19

Die Jagd des
grünen Drachen

Wir lagen in der Nähe einer großen Insel vor Anker. Ein leuchtend weißer Sandstrand erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und jenseits des Ufers war die Insel mit den unterschiedlichsten Baumarten bedeckt. Farbenprächtige Vögel flogen über den Wipfeln. Es war warm, viel wärmer als auf der in Nebel gehüllten Insel des blauen Drachen. Die Insel pulsierte vor Farben und Geräuschen. Das Kreischen von Affen und das Zwitschern von Vögeln waren klar auszumachen.

Ren gesellte sich schon bald zu uns und legte unsere Waffen auf den Tisch. Dann stellte er sich neben mich.

»Horch mal! Kannst du sie hören?«

»Was hören?«, fragte ich.

Ren berührte meinen Arm. »Schsch.« Er legte den Kopf schief und schloss die Augen.

Ich lauschte eindringlich, konnte allerdings nichts weiter als ein Durcheinander an Tierstimmen ausmachen.

Schließlich schlug Ren wieder die Augen auf. »Raubkatzen. Panther, denkst du nicht auch? Leoparden?«

Kishan schüttelte den Kopf. »Nein. Löwen?«

»Das glaube ich nicht.«

Ich hörte nichts. »Wonach klingt es?«, wollte ich wissen.

»Es ist mehr ein Schrei als ein Brüllen«, erklärte Ren. »Das habe ich schon einmal gehört … im Zoo.« Er schloss die Augen und lauschte ein weiteres Mal. »Jaguare. Es sind Jaguare.«

»Wie sind die so?«, fragte Kishan.

»Sie sehen aus wie gefleckte Leoparden, aber sie sind größer, aggressiver. Und clever, berechnend. Sie besitzen einen starken Kiefer. Sie stürzen sich nicht auf die Halsschlagader, sondern beißen sich durch den Schädel.«

»Ich habe noch nie einen gehört«, sagte Kishan.

»Wie solltest du auch?«, meinte Ren. »Sie sind in Indien nicht beheimatet. Sie stammen aus Südamerika.«

Nilima und Mr. Kadam kamen auf uns zu, während wir uns gerade unsere Waffen umschnallten.

Mr. Kadam fragte: »Ihr wollt euch also geradewegs durch den Dschungel schlagen?«

»Ja«, erwiderte Ren und hängte mir meinen Köcher mit den goldenen Pfeilen um. »Wir nehmen das Boot und betreten genau … dort … den Dschungel.« Er zeigte auf einen Abschnitt mit Bäumen, der für mich genauso aussah wie der restliche Wald, aber er beharrte darauf, dass der Dschungel dort weniger wild wuchs.

Mr. Kadam folgte uns, während wir hinab in den Bauch des Schiffs marschierten. »Solltet ihr Hilfe benötigen, lasst Miss Kelsey ein Leuchtsignal abfeuern.«

»Abgemacht«, erklärte Kishan, als er ins Boot sprang und die Hand nach mir ausstreckte.

Mr. Kadam öffnete die Luke und ließ das Boot hinab. Als es im Wasser trieb, sprang Ren vom Rand der Jacht und landete geschmeidig neben mir. Kishan startete den Motor und wendete das Boot. Ich wäre beinahe gefallen, als die Nase des Boots aus dem Wellental auftauchte. Ren streckte die Hand nach mir aus, doch ich schob sie weg und schlang stattdessen einen Arm um Kishans Hüfte. Als ich den Kopf wandte, funkelte er mich an.

Sobald wir die Insel erreicht hatten, sprang Ren aus dem Boot und zog es an den Strand. In dem Moment, als meine Füße den Sand berührten, hörte ich eine Stimme. Sie war rau und harsch, und während sie in meinem Bewusstsein knirschte, erzitterten die Bäume. Es fühlte sich wie ein kleines Erdbeben an.

Wer betritt meine Insel?

Mit einem Schlag verstummte das laute Stimmengewirr des Dschungels. Wir drehten uns im Kreis und suchten nach der Quelle der Stimme, konnten jedoch nichts sehen.

Wer seid ihr?, wollte die Stimme wissen.

»Wir sind Reisende, die deine Hilfe benötigen«, erklärte ich. »Wir müssen deine Brüder und die Siebte Pagode finden, Großer Drache. Wir sind auf der Suche nach Durgas Halskette.«

Der Drache lachte, was sich anhörte, als würden zwei große Steine gegeneinander gerieben. Die Vögel stoben auf und flatterten zur anderen Seite der Insel.

Und was willst du unternehmen, um dir meine Hilfe zu sichern, junge Dame?

»Was forderst du im Gegenzug von uns?«, fragte ich betont forsch.

Oh, nicht … viel. Ich will nichts weiter als etwas Unterhaltung. Ihr müsst verstehen, ich bin hier auf meiner Insel häufig allein. Vielleicht könntet ihr für etwas … Ablenkung sorgen.

»Und wie sollen wir dich unterhalten?«

Wie wäre es mit einem … Spielchen?

Da schaltete sich Kishan ein. »Wo bist du, Drache?«

Könnt ihr mich denn nicht sehen? Ich bin ganz in der Nähe.

»Nein«, entgegnete Kishan.

Der Drache schnaubte verächtlich. Dann werdet ihr euch auch nicht sehr gut bei meinem Spiel anstellen. Vielleicht sollte ich es lieber lassen.

»Er ist dort«, verkündete Ren leise. »Oben in dem Baum.«

Er zeigte hinauf, und ich suchte die Wipfel über uns ab. Die Blätter bebten, und als ich eindringlich nach oben starrte, erkannte ich ein blinzelndes goldenes Auge.

Ah, gut. Ihr habt mich endlich gefunden.

Der Drache war perfekt getarnt. Sein Kopf war braun und knotig wie altes Treibholz, seine Schnauze lang wie die eines Krokodils und mit spitzen Zähnen versehen. Zwei goldene Augen zwinkerten mir zu, und das Ungetüm ließ sich langsam auf den Strand herab, der Baum raschelte heftig unter seinem Gewicht, und ein mächtiger Ast brach und krachte zu uns herab. Große Geweihstangen ragten aus seinem Hinterkopf. Moos hing in Büscheln von den Hörnern herab, als wäre es abgekratzt worden.

