16
Der Schatz
des
blauen Drachen
Hatte ich gedacht, auf dem Rücken eines Drachen ins All zu schießen, wäre schlimm, so war der Weg nach unten noch viel schlimmer. Lóngjun stürzte Hunderte Meter im freien Fall hinab, wirbelte dann herum und schlängelte sich wie eine riesige Schlange durch den Himmel. Kishans Arme umklammerten mich, hielten mich fest umschlungen. Ich fiel gegen Rens Rücken und schloss die Augen, versuchte verzweifelt, mich nicht zu übergeben. Nachdem wir endlich das Wasser erreicht hatten, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus.
Als der rote Drache das Meer berührte, tauchte er nicht ein, sondern glitt über die Oberfläche hinweg. Die See war zum Glück weiterhin ruhig, und sobald wir das Schiff erreichten, hob Lóngjun den oberen Teil seines Körpers zur Brücke und schüttelte ungeduldig den Kopf, damit wir so rasch wie möglich abstiegen.
Kishan und Ren sprangen hastig ab, doch ich war nicht schnell genug, weshalb sich der Drache aufbäumte und mich in hohem Bogen in die Luft schleuderte. Erschrocken kreischte ich auf, begleitet von Lóngjuns hauchzartem Gelächter. Gerade als ich über den Rand des Ruderhauses zu fallen drohte, lehnten sich Ren und Kishan vor und packten jeweils einen Arm von mir. Ich wurde grob nach oben gerissen und landete laut polternd auf dem Deck zwischen den Brüdern.
Nachdem ich wieder Luft in meine Lungen bekam, sagte ich: »danke« und beugte mich wie Ren und Kishan über den Rand des Ruderhauses, um den Drachen zu beobachten, wie er übers Wasser hüpfte, dann seinen Körper krümmte und in die Luft sprang. Immer höher kletterte er, flog in die Sterne und war im nächsten Augenblick aus unserem Blickfeld verschwunden.
Ren entriss seinem Bruder den Sextanten und sprang über den Rand des Steuerhauses, höchstwahrscheinlich um sich mit Mr. Kadam zu besprechen.
Kishan wandte sich mir zu und strich mir sanft das Haar aus dem Gesicht. »Geht’s dir gut?«, fragte er. »Hast du Schmerzen?«
Ich lachte, dann stöhnte ich auf. »Überall, und ich könnte eine ganze Woche schlafen.«
Er half mir die Leiter vom Steuerhaus hinab und steckte kurz den Kopf hinein. »Ich bringe Kelsey zu Bett.«
Mr. Kadam nickte und entließ uns mit einem entrückten Winken, derart vertieft war er bereits in sein neues Spielzeug, doch Ren blickte auf und beäugte mich skeptisch, bevor er sich wieder über etwas beugte, das Mr. Kadam ihm zeigte. Kishan begleitete mich in meine Kajüte.
Mit geschlossenen Augen schlüpfte ich im Badezimmer in meinen Pyjama, derart müde war ich, dann wusch ich mir das Gesicht, putzte mir die Zähne und ertastete mir den Weg zurück ins Bett. Meine Hand traf auf Kishans breite Brust, und im nächsten Moment wurde ich hochgehoben und unter die kühle Bettdecke gesteckt. Kishan dimmte das Licht und kniete sich neben das Bett. Mein erschöpfter Kopf sank sogleich ins weiche Kissen. Ich drehte mich leicht und wimmerte leise.
»Wo tut’s weh, Kells?«
»Am Ellbogen.«
Er untersuchte meinen geschundenen Arm und drückte einen sanften Kuss auf die schmerzende Stelle. »Noch woanders?«
»Am Knie.«
Er schlug die Decke zurück und schob meinen Seidenpyjama bis knapp über die Kniescheibe. »Es ist aufgeschürft, aber es wird heilen.« Seine Lippen berührten mein Knie, auch dort küsste er mich zärtlich. »Wo sonst noch?«
Schlaftrunken zeigte ich auf meine Wange. Er strich mir das Haar zurück und hauchte mir ein Dutzend Küsse auf die Stirn und die Wangen. Dann zogen seine Lippen eine warme Linie bis zu meinem Ohr, während er mir übers Haar streichelte. »Ich liebe dich, Kelsey«, flüsterte er.
Ich wollte ihm noch antworten, da fiel ich auch schon in einen tiefen Schlaf.
Kishan war fort, als ich erwachte. Das heiße Wasser der Dusche tat weh, als es auf meine lädierte und mit blauen Flecken übersäte Haut traf. Ich fragte mich kurz, warum ich hier nicht so schnell heilte wie in den anderen Reichen. Vermutlich lag es daran, dass mich die Reise zu den Sternen derart ausgelaugt hatte, dass es meinem Körper schwerfiel, sich zu regenerieren. Ich machte mir im Geiste eine Notiz, später Mr. Kadam zu befragen.
Ausgehungert betrat ich die Brücke, und eine gutherzige Nilima bereitete mir ein Frühstück zu, obwohl es längst Nachmittag war. Ich nippte an meinem Apfelsaft und trug meinen Teller zu dem Schreibtisch, an dem alle arbeiteten. Die Brüder wirkten ausgeruht, was man von Mr. Kadam nicht behaupten konnte.
Mithilfe der Goldenen Frucht zauberte ich für Mr. Kadam seinen Lieblings-Orangenblütentee herbei, bevor ich mir einen Stuhl schnappte und French Toast mit Frischkäse und Erdbeeren aß. Mr. Kadam zwinkerte mir dankbar zu, schlürfte seinen Tee und drückte den müden Rücken durch.
»Sie haben die ganze Nacht … äh … den ganzen Tag ohne Unterlass gearbeitet, nicht wahr?«, sagte ich.
Mr. Kadam nickte und führte die Tasse an den Mund.
»Wann haben Sie das letzte Mal gegessen?«
Er zuckte mit den Schultern, weshalb ich die Goldene Frucht bat, zum Tee einen heißen Blaubeer-Scone mit Butter und Honig zu reichen. Mr. Kadam lächelte mich an und nahm neben mir Platz. Ren und Kishan nutzten die Gelegenheit, um sich über die Seekarte zu beugen, sie knallten mit den Köpfen zusammen und knurrten einander wütend an.
Ich grinste und wandte mich an Mr. Kadam. »Was haben Sie herausgefunden? Wir bewegen uns schon wieder, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wie ist das möglich? Bewegen wir uns aus eigener Kraft?«
»Das Satellitensystem und einige unserer Instrumente funktionieren immer noch nicht, aber der Motor ist angesprungen, nur leider wissen wir immer noch nicht, wo wir uns befinden. Und da kommt das hier ins Spiel.«
Er streckte die Hand nach einem schmalen Büchlein aus, das auf dem Schreibtisch lag, und reichte es mir. Ich blätterte es rasch durch, fand jedoch nichts außer Spalten voller chinesischer Schriftzeichen. »Was ist das?«
»Mangels einer besseren Bezeichnung nenne ich es einen Drachen-Almanach.«
»Woher haben Sie ihn?«
»Ich habe ihn in einem Geheimfach im Sextanten gefunden. Seitdem sitze ich daran, ihn zu übersetzen.«
Kishan ging zum Steuerrad und führte ein paar Feinjustierungen durch.
»Wir kennen jetzt den Breiten- und Längengrad des nächsten Drachen. Dieser äußerst ungewöhnliche Sextant erlaubt mir, unseren Kurs einzustellen. Unser nächster schuppiger Freund ist der blaue. Sobald der Stern in Sicht kommt, schwirrt und surrt der Sextant, fast wie ein Kompass. Dann rührt er sich und spuckt den Breiten- und Längengrad aus. Außerdem gibt er an, wie viele Stunden es – je nach unserer Geschwindigkeit – bis zu unserer Ankunft dauern wird.«
»Wofür brauchen wir dann den Almanach?«
»Der Almanach zeigt uns, wo wir den Stern finden.«
»Ich verstehe. Und wann werden wir den blauen Drachen erreichen?«
»Bei unserem jetzigen Tempo und falls das Wetter beständig bleibt … gegen acht Uhr morgen früh.«
Mr. Kadam nahm ein Notizbuch und einen Stift zur Hand, und wir verbrachten eine geschlagene Stunde damit, über den roten Drachen und seinen Diamantpalast zu reden. Alle wichtigen Einzelheiten hatte er bereits von Kishan und Ren in Erfahrung gebracht, aber er wollte auch meine Version der Geschichte hören. Er stellte mir Dutzende Fragen, einschließlich einer mir unangenehmen über das goldene Licht, das ich benutzt hatte, um den Stern zu entfachen. Zögerlich murmelte ich: »Hat Ihnen Ren das nicht erzählt?«
»Er hat mir nur erzählt, wie er mithilfe des Dreizacks und des Göttlichen Tuchs den Stern zum Balkon gezogen hat. Er meinte, es läge an Ihnen, mir den Rest zu offenbaren.«
»Oh.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, und als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass Ren den Kopf gehoben hatte. Er sah mich mit unergründlicher Miene an, bevor er sich wieder der Landkarte zuwandte, doch ich wusste, dass er unserer Unterhaltung lauschte. Kishan beendete, was auch immer er am Steuerrad getan hatte, legte mir den Arm um die Schulter und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.
