oder nicht, ich werde dich besitzen.«

»Nein«, flüsterte ich leise. »Nein«, wiederholte ich und schüttelte abwehrend den Kopf.

Lokesh neigte den Kopf und sah mich abschätzend an. »Vielleicht, wenn du freiwillig zu mir kämst, würde ich deinen Tigern das Leben schenken, auch wenn sie es auf einer winzigen, abgelegenen Insel fristen müssten. Und ich versichere dir, sobald ich einmal einen Pfad eingeschlagen habe, lasse ich mich nur sehr selten davon abbringen.«

»Das reicht! Sie steht unter meinem Schutz, und solange noch das kleinste bisschen Leben in meinen Gliedern steckt, werden Sie sie nicht zu fassen bekommen«, drohte Mr. Kadam.

Lokesh lächelte. »Dann müssen wir wohl dafür sorgen, dass Ihnen in nächster Zeit das Leben aus den Gliedern gesaugt wird, mein Freund. Ich freue mich auf diese Herausforderung. Seien Sie vorgewarnt, ich werde Ihnen bald einen Besuch abstatten.«

»Und ich warte auf Sie«, setzte Mr. Kadam nach.

Unsere Körper lösten sich allmählich auf, wurden gespensterhaft.

Ich wandte meine besorgten Blicke zu Mr. Kadam, und er lächelte, versuchte mich aufzumuntern.

»Oh, und übrigens«, fügte Lokesh mit einem anzüglichen Grinsen hinzu. »Ich bin sicher, wäre es Kapitän Dixon möglich, würde er sein Bedauern bekunden, Ihnen nicht länger dienen zu können. Bei seiner neuen Anstellung muss er mit … Haut und Haaren bezahlen.«

Lokesh bemerkte, wie mir die Tränen die Wangen hinabkullerten, und lachte wie ein Wahnsinniger. Das schreckliche Lachen hallte in meinen Ohren wieder, bis sich die Szene endlich vor mir auflöste.

Ich erwachte tränenüberströmt. Kishan streckte sich nach mir aus, und Ren ließ mich widerstrebend los.

»Was ist passiert, meine Süße? Kannst du uns erzählen, was geschehen ist?«

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, lehnte mich gegen Kishans Brust und berichtete, dass ich in der Vision Mr. Kadam und Lokesh gesehen hatte. Als sie mich fragten, was Lokesh gesagt hatte, log ich.

»Nur das Übliche«, versicherte ich. Ich wollte keinen der beiden mit dem Wissen belasten, was Lokesh von mir wollte. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, ihnen davon zu erzählen, dieses Wissen würde sie regelrecht um den Verstand bringen. Im Moment hatten sie genügend dringlichere Probleme. Die Sache mit Kapitän Dixon würde ich ihnen auch erst später offenbaren.

Für einen Sekundenbruchteil zog ich Lokeshs Angebot in Erwägung. Ein winziger Teil meines Herzens dachte: Was wäre wenn? Was wäre, wenn wir verlieren und ich sie retten könnte, indem ich auf Lokeshs Bedingungen eingehe? Immerhin halte ich nun einen Trumpf in Händen. Wenn ich sie schlussendlich mit meinem Opfer retten kann, werde ich nicht zögern.

Die Tiger waren darauf bedacht, so bald wie möglich aufzubrechen. Erholt genug, um alleine stehen zu können, trat ich einen Schritt beiseite, richtete meine Dupatta und strich mir übers Haar. Als ich bemerkte, dass Ren mich anstarrte, errötete ich bei der Erinnerung, wie er vor mir auf die Knie gefallen war, auch wenn sein Gesicht diesmal von Sorge zerfurcht war.

»Was ist los?«, fragte ich. »Was hast du?«

»Kishan. Er … ist Shiva. Er muss es sein, mit diesem dritten Auge, der Kleidung, und dann die Art, wie er dir die Halskette dargeboten hat …« Seine Stimme verlor sich.

»Und das macht dich zu …«

»Indra«, erklärte Ren deprimiert.