Der lange, schlangenförmige Körper des Drachen ähnelte denen seiner Brüder, doch er hatte goldene, mit Klauen bestückte Füße und Schuppen, die wie grüne Blätter aussahen. Ein brauner Bart, und braunes Haar, das sich wie die zarten Härchen der Maisseide kräuselte, bedeckte seinen Kopf, wuchs ihm den Rücken hinab, wo es an manchen Stellen in Büscheln abstand, und endete in einem langen, buschigen Schwanz. Er war kleiner als seine Brüder, doch als er sich vom Baumstamm wickelte, schien sein Körper zu wachsen. Hätte er sich zu seiner vollen Länge ausgestreckt, wäre er wahrscheinlich doppelt so lang wie die Jacht gewesen. Die Stimme des grünen Drachen schreckte mich aus meiner Betrachtung seines Äußeren auf.

Zuerst sollten wir uns einander in aller Form vorstellen. So gehört es sich nun einmal. Ich bin Lüsèlóng, der Drache der Erde. Ich weiß bereits, dass ihr zwei meiner Brüder getroffen habt, den Drachen der Sterne und den Drachen der Wellen. Falls ich mich dazu durchringe, euch zu helfen, werdet ihr meine anderen zwei Brüder kennenlernen, aber ich warne euch hier und jetzt, sie sind weder so zuvorkommend noch so schön wie ich. Er kicherte.

Neugierig ging ich einen Schritt näher. »Ich dachte, ihr seid die Drachen der fünf Ozeane.«

Ein goldenes Auge blinzelte mich an. Wie erfrischend dreist du bist. Wir sind aus den fünf Ozeanen geboren. Ich entstamme dem warmen Indischen Ozean. Qınglóng wurde im Südmeer geboren, Lóngjun im Pazifik. Jınsèlóng im Atlantik und Yínbáilóng in den eisigen Gewässern der Antarktis, aber diese beiden müsst ihr ja erst noch kennenlernen. Obschon ich dem Meer entspringe, regiere ich an Land und überwache alles, was dort geschieht.

»Wer waren dann eure Eltern?«

Der Drache blies mir einen warmen Lufthauch ins Gesicht. Vielleicht wirst du allmählich zu dreist, meine Liebe. Sollen wir nun unser Spiel beginnen, oder habt ihr es euch anders überlegt und wollt lieber umkehren?

»Wir werden mitspielen«, sagte Kishan.

Der Drache leckte sich die Lippen. Ausgezeichnet. Und bei einem Spiel muss es einen Preis für den Gewinner geben.

Lüsèlóng hob den Kopf und starrte Kishan ruhig und eindringlich in die Augen. Dann glitt sein eiserner Blick zu Ren.

»Was tust du da?«, wollte ich wissen.

Ich tauche in ihr Bewusstsein. Aber keine Sorge, junge Dame, ich lese nur ihre Gedanken. Der Drache schnaubte und warf den Kopf in den Nacken, sodass seine Schnauze zum Himmel zeigte, bevor er in lautstarkes Gelächter ausbrach. Das wird das beste Spiel, das ich in Millennien gespielt habe! Ein köstlicher Spaß! Er konnte nicht aufhören zu kichern.

»Was ist so lustig?«, fragte ich.

Sie streben beide nach demselben Preis.

»Demselben Preis?«

Der Drache bewegte seinen Körper und schnitt mir den Weg zu Ren und Kishan ab. Ja. Komm mit mir, meine Liebe.

»Was? Nein!«

O doch. Sobald das Spiel begonnen hat, muss es bis zum bitteren Ende gespielt werden.

Er streckte eine krallenbewehrte Klaue aus und umklammerte meine Taille. Ich wehrte mich verbissen, als er mich hochhob und in die Luft springen wollte.

»Warte! Was tust du da? Das kannst du nicht machen! Wir kennen noch nicht mal die Spielregeln!«

Kishan und Ren stürzten beide auf mich zu, bis der grüne Drache eine Feuersalve über den Sand spuckte und ihnen Einhalt gebot. Ich versuchte, mich ihm zu widersetzen, doch seine scharfen Krallen schnitten mir in die Hüfte.

Junge Dame, hör auf, dich zur Wehr zu setzen. Wir wollen doch nicht, dass unser Preis Schaden nimmt.

»Preis? Was meinst du damit?«

Der Drache seufzte und trat in die Luft. Dann blies er erneut Feuer auf Ren und Kishan hinab, sodass sie nun von allen Seiten eingeschlossen waren, jedoch nicht angesengt wurden.

Kishan zog seine Chakram und rief: »Lass sie frei, Drache, oder wir werden dich töten.«

Wir Drachen können nicht getötet werden, höhnte Lüsèlóng.

Ren zückte seinen Dreizack und drehte den Griff, sodass sich der Schaft in die Länge zog und ein Speer aus der Zinke lugte. »Wir können ebenfalls nicht sterben, Drache. Und wir werden dich jagen, bis sie in Sicherheit ist.«

Der Drache beugte den Kopf in Rens Richtung und zischte: Und genau darauf zähle ich, Tiger.

»Bring sie zurück«, rief Kishan, als der Drache höher in die Luft stieg. »Sofort!«

Ren sprang durchs Feuer, warf den Dreizack auf den Boden und verwandelte sich in einen Tiger. Mit mächtigen Sprüngen erklomm er einen hohen Baum und lief einen schmalen Ast entlang. Jetzt war er uns viel näher. Er brüllte und durchschnitt mit der Tatze die Luft.

Nachsichtig senkte Lüsèlóng den Kopf, um dem weißen Tiger fest in die Augen zu sehen, hielt jedoch genügend Abstand, damit seine Nase nicht von der Klaue getroffen werden konnte. Ren verwandelte sich zurück in einen Mann und hielt sich an dem Ast fest. Er sah mich an, und ich spürte seine Verzweiflung. Ich war außer Reichweite, und es gab nichts, was er tun konnte, um mich zu retten.