Ich räusperte mich. »Ich … äh … weiß nicht, woher das goldene Licht stammt. Vielleicht liegt es daran, dass wir in diesem besonderen Reich sind«, log ich.
Mr. Kadam nickte und machte sich Notizen auf seinem Schreibblock. Kishan drückte meine Schultern und massierte sie sanft. Ich riskierte einen verstohlenen Blick auf Ren, doch er war still und heimlich verschwunden. Ich seufzte schuldbewusst. Ich war nicht sicher, warum ich das, was zwischen Ren und mir vorgefallen war, vor den anderen geheim halten wollte. Ich vermutete, dass es Kishan verletzen würde, was allerdings nicht der Grund war, warum ich es für mich behielt. Ich konnte einfach nicht anders. Das Erlebte war sehr … intim gewesen, und es schien falsch, es an die große Glocke zu hängen.
Kishan, Mr. Kadam und ich verbrachten mehrere Stunden im Steuerhaus, während Nilima ein Nickerchen machte. Sie zeigten mir alles, was sie in meiner Abwesenheit herausgefunden hatten. Mr. Kadam erklärte mir die Grundlagen der Schiffsinstrumente, aber es war nicht zu übersehen, dass er erschöpft war. Kishan bemerkte meinen besorgten Blick und erklärte, dass er übernehmen und mich unterweisen könnte. Nach großem Protest und etlichem Hin und Her konnten wir Mr. Kadam schließlich doch überzeugen, dass er Schlaf brauchte. Wir versprachen ihm, ihn sofort zu wecken, falls etwas schiefliefe.
Kishan verwendete die folgenden Stunden darauf, mir geduldig zu erklären, wie das Boot funktionierte. Er verfügte nicht über dieselbe Erfahrung wie Mr. Kadam oder Nilima, doch er schien rasch gelernt zu haben. Um uns die Zeit zu vertreiben, spielten wir ein paar Runden Pachisi und teilten uns ein Essen. Während er Kapitän spielte, schrieb ich eine Weile Tagebuch und las.
Während einer Pause gesellte ich mich zu Kishan ans Steuer. Er war schweigsam und blickte aufs Wasser. Ich stupste ihn sanft mit der Hüfte an. »Woran denkst du?«
Kishan sah mich lächelnd an, dann zog er mich vor sich, schlang mir die Arme um die Taille und lehnte sein Kinn auf meinen Kopf. »Ich denke im Grunde nicht viel, außer dass ich zufrieden bin. Zum ersten Mal seit … Jahrhunderten bin ich glücklich.«
Ich lachte. »Du stehst also darauf, gegen Dämonen und Monster zu kämpfen?«
»Nein. Ich stehe auf dich. Du machst mich glücklich.«
»Oh.« Ich drehte mich in seinen Armen um und sah ihm ins Gesicht. »Du machst mich auch glücklich.«
Er lächelte und fuhr mit seinen Fingern an meiner Wange herab. Seine Blicke glitten zu meinen Lippen, während er sich vorbeugte und mich wohl auf den Mund küssen wollte, doch er schien es sich in allerletzter Sekunde anders überlegt zu haben und gab mir stattdessen einen Kuss auf die Wange. Dann zog er eine sanfte Linie an Liebkosungen bis zu meinem Ohr und flüsterte: »Bald.« Er hielt mich fest, und während ich meine Wange an seine Brust drückte, fragte ich mich verwundert, warum er seine Meinung geändert hatte.
Vielleicht weiß er, dass ich wegen Ren gelogen habe. Vielleicht hat er bemerkt, dass wir uns sonderbar benehmen. Nein. Dann hätte er etwas gesagt, oder?
Ich schluckte meine Schuldgefühle hinunter, während wir uns aus unserer Umarmung lösten und gemeinsam zum Kimono schritten. Die erste gestickte Linie des Sterns – die Strecke zwischen Ufertempel und Sternentempel – war fertiggestellt. Ich drehte den Stoff um und besah mir den blauen Drachen. Da glaubte ich ein hauchzartes Lachen zu hören, und ich hätte schwören können, dass der rote Drache mir zublinzelte. Ich sah ihn stirnrunzelnd an und faltete die Ärmel, um ihn aus meinem Blickfeld zu bannen.
Der blaue Drache saß auf grauen Wolken, und Rauch schien aus seinen Nüstern zu kommen. Ich fuhr eine Wolke nach und hörte ein Schnauben. Ein feiner Dunstfaden kringelte sich um meine Fingerknöchel. Ich blies ihn fort und blickte auf.
Wir fuhren in südlicher Richtung. Die Sonne würde bald aufgehen. Weiter vorne bemerkte ich, dass dichte Nebelschwaden übers Wasser rollten. Die Sterne verblassten, eingefangen und umhüllt von dunklem Nebel. Ich lehnte mich aus der Tür und spürte den Wind, der gegen mein Gesicht peitschte. Das Schiff hüpfte auf den Wellen.
Ich blickte auf die Uhr. Nur sieben Stunden waren vergangen. »Kishan? Ich denke, es ist an der Zeit, Mr. Kadam zu wecken.«
Er verschwand und kehrte mit einem schläfrigen Mr. Kadam zurück.
»Was ist los, Miss Kelsey?«
»Ich denke, der blaue Drache erzeugt Nebel. Können wir durch diese trübe Suppe hindurchfahren?«
Mr. Kadam schickte Kishan, um Nilima zu wecken, und antwortete dann: »Wir sollten es unbeschadet überstehen.«
Dann machte er sich an die Überprüfung der Instrumente.
Als Kishan mit Nilima erschien, schickte Mr. Kadam ihn und mich auf unsere Zimmer. Er wollte, dass wir für unser nächstes Abenteuer Kraft sammelten. Ich ging in meine Kabine und schlief sogleich ein.
Ich hatte erst wenige Stunden geruht, als ich aus dem Schlaf schreckte, als wäre ich aus einem Albtraum geweckt worden. Ren stand an der geöffneten Tür und starrte mit bestürzter Miene auf mein Bett.
Hastig wendete er den Blick ab und sagte steif: »Deine Anwesenheit ist im Steuerhaus erwünscht.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand, zog die Tür leise hinter sich zu.
Ich fragte mich gerade, was sein Problem war, als ich eine Hand spürte, die mir über den Rücken strich. Ich sprang aus dem Bett, als stünde ich in Flammen. Ein spärlich bekleideter Kishan stützte sich auf seinen Ellbogen. »Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s … gut«, stammelte ich.
»Warum bist du dann so hochgefahren?«
»Ich war … durcheinander. Normalerweise schlafe ich nur neben einem Tiger.«
»Oh.«
Alles, was Kishan trug, waren kurze Shorts. Ren muss gedacht haben … Es spielt doch keine Rolle mehr, was Ren denkt, oder?
»Zieh dich an. Ren hat gesagt …«
»Ich habe gehört, was Ren gesagt hat.« Kishan umarmte mich und küsste mich auf die Stirn. »Ich warte draußen auf dich.«
In Windeseile waren wir auf dem Weg zur Brücke. Ich zerbrach mir den Kopf, was an diesem Morgen geschehen war. Auch wenn es strenggenommen nur ein kurzes Nickerchen gewesen war und ich schon häufig neben Ren oder Kishan in Tigergestalt geschlafen hatte, war es mir irgendwie … unangenehm, neben Kishan, dem Mann, zu schlafen. Ren hatte mich in dieser Hinsicht zu nichts gedrängt, hatte im Gegenteil immer darauf bestanden, dass wir uns körperlich nicht zu nahe kamen.