»Schön. Und was bedeutet das? Was sollen wir tun?«, fragte ich.

Rens Gesicht nahm einen finsteren Zug an. »Wir tun, wozu wir hergekommen sind. Indra tötet das Ungeheuer und Shiva«, seine Augen huschten über mein Gesicht, »fordert seine Braut ein.«

Kishan hatte sich hinter mich gestellt und legte mir die Hände auf die Schultern. Ren schritt zu einem der Fenster und betrachtete den schwarzen Ozean. Ich wandte mich um, lächelte Kishan an und tätschelte ihm die Hand, bevor ich zu Ren ging und seinen Arm berührte.

»Du bist nicht Indra. Du magst wie er gekleidet sein, und ich mag wie Parvati gekleidet sein, aber ich bin nicht sie. Ich bin Kelsey, du bist Ren, und er ist Kishan. Wenn es dort draußen wirklich ein Ungeheuer zu töten gibt, wird es nicht Indra tun. Kelsey, Ren und Kishan werden es gemeinsam vollbringen. Wir mögen in einer Sage gefangen sein, aber wir werden dennoch unsere eigene Geschichte schreiben. Okay?«

Ren nickte und riss mich heftig, wenn auch nur kurz, an sich, bevor er mich wieder losließ. Ich bezweifelte, dass er mir glaubte, aber zumindest versuchte er es.

»Ich hole unsere Sachen«, sagte er leise.

Ich blickte ihm nach, dann ging ich zu Kishan zurück, der nun ebenfalls die Arme um mich schlang.

»Er ist aufgebracht«, sagte er.

»Ja. Aber das liegt nicht nur an der Indra-Sache. Ich habe im Eispalast mit ihm geredet. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein kann und mich für dich entschieden habe.«

Kishan erstarrte. »Das hast du getan?«, fragte er zögerlich. »Was hat er gesagt?«

»Dass er immer mein Beschützer und Freund sein wird.«

»Wirklich? Das war alles?«

»Ja. Hast du etwas anderes erwartet?«

»Ganz ehrlich? Ja. Ich habe angenommen, dass du dich von mir trennst.«

»Nun, das habe ich nicht vor.«

»Ich verstehe.« Er rieb sich das Kinn und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Willst du … mich denn nicht mehr?«

»Dich nicht mehr wollen?«, fragte er ungläubig. »Es gibt nichts, was ich mehr will, als zu dir zu gehören. Mit dir zusammen zu sein. Doch ich muss zugeben, dass ich überrascht bin. Warum bist du nicht zu ihm zurückgekehrt?«

Ich dachte eine Sekunde nach, was die angemessene Antwort wäre, dann schmiegte ich mich an Kishans Brust und schlang ihm die Arme um die Taille.

»Ich bin bei dir geblieben, weil … ich dich liebe und du mich glücklich machst.«

»Ich liebe dich ebenfalls, Bilauta.« Er legte sein Kinn auf meinen Kopf und streichelte mir über den Rücken.

Ich wusste, dass Ren zurückgekommen war, als unser Gepäck mit einem lauten Knall auf dem Boden landete. Ich löste mich aus Kishans Umarmung, strich mir schuldbewusst den Rock glatt und hörte Ren sagen: »Lasst uns die Sache über die Bühne bringen. Wenn ich bitten darf, Kelsey.«

»Perlenkette«, sagte ich, »könntest du uns den Weg weisen, wie wir an die Oberfläche kommen? Vergiss den Meeresdruck bitte nicht und dass wir Sauerstoff brauchen.«

Die Kette funkelte und begann so intensiv zu leuchten, dass wir wegsehen mussten. Nach ein paar Sekunden erlosch sie wieder, doch nichts war geschehen.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte ich.

»Ich bin nicht sicher«, erwiderte Ren.

»Etwas nähert sich. Seht ihr das Licht dort?«, Kishan zeigte auf das schwarze Fenster.