Sein Gesicht nahm einen düsteren, gefährlichen Ausdruck an, als er dem Drachen der Erde entgegentrat. »Sollte ihr auch nur ein einziges Härchen gekrümmt werden, dann verspreche ich dir, dass ich einen Weg finde, um dich zu töten. Sei auf der Hut, Drache.«

Der Drache verengte die Augen und lächelte gehässig. Ja, das Spiel nimmt eine höchst amüsante Wendung. Und weil ihr so versessen darauf seid, die Regeln vorzeitig zu erfahren, werde ich dir etwas verraten … Das Spiel ist eine Jagd. Ich gehe auf Safari. Ich werde die Gestalt eines Menschen annehmen und euch jagen. Euch beide. Ihr werdet in Tigergestalt bleiben. Fallen und andere wilde Tiere werden auf euch warten. Falls ihr es bis zur Schlosshecke schafft, bevor ich euch erschieße oder fange, könnt ihr die nächste Runde bestreiten. Wenn nicht, habe ich zwei wunderschöne Tigerfelle, die ich mir neben den Kamin hängen werde.

»Und wenn wir es bis zur zweiten Runde schaffen?«

Sollte es euch gelingen, mir ein Schnippchen zu schlagen, was höchst unwahrscheinlich ist, dann wird sich das Spiel verändern. Ihr werdet euch einen Weg durch den Irrgarten bis zur Burg bahnen müssen. Und du, leg deinen fliegenden Diskus auf den Boden, oder ich werde das Mädchen ausweiden.

Ich keuchte auf und blickte zum Fuß des Baumes, an den sich Kishan mit erhobener Chakram herangeschlichen hatte. Er senkte den Arm, und der Drache drehte sich wie ein Fähnchen im Wind. Mir wurde übel von der schnellen Drehung. Dann richtete er die Augen auf beide Männer, während er fortfuhr: Eure Waffen bekommt ihr zurück, bevor ihr den Irrgarten betretet. Dieser Teil des Spiels ist älter als die Menschheit. Er besteht aus einem weißen Ritter, einem schwarzen Ritter, einem Drachen und einer Prinzessin. Ihr müsst einen Weg durch den Irrgarten finden und die Burgmauern erklimmen. Dann gilt es, den Drachen zu erlegen, der von mir gespielt wird. Und der Gewinner bekommt das Mädchen.

»Ich dachte, du wärst unsterblich«, sagte Ren.

Oh, das bin ich, aber wenn ihr, ohne vorher zu Asche zu zerfallen, einen Treffer landet, der für einen normalen Drachen tödlich wäre, habt ihr gewonnen.

»Und wenn du gewinnst?«

Nun, wenn ich gewinne, bekomme ich natürlich das Mädchen. Der Drache lächelte boshaft und drückte mich leicht.

Ich sog vor Schmerz die Luft ein und hörte beide, Ren und Kishan, bedrohlich knurren.

Ren redete leise, und ein Versprechen hallte in seiner Stimme. »Wir werden mitspielen, Drache, aber sei dir eines eingedenk: Jede Pein, die du ihr zufügst, egal wie winzig sie sein mag, werde ich dir hundertfach heimzahlen.«

Der Drache hüpfte begeistert in der Luft auf und ab. Es ist sehr lange her, dass ich so mutige Gegner hatte. Ich wünsche euch Glück. Das Spiel möge beginnen!

Ein Windstoß blies über uns hinweg, und alle Waffen flirrten und waren im nächsten Moment verschwunden. Beide Männer stöhnten gepeinigt auf, als sie gezwungen waren, wieder Tigergestalt anzunehmen. Der schwarze Tiger sah mich an, knurrte und stürzte in den Dschungel. Der Drache erhob sich mit mir in die Lüfte. Der weiße Tiger blieb im Baum, die Augen fest auf mich geheftet, bis wir uns nicht mehr sehen konnten.

Mit schwindelerregender Geschwindigkeit schlängelte der Drache sich zwischen den Baumwipfeln hindurch.

Ich schauderte. »Wohin bringst du mich?«

Zur Burg natürlich.

Die Insel war viel größer, als ich anfangs angenommen hatte. Ihr Durchmesser betrug vielleicht fünf Meilen. In Windeseile hatten wir die Bäume hinter uns gelassen, glitten über den Strand und erreichten im nächsten Moment den Ozean. Eine weitere kleine Insel kam in Sicht. Sie war von Bäumen gesäumt, und in der Mitte erhob sich eine große Burg, die aus gräulich-seetangfarbenem Stein errichtet war.

Ein riesiger Irrgarten aus dunklen, mindestens sechs Meter hohen Hecken umgab den Vorhof. Die Burg ragte weit über den Irrgarten empor, war allerdings von Nebelschwaden verhüllt. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass es weder eine Treppe noch Türen gab, die Burg nur von der Luft aus betreten werden konnte. Die Tiger müssten an der Außenmauer emporklettern, während ich wie Rapunzel gefangen war, nur ohne das rettende Haar.

Ein einsamer Turm erhob sich aus der Burg, und genau dorthin brachte er mich. Seine Krallen kratzten bei der Landung auf dem flachen Dach, dann setzte er mich schließlich ab. Die Luft um den Drachen schien zu flirren, und mit einem Mal stand die menschliche Version von Lüsèlóng vor mir. Hellhäutig und mit braunem Haar, war er gut aussehend, wenn auch auf eine gefährliche Art und Weise. Seine Augen wirkten nun eher haselnussbraun als gelb. Er trug altmodische khakifarbene Jagdkleidung, hohe schwarze Stiefel, die frisch geputzt sein mussten, und er hatte sogar einen Tropenhelm unterm Arm.