Ich hatte angenommen, dass Kishan das ähnlich sehen würde, aber trotz der Verwandtschaft waren sie zwei unterschiedliche Menschen, ich durfte das nie vergessen. Ich musste mit ihm reden. Würde ich mich genauso fühlen, wäre es Ren gewesen? Ich weigerte mich, eine Antwort zu geben.
Die Deschen lag unter einer undurchdringlichen Wolkendecke vor Anker. Mr. Kadam zog uns beiseite, als wir das Steuerhaus betraten.
»Die Insel ist aus dem Nichts aufgetaucht«, sagte er. »Anscheinend funktioniert der Tiefenmesser nicht. Ohne Ren, der Ausschau gehalten hat, hätte ich das Schiff niemals rechtzeitig anhalten können.«
Kishan und ich starrten aus dem Fenster in die kalte Leere.
»Wie sollen wir denn wissen, was wir als Nächstes zu tun haben?«, murmelte ich laut. Niemand antwortete.
Mr. Kadam stand neben uns. »Laut meinen Aufzeichnungen sind wir am richtigen Ort.«
Ren spähte himmelwärts. »Wo ist dann unser schuppiger Freund?«
Er und Kishan diskutierten den Vorschlag, ein kleines Boot zu nehmen und sich die Insel aus der Nähe anzuschauen, als mir eine Idee kam. Ich legte Mr. Kadam die Hand auf den Arm.
»Was ist, Miss Kelsey?«
»Lassen Sie uns den Wind nutzen.«
»Den Wind?«
»Fujins Sack.«
»Ja. Das könnte womöglich funktionieren. Lassen Sie es uns versuchen.« Er öffnete einen Schrank und holte das Tuch heraus, das sich in seinen Händen orange und grün verfärbte, doch als er es mir reichte, nahm es ein leuchtendes Kobaltblau an. Ich errötete, versteckte das Göttliche Tuch hinter meinem Rücken und bat alle, auf das Dach des Steuerhauses zu klettern.
Als die anderen oben waren, rügte ich das Tuch: »Kannst du nicht Rot oder Schwarz oder irgendeine andere Farbe annehmen? Ignoriere einfach meine Gedanken an Ren, okay? Ich versuche mich zu konzentrieren, aber das ist schwierig.« Das Tuch veränderte seine Farben, beharrte jedoch auf einer kobaltblauen Mitte. Ich seufzte. »Das muss wohl reichen.« Mit einer letzten Ermahnung an das dumme Ding hastete ich die Leiter hinauf.
Als wir alle auf dem Dach versammelt waren, bat ich: »Der Sack des Fujin.« Das Tuch wand sich in meinen Händen und dehnte sich, während ein langer, fein säuberlich genähter Saum an seinen Rändern entstand. »Und jetzt bitte alle zupacken.«
Wir nahmen jeder eine Ecke des riesigen Sacks, und ich rief: »Göttliches Tuch, sammle den Wind ein!«
Augenblicklich wurde ich so heftig von einer starken Windböe getroffen, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. Der Sack füllte sich rasch, war gebläht wie ein Heißluftballon und riss an meinen Armen. Ich band mir den Zipfel um mein Handgelenk, um nicht loszulassen. Selbst für Ren und Kishan war es anstrengend.
Schließlich hielten wir einen vollen Sack in den Händen und spürten nicht den leisesten Windhauch mehr um unsere Gesichter.
»Macht euch bereit«, rief ich. »Zielt in Richtung der Insel.«
Wir rissen den Sack auf und klammerten uns am Tuch fest, als hinge unser Leben davon ab. Er hüpfte und heulte, während der Wind wie ein Zyklon durch die Öffnung schoss. Der Geräuschpegel war unglaublich, schlimmer als beim Fallschirmspringen, schlimmer als auf dem Rücken eines Drachen. Das Kreischen war unerträglich, ließ mir die Härchen im Nacken zu Berge stehen und hämmerte gegen mein Trommelfell. Ren und Kishan kniffen gepeinigt die Augen zusammen. Wenn der Lärm in meinen Ohren schmerzte, wie musste es dann den Tigern mit ihrem feinen Gehör gehen? Als sich der Nebel lichtete, drehten wir uns gemeinsam zur Seite, um die restlichen Dunstschleier und Wolkenfelder so weit wie möglich von der Insel fortzutreiben.
Sobald der Sack vollständig geleert war, waren die einst dicken Nebelschwaden nichts weiter als ein verschwommener Streifen am Horizont. Ich strich mir mit den Fingern durchs zerzauste Haar und verwandelte das Göttliche Tuch in seine ursprüngliche Form. Kishan starrte über meinen Kopf hinweg, legte mir dann die Hände auf die Schultern und drehte mich zur Insel um. Sie glich eher einem riesigen, gezackten Felsbrocken denn einer Insel, ragte fast senkrecht aus dem Wasser, ohne jeglichen Strand. Der Weg zum Gipfel wäre nur mit schwerer Kletterausrüstung zu bewältigen.
Ich biss mir auf die Lippe, stellte mir vor, wie ich an der steilen Felswand hinaufkletterte. Dann hörte ich ein Geräusch – ein tiefes, rhythmisches Zischen. Pfff…hhhh. Pfff…hhh. Die Sonne war gerade über der Insel aufgegangen und zu grell, als dass ich den Gipfel hätte ausmachen können. Pfff…hhh. Pfff…hhhh. Ich beschattete die Augen und blinzelte mehrmals. »Ist … das ein …?«
»Ja«, antwortete Kishan. »Das ist ein Schwanz.«
Unser blauer Drache hatte sich um eine Burgruine am Gipfel der Insel gerollt und schnarchte. Nebelschwaden quollen bei jedem Atemzug aus seinen Nüstern. Wir standen schweigend da und starrten den schniefenden blauen Drachen an.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte ich.
Kishan zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ihn wecken?«
»Vermutlich bleibt uns keine andere Wahl. Wer weiß, wie lange er ansonsten schläft.«
Ich rief dem Geschöpf zu: »Großer Drache! Wach bitte auf!«
Nichts geschah. Ren versuchte sein Glück. »Wach auf, Drache!«
Kishan legte die Hände trichterförmig um den Mund und schrie mit tiefer Stimme. Kein Ergebnis. Dann verwandelte er sich in einen Tiger und brüllte so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Wir riefen gemeinsam. Wir versuchten es mit Ren und Kishan in Tigergestalt. Schließlich ging Mr. Kadam nach unten und ließ das Nebelhorn ertönen. Das Schallsignal war so laut, dass Steine vom Berg herabpurzelten.
Ein mächtiger, grollender Bass ahmte das Nebelhorn nach, das immer noch in unseren Köpfen widerhallte.
Was … wollt ihr?, murrte die Stimme. Seht ihr nicht, dass ihr meine Ruhe stört?
Der Berg vibrierte, brachte das Wasser zu seinen Füßen zum Kräuseln.
»Dein Bruder Lóngjun schickt uns«, rief Ren. »Er sagte, dass wir dich um Hilfe bitten müssen, wenn wir Durgas Halskette finden wollen.«
Es kümmert mich nicht, was ihr wollt. Ich bin müde. Verschwindet und lasst mich in Frieden.
Kishan trat vor. »Wir können nicht umkehren. Wir brauchen deine Hilfe, Drache.«
Ja. Die braucht ihr. Aber ich brauche euch nicht. Verschwindet, oder spürt den Zorn des Qınglóng.
»Dann müssen wir wohl deinen Zorn riskieren, Qınglóng«, erwiderte ich. »Aber vielleicht gibt es etwas, das wir für dich tun könnten, damit sich deine Hilfe für dich auszahlt.«
Und was könntest du schon für mich tun, kleines Mädchen?
Der Berg grollte, als der blaue Drache seinen Oberkörper von der Burg löste und sich zu uns herabbeugte. Auch wenn er bezüglich der Größe seinem Bruder in nichts nachstand, sah der blaue Drache anders aus. Sein Kopf war länger, verjüngte sich zur Nase hin. Statt mit einem schwarzen Bart waren seine Wangen und Brauen mit Federn bedeckt, die aus seinem Gesicht gestrichen waren und in den leuchtendsten Blau- und Purpurtönen schimmerten.