Und tatsächlich, etwas kam auf uns zu. Ein pulsierender weißer Lichtfleck schob sich näher. »Das sind Quallen«, sagte Kishan. »Nur dass sie riesig sind!«

Und sie waren wirklich riesig. Jede von ihnen größer als ein Heißluftballon. Da kam mir eine Idee, und ich atmete scharf ein. »Ich denke, das könnten unsere Transportmittel sein.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen, Kells«, sagte Kishan. »Wie sollen wir atmen?«

»Sonderbarere Dinge sind uns schon widerfahren«, entgegnete ich.

Er schnaubte. Wir drei pressten die Nasen gegen die Fensterscheibe und starrten die näher kommenden Geschöpfe an. Sie waren faszinierend. Während sie sich langsam, aber unaufhaltsam auf uns zubewegten, blähten sich die kuppelförmigen Tiere auf und stießen Wasser aus. Sie besaßen lange, schlaffe Tentakel, die von ihren Körpern wie Bänder von einer Piñata herabhingen. Ihre runden Schirme waren glockenförmig, durchscheinend und leuchtend. Aus der Mitte der Geschöpfe baumelten gefiederte Fangarme herab, die mich an Blauregen erinnerten, nur dass diese gefransten Wedel hier leuchtend orange und gelb waren. Die Fangarme flatterten im Wasser und waren ebenfalls durch den Schirm hindurch zu erkennen. Sie gaben den Quallen den Anschein, als würde ein Feuer in ihnen brennen.

Eine Qualle hatte uns erreicht, schwebte eine Weile hin und her und berührte schließlich mit mehreren dünnen Tentakeln das Fenster. Die Fangarme glitten über das geschliffene Glas und tasteten vorsichtig die Oberfläche ab wie ein Blinder, der einen Schrein befühlte. Dann, als das Tier die gewünschte Stelle gefunden hatte, durchstachen seine schmalen Finger das Glas und bewegten sich auf uns zu. Erschrocken wichen wir drei zurück. Das Geschöpf schob sich näher, während wir nun starr wie Statuen dastanden. Auf irgendeine Weise war es ihm gelungen, das Fenster zu überwinden, ohne es zu zerbrechen.

Nicht das kleinste bisschen Meerwasser trat ein. Kein einziger Tropfen rann das Fenster herab. Ein Tentakel erreichte Kishan und schlang sich behutsam um seinen Arm. Er hätte ihn wegziehen können, aber das Tier war so zart, dass er es womöglich verletzt hätte, wäre er ruckartig zurückgewichen. Sanft zupfte es an Kishans Arm, bis er einen Schritt nach vorne machte. Weitere Tentakel kamen ins Zimmer und umwickelten ihn, zogen ihn näher ans Fenster. Das Geschöpf schloss ihn in eine liebevolle Umarmung – ein Bild, das mich an eine gebrechliche Großmutter erinnerte, die versuchte, ihren stattlichen Enkelsohn zu liebkosen.

Die Qualle wich vom Fenster zurück, wobei sie Kishan mit sich zog. Sein Arm verschwand durch die schwarze Scheibe und tauchte draußen im Wasser wieder auf. Er holte tief Atem, und mit einem letzten zärtlichen Zupfen trug das Tier ihn durch das Glas. Liebevoll schmiegte sie ihn an ihren Körper, sodass sich sein Kopf genau unterhalb ihres Schirms befand. Mit dem Daumen nach oben gab uns Kishan zu verstehen, dass er problemlos atmen konnte.

Kishans Qualle schwamm davon, und eine andere nahm ihren Platz ein. Als ihre Tentakel das Pagodenfenster durchbrachen, zurrte Ren die Riemen seines Rucksacks fest.

Ich berührte ihn am Arm und sagte: »Ich gehe als Nächste.«

Mit einem Nicken trat Ren zur Seite, während die Tentakel sich nach mir ausstreckten. Er beobachtete, wie das Geschöpf mich langsam umhüllte. Er wirkte schrecklich traurig und warf mir einen Blick zu, als würde er mich nie mehr wiedersehen.