»Aber das ist nicht fair«, sagte ich verzweifelt. »Die Hecke und die Burg liegen nicht mal auf derselben Insel. Woher sollen sie das wissen?«

»Das werden sie schon herausfinden. Irgendwann.« Er nahm mich beim Ellbogen. Mit einem seidenweichen Akzent sagte er: »Nun komm, meine Liebe. Erlaube mir, dir dein Quartier zu zeigen.«

»Warum klingst du russisch?«

Er lachte. »Wusstest du nicht, dass die weltbesten Großwildjäger slawischer Abstammung sind? Wir Drachen können jede beliebige Gestalt annehmen, und ich möchte auf die klassischste aller Arten auf die Jagd gehen. Ich will den berühmten Jägern jener Zeit nacheifern, als das Jagen noch ein echter Sport war. Diese Handvoll mutiger Männer, die ebenso ihr Leben einsetzten wie ihre Beute und sich mehr auf ihr Können und ihre Verschlagenheit verließen als auf Waffen, gehören leider der Vergangenheit an. Aber heute werde ich ihnen meine Ehrerbietung erweisen.«

Anscheinend ist Arroganz der wunde Punkt dieses Drachen. Vielleicht kann ich das gegen ihn verwenden. Schüchtern sagte ich: »Damit gehst du ein großes Risiko ein. Das ist wirklich mutig von dir.«

Verwirrt hielt er inne. »Wie meinst du das?«

»Nun, wenn du es den Großwildjägern des alten Schlags gleichtun willst, wirst du in menschlicher Gestalt jagen. Ich meine, du hattest doch wohl nicht vor, deine Drachensinne einzusetzen, oder? Deine ungeheure Geschwindigkeit, deine Sehkraft und dein Hörvermögen würden dir einen solchen Vorteil verschaffen.«

»Oh … ja. Vermutlich sollte ich meine Fähigkeiten beschränken und als normaler Mensch auf die Jagd gehen.« Er führte mich in die Burg und eine Wendeltreppe hinunter.

»Es würde das Spiel so viel interessanter machen, nicht wahr?«, fragte ich unschuldig.

»Ja, ja! Das würde es. Ich werde es tun. Ich werde als normaler Mensch jagen.«

Ich legte ihm eine Hand auf den Arm und schlug einen besorgten Unterton an. »Aber dann würdest du dich womöglich in Gefahr begeben. Die Tiger sind sehr findig.«

»Ha! Für mich besteht keine Gefahr. Ich werde noch in der ersten Stunde gewinnen.«

»Dennoch, es wäre sicherlich schrecklich verlockend, deine Fähigkeiten einzusetzen. Ich könnte dir das nicht verübeln. Dir müsste nur ein Tiger an die Kehle springen, und du wärst sicherlich versucht, ihn mit deiner unermesslichen Stärke auszuschalten. Das wäre mehr als verständlich. Es ist sehr schwierig, seine Fähigkeiten nicht einzusetzen, wenn man sie hat.«

»Ich kann auf meine Fähigkeiten verzichten. Mein Verstand und mein Können reichen bei Weitem, um dieses Spiel für mich zu entscheiden.«

»Nun, du könntest jederzeit darauf zurückgreifen, also bist du garantiert auf der sicheren Seite.«

»Glaub mir, ich bin nicht auf meine Sicherheit bedacht! Na schön. Um es dir zu beweisen, werden wir eine weitere Regel hinzufügen!«

»Und welche Regel wäre das?«

»Die Regel lautet, falls ich auf der Jagd irgendeine Fähigkeit einsetze, welche die eines normalen Menschen übersteigt, dann haben die Tiger gewonnen.«

»Oh! Wie schrecklich mutig von dir! Wie schade, dass ich hier eingesperrt bin und dich nicht in Aktion bewundern kann.«

»Ja, das ist fürwahr schade«, sagte er nachdenklich. »Nun, aus besonderer Gefälligkeit dir gegenüber sei dir erlaubt, der Jagd zuzusehen.«

»Du meinst, du nimmst mich mit?«

»Und riskiere, dass sie dich aus meinen Klauen reißen, bevor das Spiel zu Ende ist? Nein, dorogaja Dama, du wirst hier im Turm bleiben. Ich werde jedoch meinen Spiegel bitten, dir die Jagd zu zeigen. Wenn du uns zusehen möchtest, tritt einfach vor den Spiegel und sag ihm, was du zu sehen wünschst. Fühl dich hier wie zu Hause, meine Liebe. Essen und Trinken werden dir jeden Tag aufs Fensterbrett gebracht, aber du wirst eingesperrt bleiben, bis das Spiel ein Ende findet.«

Mit schwungvollen Schritten eilte er auf die Treppe zu, dann schloss die schwere, hölzerne Tür sich hinter ihm und wurde verriegelt. Ich wartete, bis ich Lüsèlóng nicht mehr hören konnte und streckte meine Feuerhand nach der Tür aus. Nichts geschah. Ich ging zum Fenster, um mit einem Leuchtsignal Hilfe zu holen. Aber erneut war mein Blitzschlag wirkungslos. Ich sank auf das kleine Bett mit der rauen Wolldecke. Mir waren die Hände gebunden.

»Spiegel? Zeig mir die Jagd.«

Der Spiegel wurde schwarz, bevor er die Insel in Vogelperspektive darstellte. Ein grüner Streifen zeigte den Drachen an, während er zurück übers Wasser flog, am Strand landete und sich in einen Menschen verwandelte. Als er den Dschungel betrat, trug er ein altmodisches, langläufiges Jagdgewehr und einen Beutel mit Proviant – er hatte sogar eine Feldflasche bei sich. Ich hoffe nur, dass er sich an die Spielregeln hält und wie ein normaler Sterblicher jagt.

Doch selbst falls er es tat, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er einen der zwei Tiger, wenn nicht gar beide, fangen würde. Kishan war an ein Leben im Dschungel gewöhnt, aber es war schon sehr lange her, seit Ren auf sich selbst gestellt war. Da musste ich an die Antilopenjagd denken, bei der Ren allein kein Tier hatte fangen können. Ich biss mir auf die Lippe, als mir einfiel, dass ihn sein weißes Fell zu einem leichten Opfer machen würde. Wenn sie während des Tages ein sicheres Versteck fänden, stünden die Chancen für die Tiger vielleicht gar nicht so schlecht, den Drachen nachts zu jagen, wenn ihn sein menschliches Augenlicht im Stich ließ.