Ebensolche Federn verhüllten sein Rückgrat und standen an seinem Schwanz und den Füßen fächerförmig ab, ähnlich der üppigen Fesselbehaarung von Clydesdale-Pferden. Scharfe goldene Krallen durchschnitten die Luft, wurden aus- und wieder eingefahren. Seine schuppige Haut war leuchtend blau, und als er verärgert zischte, stellten sich ihm die Federn entlang seines Rückens und auf seinem Kopf wie die Haube eines Kakadus auf.
Gelbe Augen sahen mich eindringlich an, und eine lilafarbene Zunge drückte gegen lange, weiße Zähne.
Nun? Wirst du einfach stumm wie ein Fisch dastehen, oder willst du mir eine Antwort geben? Unvermittelt schoss er näher und biss in die Luft neben uns. Sein Gebiss schnappte wie eine Bärenfalle zu, und ich hörte sein Lachen. Wie ich mir schon dachte. Du bist zu schwach, um etwas für mich zu tun.
Ren und Kishan reagierten sofort, indem sie vor mich sprangen und Tigergestalt annahmen. Sie brüllten beide und schlugen wütend mit den Klauen nach der Schnauze des Drachen.
Das reichte zwar nicht, um den Drachen einzuschüchtern, war jedoch genug, um sein Interesse zu wecken. Er beugte sich vor und paffte dünne Nebelschwaden über uns hinweg. Kalter Tau legte sich auf meine Haut, und ich zitterte. Ren und Kishan verwandelten sich zurück, blieben aber weiterhin vor mir stehen. Ich trat zwischen sie.
»Gib uns eine Aufgabe, damit wir uns bewähren können«, schlug ich mutig vor.
Der Drache schnalzte mit der Zunge und drehte den Kopf hin und her. Was könntest du wohl bewerkstelligen, junge Dame?
»Du wärst überrascht.«
Der Drache schnaubte und gähnte gelangweilt. Na schön. Deine Aufgabe lautet, den Weg zu meinem Bergtempel zu erklimmen. Sollte dir das gelingen, werde ich dir helfen. Wenn nicht … Nun ja … Formulieren wir es einmal so, dann wirst du dir keine großen Gedanken mehr um die Halskette machen. Er erhob sich in die Luft und wand seinen Körper wieder um den Tempel.
»Warte!«, rief ich. »Wie kommen wir dort hoch?«
Es gibt einen Unterwassertunnel mit einer Treppe, aber zuerst musst du an meinem Wächter vorbei, und der ist nicht so … zuvorkommend wie ich.
Verzweifelt fragte ich: »Wer bewacht dich?«
Yao guài yóu yú.
»Was bedeutet das?«, flüsterte ich Ren zu.
»Äh … eine Art Teufelstintenfisch.«
Qınglóng schnaubte erneut. Bah! Das ist ein Krake. Und jetzt husch, husch, weg mit euch!
Das sanfte Lachen des Drachen verwandelte sich kurz darauf wieder in Schnarchen. Ich beobachtete ihn eine Weile, während dünner Nebel sich aus seinen Nüstern schlängelte und am blauen Himmel auflöste.
Kishan und Ren eilten zur Leiter.
Ich beugte mich über den Rand und fragte: »Wohin wollt ihr zwei?«
Kishan blickte hoch. »Uns umziehen. Scheint fast so, als müssten wir tauchen.«
»Habt ihr jemals im Fernsehen einen Kraken gesehen? Wahrscheinlich nicht, aber ich. Sie zerstören ganze Schiffe! Zwei Tiger wären Trockenfutter für einen Kraken! Ich bestehe darauf, dass wir uns mit Mr. Kadam besprechen, bevor ihr zwei Hals über Kopf ins Wasser springt.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, Miss Kelsey«, sagte Mr. Kadam, als wir uns alle bei ihm eingefunden hatten, und rieb sich zweifelnd die Schläfe.
»Was! Was soll das heißen, Sie wissen es nicht? Sie wissen alles!«
»Über Kraken weiß ich leider nur das, was ich im Fernsehen gesehen habe und vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten, die ich Ihnen bereits erzählt habe. Nichts kann sie töten. Sie sind unsterblich. Ursprünglich stammen sie aus der nordischen Mythologie, wo sie als riesige Geschöpfe mit Tentakeln beschrieben werden, die Schiffe angreifen. Vorbild der Legenden könnten Riesenkalmare sein. Eigentlich waren sie im Reich der Fantasie angesiedelt, bis vor ein paar Jahren welche an den Strand gespült wurden.«
»Das ist alles? Sie haben nicht mehr? Wie sollen wir ihn bekämpfen?«
Mr. Kadam seufzte. »Ich kann noch mit ein paar wenigen Fakten aufwarten. Wenn der Krake sein Maul aufreißt, kocht laut der Mythen das Wasser. Wenn er den Kopf über Wasser hebt, ist sein Gestank schlimmer als alles, was ein Lebewesen ertragen kann. Seine Augen haben eine ungeheure Leuchtkraft. Sobald sie schimmern, ist es, als würde man in die Sonne schauen. Das Einzige, wovor er Angst zu haben scheint, sind Kilbits.«
»Was sind Kilbits?«
»Mythologische Kreaturen, die riesigen Würmern gleichen und sich in den Kiemen von großen Fischen einnisten, ähnlich wie Egel, auch wenn Egel im Vergleich so klein sind, dass sie einem Kraken wohl kaum Angst einjagen.«
»Das ist alles? Sie wollen also, dass wir gegen einen Kraken kämpfen, und wir haben noch nicht einmal Würmer?«
»Es tut mir leid, Miss Kelsey. Es gibt ein Gedicht über ein Seeungeheuer namens Leviathan, das einige auch als Krake bezeichnen …« Mr. Kadam nahm ein Buch zur Hand, blätterte durch die Seiten und begann zu lesen:
Die Hochzeit von Himmel und Hölle
Von William Blake
Dann aber brachen zwischen den schwarzen und weißen Spinnen
Wolken und Feuer hervor, die durch die Tiefe rollten
und alles unten in Schwärze hüllten,
so daß die niedere Tiefe dunkel wie ein Meer wurde und
sich mit schrecklichem Tosen dahinwälzte.
Unter uns war nun nichts mehr zu sehen als ein finsteres Unwetter, bis wir nach Osten schauten
und zwischen den Wolken und Wogen
einen Katarakt aus Blut und Feuer erblickten,
und nur wenige Steinwürfe von uns entfernt tauchten die schuppigen Windungen einer ungeheuren Schlange auf
und versanken wieder.
Schließlich erschien gegen Osten, etwa drei Grad entfernt,
ein Feuerkamm über den Wogen.
Langsam richtete er sich auf wie ein Riff aus goldenem Fels,
bis wir zwei hochrote Feuerbälle entdeckten,
von denen das Meer in Rauchwolken hinwegstob.
Und da sahen wir, daß es das Haupt des Leviathan war:
Seine Stirn war in Streifen von Grün und Purpur geteilt,
wie jene auf der Stirn eines Tigers.
Bald sahen wir auch sein Maul und rote Kieferlappen,
die gerade über dem tobenden Schaum hingen und die schwarze Tiefe mit blutigen Strahlen färbten, und er kam mit der ganzen Wut eines Geistwesens direkt auf uns zu.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und ergriff Kishans Hand. »Na, das ist ja toll. Ungeheuer schwammig. Irgendwie gestaltlos.«
Da bemerkte ich, wie Ren mit den Fingern über ein anderes Buch strich, das er unauffällig unter den Tisch geschoben hatte.
Ich fragte: »Was ist das, Ren? Wenn du etwas gefunden hast, solltest du es nicht vor uns verheimlichen.«
»Es ist nichts. Nur ein Gedicht, das ich gefunden habe.«
Obwohl ich seine Vorlesestimme liebte, lief mir bei seinen Worten ein eisiger Schauer den Rücken hinab.
Der Krake
Von Alfred Lord Tennyson
Unter dem Donner hoher Meeresflut,
Zuunterst tief in bodenloser Tiefe,
In uralt traumlos ungebrochener Ruh
Schläft, schläft der Krake. Schattenlichter spielen
Um seine dunklen Flanken; über ihm
Schwillt tausendjähriger Wust von Riesenschwämmen;
Und aus der Ferne in dem blassen Dämmer,
Aus Wundergrotten und Verliesen schwingt
Unzählige Schar gewaltiger Polypen
Schläfrigen Tang in ihren mächtigen Händen.
Hier liegt er seit Äonen, wird er liegen,
Wird schlafend schlingen riesiges Seegewürm.