Während die Qualle mich vorsichtig zum Fenster zog, packte mich Ren am Arm, drückte seine Lippen an mein Ohr und sagte: »›Wie Wellen an des Ufers Kieseln bersten, so eilen unsre Stunden an ihr Ziel.‹« Zärtlich küsste er meine Schläfe und flüsterte: »Vergiss nie, ich liebe dich, Priyatama

Ich wollte ihm gerade eine Antwort geben, als mich das Geschöpf durch das Fenster in den eiskalten Ozean sog. Mir war jedoch nur für einen kurzen Moment kalt, denn sobald mich das Tier in seine gefiederte Umarmung schloss, veränderte sich die Temperatur. Mein Kopf wurde unter den Schirm gezogen und auf ein warmes, weiches Kissen gebettet, das in der Dunkelheit wie eine flackernde Kerze schwach leuchtete.

Ich hörte das Pumpen von Luft, ähnlich einem Blasebalg. Als ich erkannte, dass das Tier Sauerstoff für mich produzierte, musste ich lachen. Der Rest meines Körpers baumelte in einer Art Hängematte, die die Tentakel gebildet hatten. Es fühlte sich an, als faulenzte ich in einem heißen Spa, und beinahe überkam mich das Gefühl, die Qualle könnte meine Gedanken lesen, denn kurz darauf begann ihr Körper zu summen und zu vibrieren. Ich seufzte und entspannte mich in den fähigen »Händen« meiner Tiefsee-Masseurin.

Als ich einen Moment später die Augen einen Spalt öffnete, sah ich, dass sich Ren zu uns gesellt hatte. Durch den durchsichtigen Ballon konnte man ihn leicht ausmachen, und schräg dahinter war Kishan. Die Lichter dämpften sich zu einem schwachen Glühen, und ich spürte das mächtige Pumpen meiner Qualle, als sie sich im dunklen Wasser nach oben kämpfte. Die Siebte Pagode löste sich in einem Strudel aus Schatten unter uns auf, und dann war sie verschwunden.

Unser Fahrdienst bewegte sich unaufhaltsam, wenn auch langsam, und ich spürte weder den Druck des umgebenden Ozeans, noch sah ich irgendein Ungeheuer der Unterwasserwelt, obschon ich besorgt Ausschau hielt. Die Quallen schwebten, einem Ozeanballett gleich, anmutig um die eigene Achse. Als sich meine ein winziges Stück über die anderen schob, fühlte ich mich wie eine Lady mit einem bauschig weiten, spitzenverzierten Petticoat samt filigranem Sonnenschirm, die über eine Bühne schwebte und nichts wahrnahm, außer den Männern, die zur Show gekommen waren und mich mit hungrigen Augen vom Parkett aus anstarrten.

Ich konnte regelrecht spüren, wie wir die abyssopelagische Zone verließen und hinauf durch das Bathyal und in Jınsèlóngs Reich vordrangen. Hier waren auf einmal Fische zu sehen. Zu Anfang waren es nur unheimliche Geschöpfe mit langen Zähnen, doch als das Wasser allmählich heller wurde, erblickte ich einen Pottwal. Nachdem wir noch höher gestiegen waren, tauchte der erste Hai auf. Ich geriet in Panik, doch es war nur ein Hammerhai, der uns keinerlei Beachtung schenkte. Ein Schwarm Thunfische mit funkelnden Schuppen schoss an uns vorbei, und ich holte erleichtert Atem. Wir würden es schaffen. Dreihundert Meter lagen schätzungsweise noch vor uns. Weitere Tiere schwammen an uns vorbei, einige von seltsamer Gestalt, doch die Qualle ließ sich von ihrem stetigen Kurs nach oben nicht abbringen.