Lüsèlóng bahnte sich vorsichtig einen Weg durch den Dschungel, suchte nach Spuren der Tiger. Ich bat den Spiegel, mir Ren und Kishan zu zeigen. Der Spiegel ließ die Sicht auf den Drachen verschwimmen und zoomte zu einem Stück Dschungel auf der anderen Seite der Insel. Zuerst konnte ich nichts sehen, doch dann blitzte etwas Weißes hinter einem Busch auf. Im nächsten Moment war es wieder verschwunden, und dann bemerkte ich das Zucken eines Tigerschwanzes hinter einem Felsbrocken. Ich bat den Spiegel, noch näher heranzufahren. Das Bild zeigte Ren, der neben einem mit Eisenspitzen versehenen Brett stand, und die Falle auszulösen versuchte, indem er sie leicht mit der Pfote berührte.

Kishan tauchte mit etwas im Maul auf – einem toten Affen. Als ich die Umgebung genauer betrachtete, stellte ich fest, dass der Boden mit Affenleichen regelrecht übersät war. Kishan warf das Tier in die Falle, und das scharfe Ende der Spitze bohrte sich in Tigerhöhe in einen Baum. Ich beobachtete das langsame Pirschen der Tiger, während sie sich vorsichtig tiefer in den Dschungel wagten.

Eine Stunde später trat Kishan in eine raffinierte Falle, und zwei Holzpfähle bohrten sich in sein Bein. Mit aller Gewalt riss er seine Pfote frei, auch wenn er sich dabei eine klaffende Wunde zuzog. Er humpelte etwa zwanzig Minuten, bis sie verheilt war.

Weitere Fallen erwarteten sie. Nur mit knapper Not entkamen sie dem Schicksal, von einem Speer gepfählt zu werden, als einer von ihnen über einen fast unsichtbaren Draht stolperte. Ren trat auf einen Stein, der wiederum eine Falle auslöste. Ein scharfer Bambuspfahl peitschte an Kishan vorbei, der in letzter Sekunde aus dem Weg springen konnte. Allerdings traf er Ren mitten in die Seite, und die fünfzehn Zentimeter langen Nägel, mit denen der Pfahl bestückt war, bohrten sich tief in sein Fell. Kishan nahm den Pfahl in den Mund und hielt ihn fest, während Ren schmerzhaft seinen Körper wegzog. Blut tropfte auf den Boden. Anschließend trotteten sie langsam weiter.

Eine Weile bahnten sie sich einen Weg durch die Wipfel der Bäume, indem sie von einem Ast zum anderen sprangen, aber schon bald erkannten sie, dass viele der Äste angesägt waren und ihr Gewicht nicht hielten. Sie kehrten zum Boden zurück, und kurz darauf trafen sie auf den schlimmsten aller Hinterhalte: eine Venusfliegenfalle. Durch meine Studien mit Mr. Kadam über all die verschiedenen Arten der Kriegsführung wusste ich, womit es die Tiger zu tun hatten.

Ein riesiger Stein rollte auf sie zu, sodass beide Tiger hastig zurückweichen mussten. Ren rutschte in eine rechteckige Grube, die mit Zweigen und Blättern geschickt getarnt gewesen war. Unzählige lange, sich überlappende Metallspitzen überzogen die Wände der Grube, sodass sich Ren die Beine aufriss. Die Spitzen waren so teuflisch angebracht, dass sie sich ihm in den Körper bohren würden, sollte er versuchen, sich hochzuziehen. Einmal in einer Venusfalle gefangen, war es fast unmöglich, das Opfer zu befreien, ohne seinen Tod billigend in Kauf zu nehmen.

Kishan schritt nervös um die Grube und suchte nach einem Weg, Ren zu retten. Er versuchte, die Metallspitzen mit der Pfote aus der Erde zu ziehen, wäre jedoch fast auf den glatten Streben ausgerutscht und zu Ren in die Falle gestürzt. Nach zehn Minuten fruchtloser Bemühungen, gab Kishan auf. Ren knurrte leise und begann, seinen Körper aus der Grube zu ziehen. Die Spitzen bohrten sich ihm tief in die Flanke und die Beine, doch trotz des überwältigenden Schmerzes krallte er sich mit den Pfoten in die Erde, und schob sich Zentimeter um qualvollen Zentimeter hoch. Kishan saß wie gebannt da und beobachtete Rens Fortschritte.

Schließlich hatte Ren es geschafft und lag schwer keuchend auf dem Dschungelboden. Der gesamte hintere Teil seines Körpers war eine einzige blutige Masse. Lange, tiefe Furchen übersäten seinen unteren Rücken bis hinab zu seinen Pfoten. Die Tiger ruhten sich eine Stunde aus, was Rens Wunden zumindest teilweise heilen ließ, bevor sie wieder aufbrachen. Bei Sonnenuntergang fanden sie einen sicheren Ort um zu schlafen und legten sich nebeneinander hin. Abwechselnd hielten sie Wache. Ich sah, wie ihre schläfrigen Augen blinzelten.

In meinem Zimmer gab es weder Kerzen noch eine Lampe, aber das versprochene Essen war irgendwie auf das Fensterbrett gelangt. Hungrig brach ich ein Stück Brot ab und nippte an der Wasserflasche. Ich hob den Apfel für später auf, biss aber gleich in den Käse und sank dann ins Bett, von wo aus ich meine Tiger weiter beobachtete. Nachdem ich den Aufenthaltsort des Drachen herausgefunden hatte und erleichtert feststellte, dass er immer noch auf der anderen Seite der Insel nach ihnen suchte, entspannte ich mich ein wenig und nickte vor Erschöpfung ein.

Ich erwachte von dem Geräusch eines Gewehrschusses und dem Keuchen und Rascheln zwischen Bäumen. Erschrocken fuhr ich hoch und war einen Moment verwirrt, bevor ich mich erinnerte, wo ich mich befand.

»Spiegel, zoom heran. Finde den Drachen.«

Lüsèlóng war mitten in der Nacht auf die Blutspur gestoßen und stand genau an der Stelle, an der Ren und Kishan geschlafen hatten. Während er sich bedächtig im Kreis drehte, strich er über ein eingerissenes Blatt. Er machte ein paar Schritte und ging dann in die Hocke, um mit dem Finger den Abdruck einer Tigerpfote nachzufahren. Dann hob er etwas Erde auf und roch daran, klopfte seine Hände aus, lächelte und hastete zwischen den Bäumen hindurch. Mit einem Mal blieb er stehen und befühlte einen Farn. Frisches Blut klebte daran.

Von Panik erfüllt rief ich: »Spiegel, zeig mir meine Tiger.«

Das Bild zog sich zurück und spulte eine halbe Meile weiter, wo es auf Ren und Kishan zoomte. Sie waren auf der Flucht. An Kishans Seite, wo ihn eine Kugel gestreift haben musste, war eine klaffende Wunde zu sehen. Sie liefen eine halbe Stunde und brachten so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Jäger. Dann drosselten sie ihr Tempo und ließen sich keuchend auf den Boden fallen.

Als der Morgen allmählich in den Nachmittag überging, rang ich die Hände und sagte: »Bitte bleibt gesund. Bitte passt auf euch auf. Ich bin hier, jenseits des Wassers. Ich bin auf einer anderen Insel.«

Ren hob den Kopf, als könnte er mich hören, und seine Ohren zuckten vor und zurück. Ich beugte mich vor und wiederholte mein Flehen, aber da sprang er jäh auf und griff etwas an, das ich nicht sehen konnte. Ein erschrockenes Kreischen verstummte mit einem Mal, und kurz darauf kehrte Ren aus dem Busch mit einem Tier im Maul zurück. Er ließ einen kleinen Eber auf die Erde fallen, und er und Kishan machten sich genüsslich darüber her.

Ich schätzte ihre Mahlzeit auf ungefähr fünfzig Pfund – ein bloßer Snack im Vergleich zu der Energie, die sie bei der Jagd verbrauchten. Sie mussten immer noch am Verhungern sein. Ein paar Stunden später wurde meine Vermutung bestätigt. Sie waren auf eine weitere Falle gestoßen, über der ein großes Stück Rehkeule hing.

Beide Tiger umkreisten die nicht zu übersehende Grube, starrten gierig zu dem Fleisch hinauf und leckten sich die Lippen. Kishan sprang über die Falle und versetzte dabei dem Fleisch mit der Tatze einen Schlag, sodass es heftig vor- und zurückschaukelte. Währenddessen hatte Ren begonnen, an dem Seil zu nagen, mit dem das Wild am Baum befestigt war. Dann setzte er die Klauen ein, um den Strick vollends zu durchtrennen. Kishan gesellte sich zu ihm und half seinem Bruder mit Zähnen und Krallen, bis das Seil durchgescheuert war und das schwere Stück Fleisch mit einem dumpfen Knall in der Grube landete.

Die Tiger spähten über den Rand, und Kishan kauerte sich hin, um die Pfote versuchsweise an der Seite hinabgleiten zu lassen und nach Halt zu suchen. Er streckte sich noch ein kleines Stücken tiefer und ließ sich schließlich zu dem Fleisch fallen. Geschickt grub er die Zähne ins Fleisch, stellte sich auf die Hinterbeine und reckte den Hals, damit Ren es erwischen konnte. Ren schlug wild mit der Pfote und bekam das Seil zu fassen. Dann zerrte er es hoch, bis er die spitzen Zähne fest in die Keule schlagen konnte. Nachdem er ihre Beute auf den Erdboden gelegt hatte, lehnte er sich über den Rand, um zu Kishan hinabzusehen.

Kishan wich so weit wie möglich zurück, dann lief er los und machte einen gewaltigen Satz. Seine Klauen bohrten sich in den Rand der Grube, aber er rutschte wieder zurück. Nach drei weiteren gescheiterten Versuchen schob ihm Ren mit dem Kopf einen entwurzelten Baumstamm ins Loch, und Kishan krallte sich vorsichtig einen Weg hinauf. Beinahe schon am Ziel angelangt, rutschte er ab und wäre fast gefallen, da streckte sich Ren nach ihm aus, packte mit den Zähnen seine Halskrause und gab ihm Halt, bis er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte.

Nachdem sie gegessen hatten, trotteten sie bis Sonnenuntergang weiter. Schon bald erreichten sie den Strand an der Westseite der Insel und folgten dem Ufer eine Zeit lang. Fieberhaft suchten sie nach der Hecke, doch ich wusste, dass sie sie nicht finden würden.

Als sie sich zum Schlafen niederlegten, übernahm Ren die erste Wache. Ich zoomte mit dem Spiegel nah an sein Gesicht heran. Seine blauen Augen starrten geradeaus, als würden sie mich beobachten. Er seufzte schwer, und seine rosafarbene Nase zuckte nervös. Ich betrachtete ihn, bis mir die Augen vor bleierner Müdigkeit zufielen.

Der frühe Morgen des dritten Tages bescherte mir einen weiteren heißen Laib dunklen Brots und eine große Schale Eintopf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und während ich aß, setzte ich mich vor den Spiegel, um den Fortschritt der Jagd zu beobachten. Die Tiger liefen den Strand entlang und nutzten den Vorteil der Dunkelheit aus, um sich unter freiem Himmel zu bewegen. Ich suchte nach dem Jäger, der gerade neben einem niedergebrannten Feuer erwachte. Er hielt eine Tasse in Händen und blickte sich verstohlen erst zur einen, dann zur anderen Seite um, und wärmte mit etwas Feuer sein Getränk auf.

»Betrug!«, rief ich dem Spiegel entgegen. »Du hast die Regeln gebrochen!«

Der Drache blickte auf und grinste. Ich hörte Gelächter und dann seine Stimme in meinem Kopf. Es ist nur ein warmes Getränk, meine Liebe. Die Regel schreibt lediglich vor, ich darf meine Kräfte nicht für die Jagd einsetzen. Und in diesem Moment jage ich nicht, also zählt es nicht.

Ich schnaubte verächtlich und beobachtete, wie er sein Getränk leerte und sein Gewehr schulterte. Den ganzen Tag über folgte er der Fährte der Tiger, und er war gut darin. Kein einziges Mal übersah er einen geknickten Grashalm oder einen Abdruck im Boden, egal wie unscheinbar er war. Leider spülte das Meer die Spuren der Tiger am Strand nicht fort, was es dem Drachen leichtmachte, ihnen zu folgen. Als er wieder in den Dschungel eintauchte, hielt er unvermittelt inne, und wir hörten beide das mehrstimmige Brüllen kämpfender Raubkatzen. Er schlug ein schnelleres Tempo an. Ich bat den Spiegel, sich zu beeilen und mir die Tiger zu zeigen.

Zuerst erkannte ich nicht, was ich vor mir hatte. Es war die Nahaufnahme pelziger Tiere, die auf der Erde umherrollten und mit den Klauen zuschlugen. Als ich den Spiegel endlich dazu bewegen konnte, weiter wegzuzoomen, sog ich scharf die Luft ein, und ein Schauder rann mir den Rücken hinab. Ren und Kishan lieferten sich einen blutigen Kampf mit einer großen Gruppe Jaguare. Ren hatte mir erzählt, dass Raubkatzen – abgesehen von Löwen – normalerweise nicht in Rudeln auf die Jagd gingen, weshalb ich überrascht war, so viele auf einem Haufen zu sehen. Einer der Jaguare lag tot am Boden. Ren und Kishan standen Hinterteil an Hinterteil da und knurrten das Rudel an, das einen immer enger werdenden Kreis um sie zog.

Ich zählte weitere sechs Jaguare, aber es hätten auch mehr sein können. Es war schwer zu sagen, weil sie keine Sekunde stillhielten. Die Art, wie sie sich bewegten, war unheimlich. Wie ein einziges Tier schlichen sie hin und her, kesselten die Tiger ein. Ihre Augen waren fest auf ihre Beute geheftet. Einer der Jaguare schoss vor und versetzte Kishan mit der Klaue einen Hieb ins Gesicht. Er schlug zurück, verfehlte jedoch die leichtere, wendigere Raubkatze, die geschmeidig zurückgewichen war. Zwei Jaguare sprangen auf Ren zu, einer von jeder Seite. Dem einen biss Ren ins Bein, und er hinkte gepeinigt von dannen, doch der andere landete mit ausgefahrenen Krallen genau auf seinem Rücken. Er jagt Ren die scharfen Zähne in den Hals und verbiss sich in ihm. Kishan drehte sich um und schleuderte die Raubkatze fort, aber zwei andere stürzten sich nun ihrerseits auf Kishan.

Ren biss einer in die Kehle und schüttelte sie wild. Ihr Genick brach, und er schubste sie achtlos zu Boden. Die Brüder bissen um sich und kratzten verzweifelt, bis die gefleckten Raubkatzen den Rückzug antraten und sich neu formierten. Ren und Kishan versuchten, sich aus dem Staub zu machen, aber die Jaguare schnitten ihnen den Weg ab.

Die Jaguare müssen sehr hungrig sein, kam es mir in den Sinn, denn sie schienen die Tiger zu einem dichten Gestrüpp zu treiben.

Dort umzingelten sie sie wieder und schlichen um sie herum. Ein Jaguar fauchte und schoss in den Kreis, machte dann jedoch einen hastigen Satz zurück, bevor die Tiger ihn erreichten. Ein weiterer tat es ihm gleich. Sie schienen mit den Tigern zu spielen. Einen Augenblick später sprangen zwei Raubkatzen von einem der hohen Bäume auf Rens und Kishans Rücken und verbissen sich in sie. Ren blutete aus der Brust und drehte sich wie wild, um den Jaguar abzuschütteln, doch der rührte sich nicht vom Fleck.

Die anderen Jaguare stürzten sich nun ins Getümmel und begannen zu beißen. Einer traf Kishan an der Wange, ein anderer packte ihn am Hinterbein. Ren erging es keinen Deut besser. Die Tiger keuchten vor Anstrengung, und trotz ihrer unglaublichen Heilkräfte machte ich mir Sorgen. Die Jaguare könnten ganze Stücke aus ihnen herausreißen. Wie sollten sie sich davon erholen? Ren brüllte, stellte sich auf die Hinterbeine und knallte seinen Rücken gegen einen Baumstamm. Der Jaguar fiel leblos herunter. Augenblicklich griff Ren die Raubkatze auf Kishans Rücken an. Da hallte ein Schuss durch den Dschungel.

Der Drache hatte sie eingeholt. Ein Jaguar sackte tot vor Kishans Vorderpfote zusammen. In Windeseile verschwanden die Jaguare wie Schatten in dem sattgrünen Unterholz, während Ren und Kishan jede Kraftreserve für die Flucht aufboten. Immer und immer wieder dröhnten Schüsse im Dschungel, während der Jäger die Tiger verfolgte. Eine Kugel streifte Ren am Kopf, und ich hörte seinen Schmerzensschrei. Er schüttelte sich das Blut aus den Augen und lief weiter. Eine weitere grub sich in Kishans Schulter. Er brüllte verärgert und taumelte, ließ sich jedoch nicht beirren und humpelte Ren tapfer nach.

Dann entschieden sie, in die Offensive zu gehen. Ren machte einen Satz auf einen großen Felsblock und sprang weiter in das Geäst eines hohen Baums. Kishan übertrieb sein Hinken, damit Lüsèlóng aufholen konnte. Der Jäger folgte Kishans Spur, hielt aber kurz inne, als Ren sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben schien. Er ging auf und ab, begann dann Kishans Fährte zu folgen und kehrte schließlich zu der Stelle zurück, wo er Ren zuletzt gesehen hatte. Er blieb stehen und suchte die Büsche ringsum sorgsam mit den Augen ab. Ein nasser Tropfen fiel auf seine Wange. Er berührte ihn und besah sich den Finger. Blut.

Er riss die Augen auf und blickte hoch, aber da war es auch schon zu spät. Der fünfhundert Pfund schwere weiße Tiger war vom Baum gesprungen, mit aufgerissenem Maul und ausgefahrenen Krallen, genau auf die Kehle des Drachen zu. Hinter ihm hechtete der schwarze Tiger auf den Drachenmann zu. Der Jäger sog scharf die Luft ein, und alles um ihn herum erstarrte. Dann trat er bedächtig aus der Reichweite der Tiger, die ausgestreckt in der Luft hingen, weniger als einen halben Meter davon entfernt, den Jäger zu zermalmen.

»Das ist Betrug!«, schrie ich. »Sie hatten dich!«

Lüsèlóng ignorierte mich und schlich neugierig um die beiden Tiger herum. »Meinen Glückwunsch. Niemand hat es bisher so weit geschafft.«

»Lüsèlóng! Du brichst die Regeln!«

Der Drache lachte und sagte in meinem Kopf: Das hat nicht gezählt. Mein Gewehr war geschultert.

Zornentbrannt hämmerte ich mit den Fäusten auf den Spiegel ein, doch der Drache ging ein paar Schritte beiseite, zielte mit der Waffe und schnippte dann mit den Fingern. Die Tiger knallten gegeneinander und fielen zu Boden. Sie standen auf, schüttelten sich den Staub vom Fell, und der Jäger feuerte. Der Schuss traf nur Zentimeter von Rens Kopf entfernt in einen Baumstamm. Die beiden Tiger stoben auseinander und stürzten ins Unterholz.

Zum Glück stießen sie diesmal nicht auf Fallen. Schon bald waren die Gewehrsalven und das Lärmen der Verfolgungsjagd verstummt. Ren und Kishan ruhten sich nur kurz aus und hielten ihr ermüdendes Tempo viele Stunden aufrecht. Sie kamen zum Strand an der Ostseite der Insel und schritten auf und ab, suchten verzweifelt nach der Burg oder der Hecke.

»Nein. Nein. Sie ist nicht dort. Ich bin hier drüben, über dem Wasser!«, schrie ich dem Spiegel zu, doch ich wusste, dass sie mich nicht hören konnten. Als die Nacht erneut einbrach, wickelte ich mich in die Decke und setzte mich vor den Spiegel. Lüsèlóng machte immer noch Jagd auf sie, aber meine Tiger waren für den Moment sicher. Kishans Augen fielen zu, und kurz darauf, zu erschöpft, um Wache zu halten, schloss auch Ren die Augen. Eine lange Weile beobachtete ich sie, und dann ging ich zum Spiegel und fuhr den Umriss von Rens pelzigem weißem Ohr nach.

»Ihr werdet es nicht schaffen. Er wird euch jagen, bis ihr vor Erschöpfung umfallt. Der Drache betrügt, und es gibt nicht genug Nahrung, damit ihr zwei überleben könnt. Kannst du mich hören, Ren?« Ich schlug mit der Hand auf die Stelle des Spiegels, wo Rens Gesicht war. »Du wirst sterben, und mit wem soll ich mich dann streiten? Ich werde die Gefährtin eines Drachen auf einer Insel, die gar nicht existiert, und ihr werdet zu Drachenfutter.«

Eine Träne tropfte auf meine Wange, und ich berührte das Glas mit der Fingerspitze, als wollte ich das Fell über seinem Auge streicheln. »So sollte es nicht enden. Ich konnte mich nicht einmal von dir verabschieden. So viele Dinge blieben ungesagt.« Ich schniefte und spürte, wie mir unzählige Tränen das Gesicht herabliefen. »Bitte, bleibt am Leben. Findet mich. Ich bin genau hier.«

Ich legte die Hand auf mein Herz und spürte es schlagen. Ich spürte auch die Verbundenheit mit ihm, das Seil, das mein Herz an seines band. Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, spürte ich das gleichmäßige Pochen seines Herzens im Schlaf. Ich presste beide Handflächen auf den Spiegel, eine auf jede Seite seines Kopfes, und drückte die Stirn an das Glas, während ich weinte.

Meine Augen fühlten sich heiß an, mein Herz war schwer. Dann begann mein Herz zu brennen, und es erfüllte mich mit Wärme. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und blickte in den Spiegel. Ren war wach. Er hatte den Kopf von den Pfoten gehoben und starrte mich an, als könnte er mich sehen. Erschrocken stieß ich mich vom Spiegel weg und keuchte leise auf, als ich sah, dass meine beiden Hände glühten. Als ich sie vom Glas nahm, verblasste das rote Licht.

Ren knurrte sanft und weckte Kishan, bevor sie sich wieder aufrafften. Er kam am Strand direkt auf mich zu und machte ein paar Schritte ins Wasser. Dann starrte er hinaus in die dunklen Wellen. Es war neblig, und ich wusste, dass selbst er mit seinen Tigeraugen die Insel in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Er hob den Kopf, als würde er in die Luft schnuppern, und dann, mit einem einzigen mächtigen Satz, sprang er ins Wasser. Er begann zu schwimmen. Kishan, verunsichert über Rens Verhalten, rannte am Strand auf und ab, doch schließlich stürzte er sich ebenfalls in die Brandung und holte seinen Bruder ein.

Sie kamen. Ich riss die Hände an den Mund, schluchzte vor Erleichterung und redete ununterbrochen auf den Spiegel ein, sprach ihnen Mut zu, damit sie auf gar keinen Fall aufgaben. Erneut presste ich die Hände auf das Glas, aber sie leuchteten nicht wie zuvor. Ich versuchte, ein Leuchtfeuer zu entzünden, aber mein Blitz gehorchte mir nicht. Das Einzige, was ich tun konnte, war wach zu bleiben und ihnen beim Schwimmen im dunklen Gewässer zuzusehen, wobei ich all meine Kraft aufwandte, um sie vorwärtszutreiben.

Ich betete stumm und hoffte, es gab auf dem Weg kein finsteres Seeungeheuer. Keinen schrecklichen Sturm, der sie unter sich begrub. Sie schwammen und schwammen, und eine Stunde später zogen sie ihre erschöpften Körper auf meine Insel und ließen sich mit letzter Kraft in den Sand sinken. Die restliche Nacht schliefen sie, während ich schweigend über sie wachte.

Sie schliefen noch, als die Dämmerung einbrach. Ich sah, wie der Drache ihren Schlafplatz auf der anderen Insel fand und ihrer Spur zum Strand folgte. Mehrere Minuten starrte er zum Ozean, dann rieb er sich das Kinn und lächelte. Mit einem tiefen Atemzug explodierte er zu seiner ursprünglichen Gestalt und erhob sich in die Lüfte. Der Spiegel wurde schwarz.