Bis einst der letzte Brand den Abgrund wärmt
Dann steigt er, unter Mensch- und Engelsblicken.
Brüllend hinauf, um droben zu verenden.
Mr. Kadam tippte sich gedankenverloren an den Mund. »Der letzte Teil bezieht sich auf das Ende der Welt. Angeblich wird sich der Krake oder der Leviathan in der Endzeit aus der Tiefe erheben. Es gibt Hinweise in der Bibel, wonach der Leviathan der Höllenschlund oder gar Satan persönlich sein soll.«
»Schon gut. Sofort aufhören! Mir reicht’s. Ich lass mich lieber überraschen. Je mehr ich erfahre, desto furchterregender wird das Ganze. Bringen wir es also einfach hinter uns!«
Ich nahm die Goldene Frucht, meine Waffen und das Göttliche Tuch und stürzte die Treppe hinunter. Alle jagten mir hinterher.
»Kelsey! Warte!«
Kishan holte mich rasch ein, und Ren war ihm dicht auf den Fersen. Mr. Kadam kam hinter uns die Treppe heruntergekeucht, doch wir hatten ihn bald abgehängt. Ich stürzte wie ein Orkan in den Laderaum und griff mir meinen Neoprenanzug. Mittlerweile hatten sich Ren und Kishan mit meiner Handlungsweise abgefunden, griffen ohne Widerrede zu ihren Taucheranzügen und hielten auf die Umkleidekabinen zu. Als ich herauskam, waren sie bereits startklar. Kishan hatte sich seine Chakram um die Taille gebunden, und das Kamandal hing an einem Lederriemen um seinen Hals.
Ren ließ die Gada zurück, nahm jedoch den Dreizack. Ich entschied mich, Pfeil und Bogen nicht mitzunehmen, weil sie unter Wasser sowieso nicht funktionieren würden, und kam mir ziemlich nackt vor ohne Waffe, andererseits hatte ich meinen Blitzschlag. Kishan betätigte den Knopf, der die Tür des Laderaums öffnete. Der Nebel war wieder aufgezogen. Anscheinend brachte das Geschnarche unseres hauseigenen Drachen diesen Dunst hervor, der mir in die Knochen zu kriechen schien. Das sonst blaugrüne Wasser wirkte grau und kalt. Bläschen zischten und zerplatzten an der Oberfläche, und ich erlaubte meinem geistigen Auge, sich das furchterregende Ungeheuer in der Tiefe auszumalen.
Ich stellte mir vor, wie der Krake gleich unter dem Wasser lauerte, das zahnbewehrte Maul weit aufgerissen, geduldig abwartend, dass ich das Boot verließ und in seinen schrecklichen Rachen trat. Ich erschauerte. Genau da kam Mr. Kadam hereingeeilt und reichte mir Fanindra. Ich schob sie mir den Arm hinauf und fühlte mich sofort besser. Ren trat auf mich zu und band mir das Tauchermesser ans Bein, während Kishan mir meine Maske und den Schnorchel gab.
»Glauben Sie, dass sie unter Wasser atmen kann?«, fragte ich Mr. Kadam.
»Sie war aufgerollt und startklar, als ich sie geholt habe. Ich bin mir sicher, dass sie keine Probleme haben wird.«
Ren und Kishan wollten sich noch nicht von den Druckluftflaschen behindern lassen. Das hier sollte ein Erkundungstauchgang sein. Wir würden lediglich die Insel auskundschaften und den Unterwasserzugang suchen. Wenn wir die Druckluftflaschen brauchen sollten, würden wir umkehren. Ich saß am Rand, sah zu der steil aufragenden felsigen Insel empor und zog mir die Flossen an. Ren machte den Anfang, gefolgt von Kishan. Sie sahen sich um und gaben mir dann mit erhobenem Daumen grünes Licht. Ich stieß mich mit den Händen ab und ließ mich in das kalte graue Wasser gleiten.
Nachdem ich meine Taucherbrille gereinigt hatte, folgte ich Ren und hielt auf die Insel zu. Kishan blieb hinter mir. Das Wasser war ruhig, wenn auch nicht klar. Die Insel sah wie eine riesige gebirgige Säule aus, die einfach mitten im Ozean steckte. Es gab keine Sandbank, kein sanft ansteigendes Land. Sie ging einfach unter der Wasseroberfläche weiter, so weit das Auge reichte. Sonderlich groß war sie auch nicht, vielleicht so groß wie ein Rugbyfeld. Es dauerte nur etwa eine Stunde, um einmal ganz außen herumzuschwimmen.
Wir suchten den Bereich über dem Wasser genauso ab wie den darunter, und erst, als wir schon zum Schiff umkehren wollten, fanden wir den Unterwassereingang. Nachdem sich Ren kurz umgesehen hatte, bestätigte er, dass wir unsere Tauchausrüstung benötigen würden. Die gute Nachricht war, dass von dem Wesen nichts zu sehen war.
Das Schiff hatte ich zwar in einem Anfall von Draufgängertum verlassen, doch da ich mich nun schon eine Weile im Wasser befand, bröckelte die Fassade allmählich, war wie weggespült vom Wellengang des Ozeans. Mir blieb nichts weiter übrig, als die Tatsache zu akzeptieren, dass ich Angst hatte. Todesangst. Nervös stammelnd versuchte ich einen Witz: »Er wartet wahrscheinlich bloß auf uns alle drei. Hätte lieber die ganze Combo. Huhn-Käse-Rinder-Enchiladas. Ich bin übrigens das kopflose Huhn.«
Kishan lachte. »Ich bin definitiv der Ochse, was bedeutet, dass Ren der Käse sein muss.«
Ren grinste Kishan boshaft an und boxte ihm gegen den Arm.
Kishan lächelte gutmütig. »Da fällt mir ein: Ich habe Hunger. Kehren wir um.«
Nach dem Mittagessen, mit Enchiladas als Hauptspeise, schnallten wir uns die Druckluftflaschen um und machten uns direkt auf den Weg zur Höhle. Diesmal schwamm ich langsam und vorsichtig und überließ Ren und Kishan das Kommando. Ich lauschte dem Zischen meiner Luftblasen, während ich nach unten tauchte. Als wir uns der Höhle näherten, spürte ich ein Zucken am Arm. Fanindra regte sich und rollte sich auf. Sie löste sich von mir. Ihr goldener Körper glitzerte und strahlte im Wasser. Ihr Mund öffnete und schloss sich mehrmals, und sie wand sich, als hätte sie Schmerzen.
Sie stellte die Haube auf, während ihr Kopf immer länger wurde. Ihr Schwanz streckte und dehnte sich zu einem schmalen Paddel. Ihr Körper wurde dünner, drückte sich an den Seiten zusammen, als würde sie von unsichtbaren Händen zerquetscht. Ihre Juwelenaugen schrumpften zu kleinen perlartigen Knöpfen, behielten allerdings ihren smaragdgrünen Glanz, und ihre Nasenlöcher rückten näher zusammen.
Die Spitze ihrer gespaltenen Zunge schoss hervor, und Fanindra schwamm um mich herum. Als ich innehielt, ließ sie sich träge in meiner Nähe treiben. Ihre windenden Bewegungen ließen mich an die Drachen denken. Aus ihr war etwas Neues geworden. Sie war nun eine Seeschlange.
Ren schwamm als Erster in die Höhle. Er verschwand in dem Schwarz jenseits der Öffnung, gefolgt von Kishan. Fanindra und ich bildeten die Nachhut. Sonnenlicht strömte in die Öffnung und warf türkisfarbene Strahlen quer über den mit Kieselsteinen bedeckten Boden. Meine Hand schürfte an der unebenen Felswand entlang, die mit grünen Algen bedeckt war. Winzige Fische schossen aus dunklen Löchern und wieder zurück. Der Höhlenboden bestand aus Basalt, und die einzige Farbe stammte von phosphoreszierenden Pflanzen, die in unregelmäßigen Büscheln zwischen dem Gestein wuchsen.
Luftbläschen zischten aus Kishans Atemregler, und seine Flosse traf den Boden, sodass Sand aufgewirbelt wurde, der mir kurzzeitig die Sicht trübte. Ich schwamm vorsichtig und versuchte, nichts aufzuwühlen. Wir mussten so weit wie möglich sehen können. Als wir an einer felsigen Grotte vorbeischwammen, berührte ein Stück Seetang meine Hand. Ich zuckte zurück, zwang mich aber zur Ruhe, da keinerlei Gefahr in Sicht war. Die Höhle wurde dunkler, und als wir an einer unregelmäßigen Felszunge um die Ecke bogen, schwand das Licht vollständig.