Aufgeregt wies ich Kishan auf das erste Pflanzenbüschel hin, als ich eine spürbare Unruhe im Wasser bemerkte. Kishan riss die Augen auf, und ich betete zitternd, dass es nicht das war, was ich befürchtete. Ich presste die Hände gegen die elastische Haut des Schirms und spähte in den Ozean. Zunächst sah ich nichts, doch dann drehte die Qualle sich, und ich erblickte den furchterregenden Umriss des riesigen Hais aus der Siebten Pagode. Er schwamm gemächlich seine Runden, patrouillierte im Wasser.

Das Ungeheuer hatte das Maul leicht geöffnet, und selbst aus der Entfernung konnte ich die Reihen scharfer Zähne sehen. Andere Haie näherten sich ihm neugierig und ergriffen dann blitzschnell die Flucht. Auch eine Gruppe Delfine wich hastig vor ihm zurück und stieß Warnschreie aus. Ich beobachtete, wie sie sich fortstahlen, und wünschte, ich könnte es ihnen gleichtun, doch ich wusste, dass dieser Hai keines der anderen Meerestiere angreifen würde. Er fraß nicht. Er schlief nicht. Sein Dasein hatte nur einen einzigen Zweck – die Schwarze Perlenkette davon abzuhalten, zur Wasseroberfläche zu gelangen … Und die Kette hing um meinen Hals. Die gute Nachricht war, dass er uns noch nicht gesehen hatte. Die schlechte, dass wir noch hundertfünfzig Meter vor uns hatten.

Der Hai schwamm eine Weile parallel zu uns und verschwand dann aus unserem Sichtfeld, kehrte aber schon bald zurück und zog einen großen Kreis um uns. Genau in diesem Augenblick kam die Sonne hinter einer Wolke hervor, und das Wasser war nun nicht mehr grau, sondern hellblau. Meine Qualle drehte sich, und der goldene Gürtel, den ich trug, spiegelte sich funkelnd im Wasser wider.

Der Hai, der sich unter uns befand, spähte mit seinem riesigen schwarzen Auge herauf. Er schwamm näher und sah sich das Glitzern genauer an. Ich konnte regelrecht spüren, wie sich in seinen kalten Augen der Funke des Wiedererkennens entzündete, als er mich eindringlich musterte. Im nächsten Moment war der Hai verschwunden, nur um sogleich aus den schwarzen Tiefen des Ozeans unter uns heraufzuschießen. Entsetzt schrie ich auf, als ich sah, wie er das Maul aufriss, jedoch nicht für mich, sondern für Ren. Ich legte die Hand über die Perlen an meiner Kehle und flüsterte: »Perlenkette, bitte schubs Ren weg.«

Eine Woge erfasste Rens Qualle, und der Hai stürzte an ihm vorbei und bekam nur ein paar Tentakel zu fassen. Der Hai machte eine Kehrtwende und wollte einen zweiten Versuch starten, da umklammerte ich erneut die Perlenkette. »Wir sind gleich oben. Wir brauchen etwas, um an Land zu kommen.«

Die Schwarze Perlenkette leuchtete auf, und der Schatten eines kleinen Wasserfahrzeugs erschien auf der Wasseroberfläche. Der Hai schwamm näher. Sein Maul klappte auf und blieb offen stehen. Der riesige Hai ließ sich Zeit, während er sich Kishans Qualle näherte, und biss genau in dem Moment, als ich die Perlenkette bat, Kishan ebenfalls in Sicherheit zu bringen, fast zärtlich, wie ein versnobter Gourmet, in den Schirm seiner Beute. Ich war zu spät.

Quallenflüssigkeit spritzte heraus und trübte das Gebiet um das Tier. Die Tentakel schlugen nun auf den Körper des Hais ein, und Kishan bewegte sich ruckartig im Wasser, als die Qualle ihn hastig ausspuckte. Er nahm sich einen Moment, um zu mir zu blicken. Der Hai hatte ihn noch nicht gesehen. Ich zeigte zu dem Schatten an der Wasseroberfläche, und Kishan begann zu schwimmen. Der Riesenhai biss herzhaft in die zarte Qualle, bis nichts übrig war als ein langer Tentakel, der von einem der Haizähne herabbaumelte. Er rollte mit den Augen, suchte das Wasser ab und war mit einem mächtigen Schlag seines sichelförmigen Schwanzes verschwunden.

In der Zwischenzeit hatte sich Ren aus seiner Qualle befreit und tätschelte ihr den Schirm, woraufhin sie sich aus dem Staub machte. Verängstigt spähte ich durch das schattige Wasser. Eine schreckliche Gestalt schälte sich aus dem dunklen Ozean hinter Ren. Ich schrie und schlug gegen die Wand meiner Qualle, während ich wie verzweifelt mit dem Finger zeigte.

Ren wirbelte im Wasser herum, zog seinen Dreizack heraus und schoss eine rasche Abfolge spitzer Speere auf den Hai ab. Ein Speer bohrte sich in sein Maul, andere prallten an seiner harten Haut ab, während wiederum andere seine Seite aufritzten. Für ein Ungeheuer dieser Größe mussten sich die Wurfgeschosse wie Akupunkturnadeln anfühlen, dennoch störten sie den Hai genug, dass er abtauchte, und Ren schwamm zum Luftholen an die Oberfläche. Er warf seinen Rucksack an Bord des Bootes, das die Halskette für uns gefertigt hatte, und dann war ich mit einem Mal allein im Wasser.

Mein Körper zitterte, und in schier unerträglicher Panik drehte ich mich immer wieder in alle Richtungen. Ich spürte meine Verletzlichkeit bis ins Mark und bejammerte mehrere Dinge zugleich – die Zerbrechlichkeit meiner Qualle, die Durchsichtigkeit der Hülle, die Dunkelheit des Wassers, das Funkeln meiner Kleidung. All diese Dinge machten mich zu einem köstlichen Leckerbissen, auf dem einladend stand: »Friss mich!«

Der Hai war in das dunkle Wasser weiter unten geschwommen und bereitete höchstwahrscheinlich einen neuen tödlichen Angriff vor. Ich wusste, je länger ich im Ozean trieb, desto größer die Gefahr, in der ich schwebte. Ich berührte die Perlenkette und bat sie, mich schneller an die Wasseroberfläche zu bringen. Wir drifteten höher, aber es dauerte zu lange. Der Hai war immer noch irgendwo dort draußen. Ich hoffte, Rens Pfeile hätten ihn genug gestört, dass er mich in Ruhe ließ, während ich mich dem Boot näherte.

Ren und Kishan kamen mir entgegen. Auf einmal sah ich, wie der Hai auf sie zuschoss. Sie verschränkten die Hände und drückten sich dann mit aller Gewalt voneinander weg, sodass der Hai zwischen ihnen hindurchjagte. Währenddessen zog Kishan die Chakram und Ren den Dreizack. Ren beschoss ihn auf der einen Seite mit unzähligen Speeren, während Kishan ihm auf der anderen eine lange, tiefe Schnittwunde verpasste. Der Hai schwamm in einer Wolke aus Blut davon.

Ich wischte an der gummiartigen Wand der Qualle, aber das Wasser war zu aufgewühlt und die Umgebung zu blutig, um sonderlich viel auszumachen. Umrisse schossen hastig an der Qualle vorbei, und ich erkannte, dass es sich um andere Haie handelte, auf der Suche nach einem Mittagessen. Offensichtlich waren sie von dem heftigen Kampf angelockt worden und hatten den Geruch von Blut im Wasser wahrgenommen.

In schrecklicher Panik – es graute mir zwar, den Schirm zu verlassen, aber ein Bleiben kam auch nicht infrage – bat ich die Qualle, mich freizugeben. Ich hoffte, in dem Durcheinander unbemerkt an die Oberfläche zu gelangen, doch statt mich wie Kishans Qualle einfach auszuspucken, zog mich mein Tier tiefer in den Schirm und zuckte vor und zurück. Das war der Augenblick, als ich einen scharfen Schmerz und ein Zerren an meinem Bein verspürte. Mit furchterregender Geschwindigkeit wurden die Qualle und ich durchs Wasser gerissen. Zuerst glitten wir horizontal durch den Ozean. Dann wurden wir in die Tiefe gezogen.