Fanindras Körper strahlte nun heller, und sie erleuchtete unsere Umgebung. Blasse Stalaktiten hingen von der Decke, bereit, uns jederzeit aufzuspießen. Ich schwamm ein Stückchen dichter am Höhlenboden. Wir näherten uns einer weiteren Öffnung. Die hier war viel kleiner. Ren hielt an und drehte sich um, um uns ein Zeichen zu geben. Er wollte wissen, ob wir weiterschwimmen oder umkehren sollten. Kishan war fürs Weiterschwimmen. Ren tauchte als Erster hindurch, während wir abwarteten.
Er kam zurück und bedeutete uns, dass alles in Ordnung sei, und wir folgten ihm in die Höhle. Ich schlug rasch mit den Beinen, um die beiden einzuholen. Die Öffnung war eng, und ich musste mich hindurchquetschen. Wie hatten die beiden hier hindurchgepasst? Zum Glück kam kurz hinter mir Fanindra aus dem Loch geschwommen und erleuchtete die Schwärze. Auch hier hingen Stalaktiten von der Decke. Der sandige Grund fiel ab ins Bodenlose. Fanindra schoss an uns vorbei, und wir folgten ihr.
Wir hatten ein Viertel unserer Luft verbraucht. Sobald unsere Anzeige bei der Hälfte war, würden wir umkehren müssen. Die Höhle war breit genug, sodass wir jetzt nebeneinander schwimmen konnten, ja, die Seiten der Höhle waren überhaupt nicht mehr auszumachen. Ren und Kishan ließen sich zurückfallen, um mich von beiden Seiten zu flankieren. Mich beschlich das unheimliche Gefühl, wir würden beobachtet. Ich ließ den Blick forschend durch das Wasser unter mir schweifen und rechnete damit, von einem riesigen Hai mit aufgesperrtem Maul angegriffen zu werden. Andererseits hatte ich auch eine Gänsehaut im Nacken und fragte mich, ob vielleicht ein Angriff von oben erfolgen könnte.
Ich sah hoch, aber das Wasser war so dunkel, dass selbst Fanindra bloß unsere unmittelbare Umgebung erleuchten konnte. Für jedes Wesen, das zufällig in unsere Richtung spähte, waren wir regelrecht auf dem Präsentierteller. Da erstrahlte auf einmal die gesamte Höhle. Das grelle Licht kam von den Stalaktiten über unseren Köpfen.
Ich erkannte, dass wir etwa die Hälfte der Strecke bis zu unserem Ziel zurückgelegt hatten. An der gegenüberliegenden Wand führten in den Stein gehauene Stufen nach oben durch die Decke. Ein Licht ging aus, und ein anderes ging an. Es schien sich um zwei Lichter zu handeln, in einem Abstand von etwa drei Metern, und sie bewegten sich. Ich spürte, wie das Wasser mich in Bewegung versetzte, gegen Kishan drückte. Die Höhle erbebte, und die Lichter blinzelten wieder.
Sie … blinzelten? Ich geriet in Panik. Das sind gar keine Lichter. Das sind Augen!
Ein Stalaktit kam auf uns zu.
Nein! Es ist kein Stalaktit. Es ist ein Tentakel!
Ich packte Kishan am Arm und deutete nach oben. Er hakte rasch seine Chakram los. Ich schlug Ren auf den Rücken, doch er hatte ihn bereits gesehen. Der purpurn-braune Tentakel, der auf uns zugeschossen kam, war dicker als ein Baumstamm.
Hunderte blässlich weißer, kugelartiger Saugnäpfe zitterten, bereit, alles zu packen, was mit dem Tentakel in Berührung kam. Der Arm schoss zwischen Kishan und mir hindurch, und ich bekam die Saugnäpfe aus unmittelbarer Nähe zu sehen. Die runden Scheiben waren reihenweise von scharfem, zackenartigem Chitin umgeben, und es gab sie in allen Größen, von Teetassen bis hin zu Esstellern. Auf dem Rückweg berührte der Tentakel Kishan und tastete seine Schulter ab, als wollte er sehen, wie frisch er war.
Die Augen blinzelten erneut, und ich spürte wieder das Strömen von Wasser, während sich das riesige Geschöpf auf uns zubewegte. Es ließ zwei weitere Tentakel hervorschnellen, und diesmal traf einer Ren. Der fleischige Arm schlug ihm gegen die Brust und stieß ihn ein paar Meter nach hinten. Die Saugnäpfe krallten sich an seinem Neoprenanzug fest und rissen ihn mit unglaublicher Geschwindigkeit vorwärts, bevor Ren den Tentakel von sich stoßen konnte, wobei sein Neoprenanzug vorne einriss. Er sah sich nach mir um, und ich erblickte drei große kreisförmige Wunden an seiner Brust, aus denen Blut ins Wasser strömte.
Der Heilungsprozess setzte rasch ein, und Kishan schwamm zu Ren, um seine Ausrüstung zu überprüfen. Seine Sauerstoffflasche und Gurte saßen alle immer noch fest. Er hatte Glück gehabt. Ein weiterer Tentakel schoss hervor, während wir abgelenkt waren, und schlang sich um mein Bein. Ich konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. Kishan kam schnell herübergeschwommen, durchtrennte den Tentakel glatt mit der Chakram und entfernte ihn behutsam von meinem Bein. Der abgetrennte Arm zitterte und pulsierte und verströmte schwarzes Blut, während er sich im Kreis drehte und auf den felsigen Höhlenboden hinabsank. Mein Bein blutete, aber ich wusste nicht zu sagen, wie stark. Im Geiste befahl ich dem Göttlichen Tuch, einen Verband anzulegen. Ich spürte, wie er sich fest um mein Bein legte, und hoffte, dass es reichen würde, die Blutung zu stillen.
Ein weiterer Arm kam auf mich zugeschnellt, und ich schoss meinen Blitzschlag danach. In dem Tentakel bildete sich ein schwarzes Loch, und wir alle vernahmen den Schrei. Er ließ das Wasser um uns her vibrieren. Die riesigen Augen bewegten sich schnell auf uns zu. Rachsucht blitzte uns aus ihnen entgegen.
In einem Gewirr aus bräunlich-purpurnen Tentakeln kam das Geschöpf auf uns zu. Es klammerte sich mit den Armen an den langen Stalaktiten fest, während es wie ein Affe Stück für Stück herunterkletterte. Als es das Ende erreichte, hielt es inne und baumelte im schwarzen Wasser über uns. Endlich sahen wir richtig, womit wir es zu tun hatten.
Der Krake hing an einem Tentakel. Dann schlüpfte er wie ein Klumpen Wackelpudding zwischen den Stalaktiten hindurch, wobei er beständig seine Form veränderte. Seine Haut war gedehnt, und seine Augen wirkten in die Länge gezogen. Er strömte auf uns zu – ein dunkles, pulsierendes, fleischiges Ungeheuer. Er sieht hungrig aus.
Kurzzeitig steckte er fest, und wir vernahmen einen frustrierten Schrei. Ich bekam eine Gänsehaut und fing an, rückwärts zu treten. Der Krake sah, wie ich mich bewegte, und war offensichtlich fest entschlossen, zu uns zu gelangen. Sein Körper bewegte sich, und ich starrte fasziniert, wie sein schnabelartiges Maul mehrmals heftig zuschnappte, bereit, uns zu zerteilen und sich unsere blutigen Stücke einzuverleiben.
Dann ließ er die Stalaktiten hinter sich, und sein riesiger Kopf blähte sich zu seiner normalen Form auf. Er blinzelte erneut und hing einen Moment lang frei im Wasser. Überlegt sich wahrscheinlich, wer von uns am besten schmeckt. Er war riesengroß. Der in die Länge gezogene, ovale Mantel hatte die Größe eines Busses, und seine Tentakel waren bestimmt zweimal so lang. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf mich, und mir blieb das Herz stehen.