Heiße Messer bohrten sich in meine Haut. Ich blickte zu meinem Bein und begann zu schreien. Verzweifelt trat ich mit dem anderen Bein um mich und schlug wild mit den Armen, aber ich wusste, es gab kein Entrinnen. Der riesige Hai war zurückgekehrt und hatte mein linkes Bein im Maul. Ein Teil meines Gehirns registrierte, dass mir das Ungeheuer nicht das Bein durchtrennte. Im Gegenteil, er schien allein darauf bedacht, mich zurück zum Meeresboden zu zerren.

Als es mir gelang, ihm einen Tritt in die Seite zu verpassen, wurde der Hai langsamer und schüttelte die Qualle und mich hin und her. Eigentlich war die Bisswunde an meinem Bein allein schon schlimm genug, aber als er mich ruckartig durchs Wasser wirbelte, wurde mein Körper von solchen Höllenqualen befallen, wie ich sie niemals für möglich gehalten hätte. Seine gezackten Zähne hatten mein Bein fest im Griff, ich spürte ein Knacken, als mein Schienbein brach, und mein spitzer Schrei verkümmerte zu einem entsetzlichen Wimmern. Eine leuchtend rote Wolke blähte sich im Schirm, trübte mir die Sicht. Als ich erkannte, dass es sich diesmal um mein eigenes Blut und nicht das des Hais handelte, kroch Galle meine Kehle hinauf, und beinahe wäre ich in Ohnmacht gefallen.

Ich sah das Aufblitzen des Dreizacks im Wasser. Dann plötzlich war mein Bein frei. Die Qualle pumpte heftig, um uns in Sicherheit zu bringen, doch sie war verletzt. Sie zitterte auf einer Seite, und Wasser drang in den Schirm. Ein Adrenalinschwall peitschte durch meinen Körper und klärte meinen benebelten Verstand. Mit einer Hand an dem Schirm dankte ich dem sterbenden Tier und nahm einen tiefen Atemzug. Die Qualle spuckte mich aus, schauderte und sank, einem langsamen Kreisel gleich, in die Tiefe.

Glatte, torpedoförmige Umrisse stürzten ihr nach, aber im nächsten Moment verlor ich das sanftmütige Geschöpf aus den Augen. Nur die Arme benutzend, schwamm ich nach oben, zog das dumpfe Gewicht meines verletzten Beins hinter mir her. Ich vermochte nicht zu sagen, wie schlimm die Verletzung war. Ich wusste nur, dass ich blutete und mir, wenn überhaupt, einige wenige Momente blieben, um die Oberfläche zu erreichen. Ich konnte meine Umgebung nicht ausmachen und hoffte inständig, in die richtige Richtung zu schwimmen. Mit brennenden Lungen und ohne recht von der Stelle zu kommen, nahm ich nun auch mein gesundes Bein zu Hilfe. Dennoch kam ich viel zu langsam voran. Da berührte mich etwas, und ich zuckte zurück, bis ich erkannte, dass es die Berührung eines Menschen war. Kishan.

Er schlang die Arme um meine Hüfte und zog mich an die Oberfläche. Irgendwie gelang es ihm, uns in das Wasserfahrzeug zu bugsieren, das die Schwarze Perlenkette für uns gefertigt hatte. Er klopfte mir fest auf den Rücken. Ich hustete und erbrach mich über den Bootsrand. Ich hörte, wie Kishan den Rucksack aufriss und dem Göttlichen Tuch Worte zuraunte. Das Flüstern der Fäden, die sich ineinander verwoben, spendete mir Trost, und im nächsten Moment spürte ich, wie das, was von meinem Bein übrig war, mit einem festen Druckverband versorgt wurde. Schwer atmend kletterte nun auch Ren an Bord. Blut tropfte aus einer langen Schnittwunde an seinem Arm.

»Wie geht es ihr?«, fragte er.

»Nicht …« Kishan zögerte. »… gut.«

»Ich muss zurück«, hörte ich Ren sagen. »Ich muss ihn töten. Andernfalls wird er uns folgen.«

Ren warf mir einen Blick zu, und auch wenn ich seinen Gesichtsausdruck, benommen, wie ich von dem massiven Blutverlust war, falsch gedeutet haben mochte, glaubte ich zu sehen, dass es ihm das Herz brach. Er nahm meine Hand. Zumindest glaube ich, dass es meine Hand war. Ich spürte nichts. Mein Körper war taub. Meine Augen schlossen sich, obwohl ich mit aller Kraft versuchte, sie offenzuhalten. Er packte seinen Dreizack und flüsterte: »Pass gut auf sie auf.«

»Das werde ich. Ich liebe sie nämlich«, sagte Kishan.

»Ich weiß«, erwiderte Ren leise und sprang ins Meer.

Kishans Körper zitterte, und als ich die Augen endlich einen Spalt aufbekam, sah ich, wie er sich Tränen von den Wangen wischte. Er hob meinen Kopf in seinen Schoß und strich mir das nasse Haar aus dem Gesicht. Ich hörte das Spritzen von Wasser und spürte die Wellen, als der Hai an uns vorbeipreschte. Die riesige Schwanzflosse durchbrach die Oberfläche und umkreiste bedrohlich unser Fahrzeug.

Aufgeschreckt gelang es mir, die Dunkelheit zu verscheuchen, die mich zu verschlingen drohte, und ich beobachtete, wie die graue Flosse von der Größe eines Segels auf uns zukam, um uns den Todesstoß zu versetzen. Der Hai tauchte unter uns hindurch, und wir wurden auf seinem Rücken in die Höhe gerissen und dann unsanft aufs Meer zurückgeschleudert. Irgendwie hatte unser Boot den Angriff heil überstanden. Dann legten sich die Wellen, und ich hörte nichts mehr. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, aber nicht einmal das Platschen eines kleinen Fischs war zu vernehmen.

Unvermittelt durchbrach der Hai wie ein Unterseeboot etwa sechs Meter von uns entfernt die Wasseroberfläche. Mehr als die Hälfte seines Körpers erhob sich jetzt aus dem Wasser. Ich hatte kaum noch die Kraft, mich zu fürchten, ich zitterte und kreischte dann auf, als mein Bein schmerzhaft gegen die Seite des Boots gepresst wurde. Hoch in der Luft, auf dem Hinterkopf des Hais, hing Ren an seinem Dreizack, der tief in dem Fleisch des grauen Ungetüms steckte. Mit dem Wasser, das von seinem Körper abperlte, sah Ren aus wie Poseidon, der auf dem Rücken eines Seeungeheuers ritt. Ich wimmerte vor Schmerz. Ich lag im Sterben. Ich wusste, mir blieb nicht viel Zeit, doch mein Bewusstsein schrie, dass ich ihm helfen musste. Meinen letzten Atemzug würde ich darauf verwenden, Ren zu retten.

Ich hob die Hand, wobei ich sie mit der anderen stützte, und konzentrierte mich. Kishan erkannte meine Absicht und zog mich höher an seine Brust. Weißes Licht barst aus meiner Handfläche und traf den Bauch des riesigen Hais, als er sich gerade zur Seite drehte. Obwohl ich schwach war, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, ein solch riesiges Ziel zu verfehlen.

Geschwärztes Fleisch schmolz wie heißes Wachs über einer Flamme. Die Haut platzte auf, und die Innereien des Hais ergossen sich in den Ozean. Der Hai ließ den Kiefer zuschnappen und schüttelte sich heftig, als er zu sinken begann, um den Mann auf seinem Rücken abzuwerfen und dem Schmerz zu entfliehen. Ich bemerkte, dass sich andere, kleinere Flossen an unserem Boot vorbei auf den sterbenden Hai stürzten. Während Ren und der Monsterhai unter die Wellen sanken, brach mein Blick, und ich verlor das Bewusstsein.