Das Geschöpf bewegte sich, senkte den Kopf, als würde es sich zurücklehnen, und ließ Fangarme auf mich zuschnellen. Dann hielt es unvermittelt inne. Ren hatte seinen Dreizack erhoben und versuchte, die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich zu ziehen. Die gewaltigen schwarzen Augäpfel richteten sich auf ihn. Seine Augen hatten jenen reflektierenden Glanz, den nur Tiere besitzen, die im Dunkeln leben. Als er sich drehte, fiel mir auf, dass das helle Licht gar nicht aus seinen Augen zu kommen schien, sondern von den Spitzen seiner längsten Tentakel.
Ren drehte am Stab seines Dreizacks und schoss drei Speere in rascher Folge auf das Untier ab. Einer prallte von einem sich bewegenden Tentakel ab, einer spießte einen Tentakel an einem Stalaktiten auf, und einer streifte den Mantel. Das Wasser wogte. Schwarzes Blut trübte den Bereich, wo das Geschöpf hing. Mit einer schnellen Bewegung riss es den aufgespießten Tentakel von dem Stalaktiten los. Andere Fangarme fuhren in sämtliche Richtungen. Ich schoss auf einen, der sich um Kishans Hals legte, doch der Arm hielt sich hartnäckig fest. Kishan sägte daran und machte sich frei, allerdings riss ihm der Arm den Atemschlauch weg. Kishan griff nach seinem Reserveschlauch und bedeutete mir mit erhobenem Daumen, dass alles in Ordnung sei.
Ren und ich trommelten mit Blitzschlägen und Pfeilen auf das Ungeheuer ein. Der Mantel weitete sich, und mit einem Lichtblitz und unter heftig strömendem Wasser war das Geschöpf verschwunden. Ich schwamm Kreise und versuchte zu erkennen, wohin es getaucht war, doch ohne die Lichter hätte es überall sein können. Ich paddelte mit den Beinen und näherte mich Ren, da es hilfreich sein könnte, wenn wir Rücken an Rücken kämpften. Kishan war gerade dabei, näher an uns heranzuschwimmen, als die Lichter wieder angingen. Der Krake befand sich direkt hinter ihm.
Zwei fleischige Glieder schlangen sich um Kishan und schüttelten ihn im Wasser. Eine seiner Flossen löste sich und sank langsam in den Abgrund unter uns. Ren schwamm kräftig vorwärts und stieß den Dreizack in den größeren Tentakel. Das Geschöpf schrie auf, ließ aber nicht los. Kishan hieb mit der Chakram zu, und gleichzeitig hob ich die Hand, um den Tentakel mit einem Blitz zu zerteilen. Da spürte ich ein Zerren. Das Untier hatte mir einen Tentakel um die Taille geschlungen und riss mich erschreckend schnell zu sich. Der Angriff auf Kishan war ein Ablenkungsmanöver gewesen. Das Geschöpf zog mich zur Seite und löschte die Lichter.
Fanindra schnellte wie ein Pfeil von mir fort und verschwand. Auf einmal war ich von Ren und Kishan getrennt, denen meine Gefangennahme wahrscheinlich noch nicht einmal aufgefallen war. Saugnäpfe hielten mich fest gepackt und gruben mir knöcherne kleine Spitzen in die Haut, wie Akupunkturnadeln. Ich beschoss das Glied mit Feuerkraft, doch das führte lediglich dazu, dass sich der Druck noch verstärkte. Der Krake hielt mich um die Rippen, und wenn er zudrückte, glaubte ich, meine Lunge würde zerquetscht werden. Die Wasserturbulenzen wurden immer heftiger, je näher ich dem Geschöpf kam. Kishan und Ren schalteten Taschenlampen an. Ich sah sie, aber sie konnten mich nicht sehen. Sie hatten sich endlich befreit und suchten nach mir, doch ich wusste, sie würden mich niemals rechtzeitig erreichen können. Das Monster rollte den Arm ein, und mir bot sich ein neuer, schrecklicher Anblick. Vor mir lag der Höllenschlund.
Etwas passierte mit mir, und ich war in der Lage, das Geschöpf wie aus sicherer Entfernung zu analysieren. Ich konnte mit kühlem Kopf überlegen, wie mir der Garaus gemacht werden würde. Das Maul schnappte auf und zu. Es öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch. Da hörte es mit der Ähnlichkeit aber auch schon auf. Die Körperöffnung, auf die ich mich rasch zubewegte, erinnerte mich an die Sarlacc-Grube in Krieg der Sterne – ein rundes schwarzes Loch mit mehreren Reihen scharfer Zähne. Drei lange grüne Röhren schossen aus dem weit geöffneten Maul hervor und beschmierten mir Gesicht und Neoprenanzug mit einer öligen Substanz, von der ich nur annehmen konnte, dass sie mir dabei helfen sollte, leichter seinen Schlund hinunterzurutschen.
Mithilfe meines Blitzschlags schoss ich dem Kraken ins Maul. Das Untier reagierte, indem es sich wütend schüttelte und mehrmals mit dem Rasiermesser-Schnabel klapperte. Die langen grünen Röhren schlangen sich mir um Hals und Taille, drückten mir die Arme an die Seiten, und zogen mich näher heran. Ich saß in der Falle. Meines Blitzschlags konnte ich mich nicht mehr bedienen. Ich würde von dem Kraken aufgefressen werden. Die Tentakel drückten ein letztes Mal heftig zu, rüttelten mich und ließen dann von mir ab, darauf vertrauend, dass ich von den grünen Zungen ausreichend außer Gefecht gesetzt war.
Ich wand mich hin und her und versuchte verzweifelt, meine Hand frei zu bekommen, aber ich konnte mich nicht rühren. Meine Tauchermaske wurde heruntergerissen, als das Geschöpf mich umdrehte. Anscheinend wollte es mich mit den Füßen voran auffressen. Ich glaubte, ganz in der Nähe einen verschwommenen goldenen Fleck zu erkennen, allerdings war ich mir nicht sicher, ob es sich um den Dreizack oder Fanindra handelte.
Etwas strich an meinem Arm entlang, etwas Längliches, sich Schlängelndes. Wahrscheinlich noch ein Tentakel. Meine Füße befanden sich bereits im offenen Maul des Kraken. Ich trat mit einem Bein zu, doch meine Wade stieß gegen einen gezackten Zahn. Mein Bein brannte. Ich ließ das Tuch diese neue Wunde verbinden, was wahrscheinlich sinnlos wäre, da der Krake mich jede Sekunde fressen würde. Ich wartete darauf, dass meine Beinknochen barsten, doch das Geschöpf biss nicht zu. Vielleicht will es mich in einem Stück hinunterschlucken? Mir kam eine Idee, und ich befahl dem Tuch, beide Enden seines Schnabels zu umwinden und aufzuhalten. Die Fäden jagten empor, schlangen sich oben und unten um den Körper des Wesens und wickelten sich anschließend mehrmals um die obere und untere Seite des Schnabels.
Der Krake schlug um sich und zappelte. Als sein Rasiermesser-Schnabel allmählich die Fäden durchriss, befahl ich dem Tuch, sie zu verstärken, doch ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Letztlich würde der Krake wütend genug werden, um den Faden ganz zu zerreißen und mich in der Mitte durchzubeißen.
Während ich im Wasser hin und her geschleudert wurde, fragte ich mich kurz, was meine Eltern von der Art und Weise gehalten hätten, wie ich nun sterben würde. Ich dachte an das Leben nach dem Tode und fragte mich, ob die Leute ihre Todesgeschichten austauschten. Falls ja, hätte ich die coolste Geschichte überhaupt. Du bist im Schlaf gestorben? Im Suff Auto gefahren? Krebs, wie? Zweiter Weltkrieg? Wartet mal ab, bis ich euch erzähle, was mir passiert ist. Ja, genau … stimmt … Krake, hab ich gesagt.
Ich hätte in Panik verfallen sollen. Ich hätte ertrinken sollen. Doch ich trieb lediglich im Kielwasser der wogenden Glieder und wartete gelassen darauf, dass das Geschöpf mich hinunterschlucken würde. Was dauert das denn so lange? Mann o Mann. Nun mach aber mal!
Es fühlte sich an, als hätte mich jemand in eine riesige Waschmaschine geworfen. Ich spürte das glatte Fleisch von Tentakeln, gummiartige runde Saugnäpfe und das scharfe Stechen von Zähnen, als sie im Waschgang an mir vorbeirotierten. Ich hörte ein Kreischen und spürte das Wogen des aufgewühlten Wassers und das fleischige, glatte Tasten der Zungen, die mich weiterhin dick mit Öl einschmierten. Ich hing wie ein Fisch an der Angel – doch etwas lenkte den Angler ab. Ich riss die Augen auf und sah, wie schwarze Ranken aus Blut herumwirbelten.
Sich windende Gestalten schossen an mir vorbei, eine davon golden. Fanindra. Sie erhellte die Umgebung, obwohl ich entschied, dass ich lieber im Dunkeln wäre. Das Ungeheuer erhob sich im Wasser wie eine fleischige purpurfarbene Wolke über mir, bereit, mich mit der Gewalt eines Wirbelsturms zu vernichten. Ich beobachtete, wie Fanindra zu einem Tentakel schwamm und hineinbiss. Das Geschöpf erzitterte.
Weitere längliche Gestalten kamen auf mich zugeschwommen – gelb-schwarz gestreift, schwarz-weiß gestreift, grau, grün, lang, dünn, dick – Seeschlangen. In der Höhle wimmelte es von ihnen. Sie griffen das Untier an und übersäten es wie Nadeln ein Nadelkissen. Tatsächlich, unzählige Schlangen folgten Fanindras Beispiel. Manche bissen heftig in das purpurfarbene Fleisch und wanden sich hinein. Sie bewegten sich wie Würmer unter der Haut des Tintenfisches, die ganze Zeit um sich beißend und reißend.
Das Geschöpf schrie auf und füllte seinen Mantel. Schwarze Tinte schoss aus dem Sipho hervor und umgab mich in warmen Wellen, brannte mir in den Augen. Ich schloss sie rasch und übergab mich fast. Unvermittelt bewegte sich der Krake Dutzende Körperlängen von seinem ursprünglichen Aufenthaltsort fort und zerrte mich gewaltsam mit sich.
In dem Durcheinander lockerte sich der Griff, mit dem mich der Krake gepackt hielt. Ich war ihm aus dem Maul gerutscht, konnte mich aber immer noch nicht bewegen, weil mich seine Zungen weiterhin umschlangen. Es war gerade zur rechten Zeit passiert, denn die Bewegungen des Ungeheuers rissen die Fäden einfach entzwei. Er hätte mich in zwei Hälften zerbissen! Während ich über mein Glück sinnierte, beobachtete ich die Schlangen, die immer noch an seiner Haut hingen. Fanindra biss in die Stelle neben dem riesigen schwarzen Auge, und das Untier schüttelte sich. Tentakel schlugen im Wasser wild um sich und versuchten verzweifelt, die Schlangen loszuwerden.
Etwas berührte mich, und ich zuckte zusammen, spürte dann aber, wie eine Hand meinen Arm drückte. Ren packte eine grüne Zunge und entfernte sie von meinem Hals. Der kräftige Muskel schlang sich um seinen Arm, doch Ren zog fest daran und bekam ihn los. Kishan schwamm auf uns zu und sägte durch die grünen Röhren. Schmierige, ölige Flüssigkeit ergoss sich über uns, als er die Zungen vom Körper des Wesens abtrennte. Er machte meine Beine los, während Ren meine Arme befreite. Kishan packte mich im Fesselschleppgriff und schwamm los, mich mit sich ziehend.
Kampflustig tauchte Ren an das Untier heran. Er stieß den Dreizack wieder und wieder tief in den Rachen des Geschöpfs. Schwarzes Blut quoll in einer Wolke hervor, und schon bald konnte ich ihn nicht mehr ausmachen. Kishan zog mich näher an die Felsstufen. Nachdem wir sie erreicht hatten, drehten wir uns um und sahen zu, wie das Geschöpf erneut dunkle Tinte ausstieß. Das Letzte, was wir von ihm zu sehen bekamen, waren die blinkenden Lichter an den Tentakelenden, während der Krake in den dunklen Abgrund hinabsank. Wir warteten noch ein paar sorgenvolle Augenblicke, bis wir als Erstes das Glänzen des Dreizacks sahen und dann Ren, der aus dem nebligen schwarzen Wasser auf uns zugeschwommen kam.
Seeschlangen schossen zu Hunderten aus dem Abgrund empor und trieben ganz in der Nähe in einer sich windenden Wolke, Fanindra vorneweg. Ein kleines Licht hoch über uns ließ einen Ausweg erahnen. Wir schwammen nach oben. Kishan führte uns an. Ich umklammerte seine Hand. Er durchbrach die Wasseroberfläche in einem weiß gekachelten Becken und griff nach unten, um mich hochzuziehen. Ren schoss neben mir aus dem Wasser und legte seine Atemausrüstung ab. Wir alle holten mehrmals tief Luft. Kishan zog mich behutsam an den Beckenrand. Vorsichtig nahm er mir die Sauerstoffflasche und Flossen ab und machte sich daran, mich zu untersuchen.
»Alles in Ordnung?«
Die Frage ließ mich in hysterisches Gelächter ausbrechen, bis es mir schließlich gelang, den Kopf zu schütteln. »Nein.«
»Wo tut es weh?«
»Überall. Besonders im Bein.«
»Wie schlimm ist es?«
»Es könnte schlimmer sein. Ich glaube, es wird schon werden.«
Er nickte und stand auf, ließ den Blick schweifen.
Wir befanden uns in einem unterirdischen Raum mit einer Treppe. Ich ächzte vor Schmerz, tapste dann hinkend und barfuß auf die Treppe zu und sah nach oben. Die Treppe war zu klein für einen Drachen. Er muss sich wie Lòngjun in einen Menschen verwandeln können. Da ich so schnell wie möglich wegkommen wollte, während der Krake seine Wunden leckte, stieg ich langsam nach oben, mein schwaches Bein schonend, und die Brüder folgten mir.
Anfangs stützte ich mich auf Kishan und biss mir auf die Lippe, um den Schmerz im Zaum zu halten. Auf dem ersten Absatz hob er mich mit einem Knurren hoch und trug mich von da an. Zehn Stockwerke ging es nach oben, zwanzig Stufen pro Etage, aber Kishan atmete noch nicht einmal schwer. Als wir endlich das Ende der Treppe erreicht hatten, traten wir auf das steinerne Dach der Burgruine. Kishan setzte mich vorsichtig auf einer Steinbank ab, und er und Ren gingen auf den Kopf des schlafenden blauen Drachen zu.
»Aufwachen!«, brüllte Ren.
Der Drache regte sich schnarchend. Eine Rauchwolke sank auf die Brüder herab.
Kishan rief: »Aufstehen. Jetzt!«
Der Drache schnaubte und öffnete träge ein Auge, aber nur einen Spaltbreit. Was wollt ihr?
Rens Kiefer zuckte verärgert. »Du wachst jetzt gefälligst auf und redest mit uns, oder ich ramm dir diesen Dreizack in deinen fetten Hals!«
Jetzt wurde der Drache aufmerksam. Der Rauch färbte sich schwarz, und der Kopf des Drachen fuhr peitschend herum. Die Augen zu Schlitzen verengt, biss er in die Luft.
So dürft ihr nicht mit mir reden.
Ren drohte: »Ich werde genau so mit dir reden, wie es mir passt. Du hast sie beinahe umgebracht.«
Wen umgebracht? Das kleine Mädchen? Ich habe sie noch nicht einmal angerührt.
»Dein schmutziges Untier aber. Wenn sie gestorben wäre, wäre ich hier heraufgekommen und hätte Hackfleisch aus dir gemacht.«
Offensichtlich ist sie nicht gestorben, ihr solltet also zufrieden sein. Ich habe euch gewarnt, dass die Aufgabe schwierig ist.
Kishan trat vor. »Gib uns, was du uns versprochen hast.«
Der Drache entblößte seinen Hals. So nehmt es euch.
Eine gewaltige Scheibe hing an einer dicken Lederkordel vom Hals des Drachen. Kishan trat vor und löste die Scheibe mithilfe der Chakram. Die Brüder drehten sich um und kamen auf mich zu.
Der blaue Drache verlagerte geräuschvoll seinen mächtigen Körper. Höre ich kein Danke?, sagte Qınglóng. Schließlich ist die Himmelsscheibe nicht gerade eine Kleinigkeit.
Ren hob mich hoch und wandte sich dem Drachen zu. »Sie auch nicht.«
Ich sah in Rens blaue Augen. Seine fuchsteufelswilde Miene beruhigte sich ein wenig, und er drückte kurzzeitig die Stirn an meine. Dann übergab er mich an Kishan mit den Worten »Hilf ihr«, griff nach der Scheibe und machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen.