22. KAPITEL
M it der ersten Frau, die Aeron für Paris gefunden hatte, hatte der Krieger schon mal geschlafen. Nicht dass Paris sie wiedererkannt hätte. Seine fehlende körperliche Reaktion hatte ihn verraten. Also war sie zurück in die Stadt gegangen. Seit Paris von seinem Dämon besessen war, war es nur einmal vorgekommen, dass er bei derselben Frau zweimal hart geworden war. Und zwar bei der Frau, die gestorben war und nicht wiedergeboren werden konnte. Meinetwegen.
Die zweite Frau, die Aeron für seinen Freund ausfindig gemacht hatte, war ebenfalls ein Nogo gewesen, und zwar aus demselben Grund. Die dritte war eine Touristin, neu in der Stadt, und ihr Weg hatte glücklicherweise noch nie den des Kriegers gekreuzt. Aeron hatte sie direkt aus ihrem Hotelzimmer entführt. Er hatte gewartet, bis sie geschlafen hatte, damit sein tätowiertes Gesicht und die unmenschlichen Flügel ihr keine Angst einjagten. Sie war neben Paris aufgewacht, und als sie in sein hübsches Gesicht gesehen hatte, war sie für den Ritt ihres Lebens auf ihn geklettert.
Heute flog Aeron seinen Freund in die Stadt. Mit dem Hin-und-herFliegen von Frauen war jetzt Schluss. Das war pure Zeitverschwendung, fand Aeron. Stattdessen konnte Paris sich jetzt eine Frau aussuchen, die er wollte, und Aeron konnte sie ihm schnell und effizient bringen. Die zwei könnten sich in Gillys Appartement vergnügen. Das war der sicherste Ort, den Aeron kannte. Denn Torin hatte das gesamte Gebäude wie ein Hochsicherheitsgefängnis verdrahtet, um Danikas Freundin zu beschützen. Aeron hatte es nicht gefallen, als sie aus der Burg ausgezogen war – sie war zu zerbrechlich und zu schreckhaft –, doch die Krieger hatten sie total verängstigt, und selbst mit der Zeit hatte sie sich nicht an sie gewöhnt. Aeron wollte Gilly in das Cafe auf der anderen Straßenseite einladen und ihr Gesellschaft leisten, während sie warteten.
Der perfekte Plan. Na ja, wenigstens für seine Verhältnisse.
Wenn Paris und die Harpyien sich doch nur verstanden hätten. Aber Promiskuität hatte nur einen einzigen Blick auf die schönen Frauen geworfen und sie dann als „zu viel Mühe kostend“ erachtet. Aeron glaubte, dieses Gefühl zu kennen. Er selbst hatte seit mehr als hundert Jahren keine Frau mehr gehabt, und er würde auch für die nächsten hundert keine haben. Wenn überhaupt jemals wieder. Es war so, wie er zu seiner süßen Legion gesagt hatte: Sie waren einfach zu schwach und zu leicht zu zerstören, während er höchstwahrscheinlich für immer und ewig leben würde.
Er war sich nicht sicher, ob er es überleben würde, noch jemandem, den er liebte, beim Sterben zuzusehen.
Apropos: War Legion in die Hölle zurückgekehrt? Schwebte sie in Gefahr? Sie war nur glücklich, wenn sie bei Aeron war, und er fühlte sich nur dann vollständig, wenn sie auf seinen Schultern hockte.
Der sogenannte Engel hatte ihn seit Tagen nicht mehr besucht. Hoffentlich war sie für alle Zeiten verschwunden, sodass Legion bald zurückkam.
Er lehnte sich nach links und wendete sanft. Rosafarbene und violette Streifen schmückten den Himmel während eines vollkommenen Sonnenuntergangs. Der Wind peitschte ihm über den Kopf – sein Haare waren zu kurz, als dass er sie hätte zerzausen können. Doch Paris verpasste ihm eine Ohrfeige nach der nächsten. Der Krieger hing an seiner Brust und hatte die Arme fest unter den Flügeln um seinen Rücken geschlungen.
Aeron flog tief und im Schatten, außer Sichtweite.
„Ich will das nicht machen“, protestierte Paris.
„Schade. Du brauchst es nämlich.“
„Bist du neuerdings mein Kuppler?“
„Wenn es sein muss. Sieh mal, du hast eine Frau gefunden, mit der du mehr als einmal ins Bett steigen konntest. Du findest bestimmt noch eine, mit der das klappt. Wir müssen nur nach ihr suchen.“
„Arschloch! Das ist, als würdest du einem Mann, dem der Arm abgehackt wurde, sagen, dass du ihm einfach den Arm eines anderen annähst. Aber es wird nicht dasselbe sein. Er wird weder die richtige Farbe haben noch die richtige Länge. Es wird niemals so perfekt sein wie mit dem anderen.“
„Dann werde ich Cronus darum bitten, Sienna zurückzubringen. Du hast gesagt, ihre Seele ist im Himmel, oder?“
„Ja“, antwortete Paris mürrisch. „Er wird Nein sagen. Er sagte, ich hätte die Wahl, und wenn ich sie nicht wählen würde, würde er dafür sorgen, dass sie nie zur Erde zurückkehrt. Wahrscheinlich hat er sie schon längst getötet. Zum zweiten Mal.“
„Ich kann mich in den Himmel schleichen und nach ihr suchen.“
Lange schwieg Paris, fast so, als würde er diese Möglichkeit tatsächlich in Erwägung ziehen. „Man könnte dich einfangen und einsperren. Dann wäre mein Opfer umsonst. Also …vergiss Sienna einfach.“
Das Problem war nur, dass Aeron sie nicht vergessen konnte, ehe Paris es tat. Er musste es sich noch einmal reiflich überlegen, um dann zu entscheiden, wie er weiter vorging. Jetzt wusste er nur eines: Er wollte seinen Freund zurück. Den lachenden, sorglosen Krieger, der für jeden ein Lächeln parat hatte.
„In der Stadt ist heute ganz schön viel los“, sagte er in der Hoffnung, zu einem unverfänglicheren Thema zu kommen.
„Ja.“
„Was da wohl los ist?“ In der Sekunde, als er die Frage aussprach, verspürte er einen Stich der Furcht. Das letzte Mal, als so viel los gewesen war, waren die Jäger in die Stadt eingefallen. Aeron sah sich die Leute unter ihnen genauer an und suchte nach dem verräterischen Zeichen der Jäger: einem am Handgelenk eintätowierten Unendlichkeitszeichen. Doch die Leute trugen Uhren oder langärmlige Hemden, er konnte die Handgelenke nicht sehen. Auch wenn die Jäger stolz auf ihre Zeichen waren – es war gut möglich, dass sie angefangen hatten, sie zu verstecken oder sich an intimeren Körperstellen zu markieren. Das wäre nur klug von ihnen. „Tut mir leid, aber wir müssen zur Burg zurück.“
„Gut.“
Aeron war bereits schwer bewaffnet, und allein zu kämpfen machte ihm nichts aus, doch jetzt hatte er Paris bei sich. Paris, dem von den großen Mengen Ambrosia immer noch der Schädel brummte und der eher eine Behinderung wäre als eine Hilfe.
„Warte. Stopp!“ Paris’ Körper verkrampfte sich, und in seinem Tonfall schwangen Ungläubigkeit, Hoffnung und Verwunderung mit.
„Was ist?“
„Ich glaube, ich habe … sie gesehen … Sienna.“ Er sprach ihren Namen wie ein Gebet aus.
„Wie ist das möglich?“ Aeron suchte mit Blicken den Boden ab. Dort waren so viele Gesichter, und er bewegte sich so schnell, dass er sie nicht klar erkennen konnte. Aber wenn Paris Sienna tatsächlich gesehen hatte, wenn sie tatsächlich irgendwie wieder zum Leben erweckt worden war, hieß das, dass die Jäger definitiv hier waren. „Wo?“
„Zurück. Flieg zurück. Sie ist Richtung Süden gelaufen.“ Paris klang so aufgeregt, dass Aeron nicht widerstehen konnte.
Trotz der großen Gefahr wendete er. Er wollte eine Warnung aussprechen – Mach dir nicht zu große Hoffnungen –, brachte es jedoch nicht fertig. Es waren schon merkwürdigere Dinge geschehen.
Auf einmal zuckte Paris zusammen und stöhnte. „Geh in Deckung. Sofort!“
Aeron spürte, wie ihm etwas Warmes, Feuchtes über den Arm lief, mit dem er Paris an der Taille festhielt. Dann durchstachen unzählige Pfeile seine Flügel und zerrissen die Membran. Als Nächstes waren seine Arme und Beine dran. Die Muskeln zerrissen, die Knochen zerbrachen. Als er vor Schmerzen zusammenzuckte, dämmerte es ihm. Die Jäger waren wirklich hier, und sie hatten ihn entdeckt. Auf so eine Gelegenheit hatten sie vermutlich nur gewartet.
Meine Schuld, dachte er. Schon wieder. Und dann fiel er … und fiel … krümmte und drehte sich. Schlug auf dem Boden auf.
Torin lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Füße auf den Tisch gelegt. Seit Tagen saß er nun schon hier fest und hatte das Zimmer kaum noch verlassen, um zu essen, zu duschen oder, Teufel noch eins, zu leben. Cameo hatte ihn seit dem Abend ihrer Rückkehr nicht mehr besucht, und vielleicht war es auch besser so. Er konnte sich nicht konzentrieren, wenn sie in seiner Nähe war, und auf seiner Agenda standen mehr Tagesordnungspunkte als je zuvor.
Er sorgte dafür, dass die Krieger genügend Geld hatten, indem er mit Wertpapieren und Anleihen spekulierte. Er überwachte die Umgebung zum Schutz vor Eindringlingen. Er traf sämtliche Reisevorbereitungen. Er recherchierte Anhaltspunkte für den Standort der Büchse der Pandora, der Artefakte oder der Jäger. Er durchforstete sogar Nachrichtenseiten nach Meldungen über die Sichtung eines Mannes mit Flügeln. Alias Galen. Soweit Torin wusste, waren Galen und Aeron die einzigen Krieger, die fliegen konnten.
Torin störte sich nicht an den vielen Aufgaben, weil er schlichtweg die Zeit dafür hatte. Denn er verließ die Burg ja nie. Das Risiko, die gesamte Weltbevölkerung auszulöschen, war viel zu groß. Wie dramatisch, dachte er trocken. Aber wahr. Er brauchte einen anderen nur mit bloßer Haut zu berühren, und schon löste er eine Plage aus. Die letzte hatte er – dank der Jäger – hier in Buda ausgelöst. Aber wenigstens hatten die Ärzte sie eindämmen können, ehe zu viel Schaden angerichtet worden war.
Wie sehr er sich doch danach sehnte, Cameo zu berühren. Dafür hätte er alles gegeben. Er rief sie sich in Erinnerung. Klein, schlank, langes dunkles Haar, traurige graue Augen.
Er ertappte sich dabei, wie er sich wohl zum tausendsten Mal an diesem Tag fragte, ob er sie immer noch wollen würde, wenn er sich die Frauen aussuchen könnte. Ob er sie immer noch wollen würde, wenn er jeden berühren könnte, den er berühren wollte. Wenn er jederzeit in die Stadt gehen könnte. Als Mann würde er sie noch wollen, ja. Sie war hübsch, klug und witzig, wenn man ihre selbstmörderische Stimme ausblenden konnte. Aber was Festes? Er wusste es nicht. Weil … Sein Blick schweifte zu dem linken Monitor.
Gelegentlich erhaschte er einen Blick auf eine schöne Frau, die durch die Stadt ging. Langes schwarzes Haar, exotische Augen, die in einer Sekunde strahlten und in der nächsten glasig wirkten. Sie blieb stehen, lächelte, zog die Augenbrauen hoch und ging dann weiter. Wenn der Wind sie streichelte und ihr Haar zerzauste, sah Torin eine Andeutung von … spitzen Ohren? Beim Anblick dieser Ohren wurde er hart wie ein Fels, und er verspürte den seltsamen Drang, daran zu lecken.
Sie trug ein T-Shirt, auf dem „Nixie’s IAD House O’Fun“ stand. In ihren Ohren steckten Hörstöpsel. Wer war „Nixie“? Eine kurze Suche bei Google lieferte ihm die Antwort: Es – sie? – war irgendeine „Immortal After Dark“, eine Unsterbliche, wenn die Dunkelheit einbrach. Interessant. Weil er nichts lieber getan hätte, als ihren Körper nach Einbruch der Dunkelheit zu erkunden.
Was für Musik sie wohl hörte? Dem flotten Nicken nach zu urteilen, war es etwas Schnelles und Hartes. Woher war sie gekommen? Was war sie? Ich wette, sie ist köstlich …
Es war die Gier nach der fremden Frau, die ihn erschüttert und ihm all diese Fragen über Cameo beschert hatte. Wenn er eine andere begehren konnte, war er nicht in Cameo verliebt. Und wenn er nicht in sie verliebt war, war es dann nicht grausam von ihm, mit ihr rumzumachen? Würde er sie am Ende noch verletzen? Oder sich selbst?
Er könnte sie niemals anfassen. Und leidenschaftlich, wie sie war, brauchte sie irgendwann einen Mann, der es konnte. Bisher hatte er sich noch nie solche Gedanken machen müssen, weil er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war. Auch nicht vor den dämonischen Zeiten. Damals war er viel zu beschäftigt, in seinem Job viel zu eingespannt gewesen. Vielleicht muss ich den Anonymen Workaholics beitreten, dachte er zynisch. Bestimmt bin ich die einzige jahrtausendealte Jungfrau der Geschichte.
Einer seiner Bildschirme flackerte auf, und er sah sich das Bild darauf genauer an. Nichts Außergewöhnliches. Und auch kein Zeichen von seiner spitzohrigen Brünetten. Torin kam noch eine Frage in den Sinn: Wenn Cameo nicht so viel Angst davor hätte, dass ihr Dämon unsägliches Leid über einen Menschen brachte, hätte sie sich dann einen anderen Mann zum Spielen ausgesucht?
Bei dem Gedanken an sie und einen anderen Mann wallte keine Eifersucht in ihm auf, so wie es bei einem verliebten Mann eigentlich sein sollte. Okay, noch eine Bestätigung. Sosehr er sie auch anbetete, so stark sein sexuelles Verlangen nach ihr auch war, so wenig er ihr auch widerstehen konnte, wenn sie sein Zimmer betrat – unter anderen Umständen hätte er sie nicht ausgewählt.
Verdammt. Was für ein Mistkerl er doch war!
Zu seiner Rechten blitzte azurblaues Licht auf. Torin drehte den Kopf in die Richtung. Sein Magen wurde steinhart vor Angst. Cronus.
Und tatsächlich: Als das Licht verblasste, stand der Götterkönig mitten in Torins Schlafzimmer. „Hallo, Krankheit“, sagte die kaiserliche Stimme. Eine weiße Robe lag um eine von Cronus’ scheinbar zerbrechlichen Schultern drapiert und reichte fließend bis zu seinen Knöcheln. An den Füßen trug er Ledersandalen. Was Torin jedes Mal unangenehm ins Auge stach, war die krallenartige Krümmung der Fußnägel des Unsterblichen. Sie passten einfach nicht zu dem altertümlich vornehmen Mann.
„Eure Hoheit.“ Torin stand nicht auf, da er wusste, dass Cronus es erwartete. Dieser Gott hatte schon viel zu viel Macht über ihn und seine Freunde. Torin wollte so viel behalten wie möglich. Selbst wenn es sich um eine Kleinigkeit wie diese handelte.
„Hast du nach den besessenen Gefangenen gesucht, so wie ich es dir befohlen habe?“
Torin sah ihn eingehender an. Irgendetwas an dem Gott war anders. Vielleicht sah er … jünger aus. Sein silberner Bart war nicht so dicht wie sonst, und unter seinen weißen Haaren entdeckte Torin blonde Strähnen. Wenn der himmlische Herrscher sich Botox hatte spritzen und Strähnchen hatte färben lassen, hätte er eigentlich auch Zeit für eine Pediküre haben sollen.
„Nun?“
Moment. Was wollte Cronus wissen? Ach ja. „Einige der Krieger haben nach ihnen gesucht, ja.“
Der Wangenmuskel des Königs zuckte. „Das reicht nicht. Ich will, dass ihr die anderen besessenen Männer und Frauen so schnell wie möglich findet.“
Tja, und Torin wollte die Haut einer Frau berühren, ohne sie umzubringen oder – im Falle einer Unsterblichen – ihre ewige Existenz zu ruinieren. Es bekam halt nicht jeder, was er wollte. „Wir stecken derzeit bis zum Hals in Arbeit.“
Silberfarbene Augen starrten ihn böse an. „Dann verschiebt alles andere.“
Als wenn das so einfach wäre. „Es wäre ja kein Problem, wenn ich alle Zeit der Welt hätte. Einige Namen sind von der Liste gestrichen worden, ich kann sie also unmöglich alle finden.“
Schweigen. Dann: „Ich habe sie gestrichen. Diese Namen brauchst du nicht.“
Aha. „Wieso nicht?“
„So viele Fragen, Dämon. Und so wenige Taten. Finde die Besessenen, sonst bekommst du meinen Zorn zu spüren. Das ist alles, was du wissen musst. Ich bitte dich nicht um das Unmögliche. Ich habe dir die Namen gegeben, die du benötigst. Nun musst du nur noch die Personen dazu finden. Du kannst sie an den Schmetterlingstattoos auf ihren Körpern erkennen.“ Am Ende war sein Tonfall trocken geworden. Geradezu … amüsiert.
Auch das war nicht so einfach. „Warum überhaupt Schmetterlingstattoos?“, murmelte Torin in vollem Bewusstsein darüber, dass eine Diskussion nur Schaden anrichten würde. Niemand war sturer als Cronus. Doch er wusste auch, dass Cronus auf ihn angewiesen war, wenn er Galen finden und in Schach halten wollte. Was er nicht wusste – was niemand wusste –, war, wieso der Götterkönig das nicht selbst konnte. Cronus war nämlich nicht gerade mitteilsam.
„Aus vielerlei Gründen.“
„Ich verschiebe meine Arbeit wie befohlen, also habe ich genug Zeit, um mir jeden einzelnen dieser Gründe anzuhören.
Cronus biss die Zähne fest aufeinander. „Wie ich sehe, hält sich da jemand für nützlicher, als er in Wirklichkeit ist.“
„Ich bitte um Verzeihung“, erwiderte er zähneknirschend. „Ich bin kleiner als klein, ein Nichts, unbrauchbar, nutzlos.“
Cronus neigte anerkennend den Kopf. „Da mein Haustier so schnell gelernt hat, wo es hingehört, werde ich ihm eine Belohnung geben. Du möchtest mehr über die Schmetterlinge erfahren? Über die Schmetterlinge, die meine Kinder, die Griechen, euch geschenkt haben?“
Torin nickte steif. Er wagte nicht zu sprechen, um den Gott nicht aus seiner gönnerhaften Stimmung zu reißen.
„Vor deiner Besessenheit warst du eingeschränkt in dem, was du tun und wohin du gehen konntest. Gefangen in einem Kokon, könnte man sagen. Sieh dich jetzt an.“ Er wies mit einer ausschweifenden Geste auf Torins Körper. „Du hast dich in etwas Dunkles, aber Schönes verwandelt. Deshalb habe ich die Kennzeichnung gewählt. Meine Kinder, na ja …“ Er öffnete den Mund, um fortzufahren, hielt dann jedoch inne und drehte den Kopf zur Seite. „Da kommt noch ein Besucher. Wenn ich dich das nächste Mal besuche, Krankheit, erwarte ich Ergebnisse. Sonst wirst du mich nicht so nachsichtig erleben.“
Im nächsten Augenblick war der Gott verschwunden, und es klopfte an der Tür.
Torin schaute auf den Monitor zu seiner Linken. Cameo winkte ihm zu, als hätte er sie durch seine Grübeleien herbeigerufen. Er wollte nicht länger an Cronus oder dessen Warnungen denken. Er hatte vor, dem König zu helfen, allerdings würde er nicht tatsächlich wie ein Haustier springen, wenn dieser Bastard es ihm befahl.
Nach dem Anblick der leckenswürdigen Ohren war er immer noch körperlich erregt und bereit, als er auf den Türöffner drückte. Cameo kam in einer fließenden Bewegung herein und schloss die Tür hinter sich mit einem entschlossenen Klicken. Torin wirbelte mit seinem Stuhl herum und betrachtete sie mit der jüngst erlangten Einsicht. Ihr Gesicht war gerötet, hübsch, und ein spannungsgeladenes Summen ging von ihr aus. Aber das war auch alles. Spannung. Der Drang nach Erlösung.
Nein, sie hätte ihn ebenfalls nicht ausgewählt.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“, fragte er, während er mit den Händen über seine Mitte fuhr.
Sie kam mit wiegendem Hüftschwung auf ihn zu, und ihre Lippen bildeten ein Lächeln. „In Ordnung.“ Wahrscheinlich hatte sie versucht, heiser und sexy zu klingen, doch ihr tragischer Tonfall schaffte nicht mehr als ein Vielleicht-bringe-ich-mich-doch-nicht-um.
„Warum ich? Du könntest doch jeden hier haben.“ Sie blieb abrupt stehen. Dann verschwand ihr Lächeln. Sie runzelte die Stirn, während sie sich in gebührendem Abstand auf die Schreibtischecke setzte und die Beine baumeln ließ. „Willst du wirklich darüber sprechen?“
„Ja.“
„Es wird aber nicht angenehm sein.“
„Was ist heutzutage schon angenehm?“
„Also gut. Du verstehst mich, meinen Dämon. Meinen Fluch.“
„Genauso wie die anderen.“
Sie knetete vor Unbehagen ihre Finger. „Ich muss dich noch mal fragen, ob du dieses Gespräch wirklich führen willst. Vor allem, weil wir auch etwas anderes machen könnten …“
Wollte er? Womöglich veränderte es das, was zwischen ihnen war. Vergnügen für sie beide. Vergnügen, das er woanders nicht bekäme. „Ja, das will ich.“
Idiot. Aber jedes Mal, wenn er Maddox und Ashlyn sah, Lucien und Anya, Reyes und Danika und jetzt auch noch Sabin und die Harpyie, wollte er auch so etwas haben.
Auch wenn das niemals möglich wäre. Einmal hatte er es schon versucht, vor ungefähr vierhundert Jahren. Er hatte seine Handschuhe ausgezogen und das Gesicht seiner vermeintlichen Geliebten gestreichelt – und ihr am nächsten Tag beim Sterben zusehen müssen; er hatte ihren Körper ansehen müssen, der von der Krankheit, mit der er sie infiziert hatte, vollkommen gezeichnet gewesen war.
Das könnte er nicht noch einmal aushalten.
Seitdem hatte er sich bewusst von allen Frauen ferngehalten. Bis Cameo gekommen war. Sie war die erste Frau, die er seit unzähligen Jahren angesehen hatte – richtig angesehen hatte.
Sie wandte den Blick ab. „Du bist hier. Du verlässt die Burg nie. Du läufst nicht Gefahr, in einer Schlacht zu sterben. Der Mann, den ich geliebt habe, ist mir weggenommen, von meinem Feind gefoltert und zerstückelt an mich zurückgeschickt worden. Über so was muss ich mir bei dir keine Gedanken machen. Und außerdem mag ich dich. Wirklich.“
Aber sie liebte ihn nicht, und das Potenzial für Liebe, für die ewige Ohne-dich-würde-ich-sterben-Liebe, war ohnehin nicht vorhanden.
Und passte das nicht perfekt zu seinem Leben?
„Heißt das … du willst damit aufhören?“, fragte sie leise.
Er blickte wieder auf den Monitor. Keine Spur von seinem spitzohrigen Schätzchen. „Heißt mein Dämon vielleicht Dummheit}“
Sie musste lachen, und das vertrieb ihre Traurigkeit. „Gut. Dann machen wir also weiter wie bisher. Stimmt’s?“
„Stimmt. Aber was passiert, wenn du einem Mann begegnest, den du lieben könntest?“
Sie biss sich auf die Unterlippe und zuckte die Schultern. „Dann hören wir auf.“ Sie verzichtete darauf, ihm die gleiche Frage zu stellen – natürlich mit „Frau“ statt „Mann“. Sie beide wussten, dass er niemals eine Frau treffen würde, die mit ihm leben könnte.
Einer seiner Computer piepte und zog Torins Aufmerksamkeit auf sich. Er straffte die Schultern und suchte mit seinem Blick, bis er den richtigen gefunden hatte. Er pfiff zwischen den Zähnen hindurch. „Heilige Hölle, ich hab’s geschafft!“
„Was?“, fragte Cameo.
„Ich habe Galen gefunden. Und, scheiße, du glaubst ja nicht, wo er ist.“
„Du wirst mich nicht verlassen“, sagte Sabin zu Gwen.
Daraufhin entgegneten zwei ihrer Schwestern: „Du nimmst sie mir nicht weg.“
Sie hatten die letzte Stunde damit verbracht, ihre – und einige von seinen – Sachen zu packen, und standen nun in der Eingangshalle der Burg.
Eigentlich waren sie aufbruchbereit, aber Gwen fiel immer wieder irgendetwas ein, das sie unbedingt noch aus ihrem Zimmer holen musste.
Er wusste, dass die Harpyien sie wegbringen wollten, für jetzt und alle Zeit. Sie hatten in seinem Beisein darüber gesprochen, dass sie ihn nicht mehr in Gwens Nähe sehen wollten. Sie fanden, dass sie zu viele Regeln brach und zu weich wurde – und das für einen Mann, der nie bereit wäre, sie in seiner Prioritätenliste an erste Stelle zu setzen. Außerdem gefiel es ihnen nicht, dass er im Freien mit ihr geschlafen hatte, wo sich jeder, selbst ein Feind, hätte anschleichen können.
Sie mochten ihn und schätzten, was er getan hatte, um Gwen abzuhärten – das hatten sie widerwillig zugegeben. Dennoch war er in ihren Augen zu schlecht für sie. Und damit meinten sie nicht die gute Art von schlecht.
Als er sie reden hörte und sich vorstellte, ohne Gwen zu sein, bekam er stechende Kopfschmerzen. Er konnte nicht ohne sie sein. Und er würde es auch nicht. Er würde sie nicht an ihre Schwestern verlieren, und schon gar nicht in seinem gottverdammten Krieg. Er brauchte sie.
„Wir werden alles tun, wozu wir Lust haben“, sagte Bianka in einem Ton, der Sabin davor warnte, ihr noch einmal zu widersprechen. „Sobald Gwen ihr Was-auch-immeres-dieses-Mal-ist gefunden hat, sind wir weg.“
„Das werden wir ja noch sehen.“ Sein Handy piepste, er hatte eine SMS erhalten. Sabin zog die Augenbrauen hoch und nahm das Gerät aus seiner Hosentasche. Es war eine Mitteilung von Torin.
Galen in Buda. Mit einer Armee. Bereitet euch vor.
Im nächsten Moment kam Cameo die Stufen heruntergeeilt. „Hast du es schon gehört?“, fragte sie.
„Ja.“
„Was?“, wollten die Harpyien wissen. Obwohl sie abreisen wollten, fanden sie, sie wären berechtigt, über seine Angelegenheiten unterrichtet zu werden. Das nahm er jedenfalls an.
„Wahrscheinlich ist er nie weg gewesen“, fuhr Cameo fort, als hätten die Harpyien nichts gesagt. Sie blieb direkt vor Sabin stehen. „Er war vermutlich die ganze Zeit hier, hat gewartet, uns beobachtet und seine Armee neu aufgebaut. Und jetzt, da nur noch die Hälfte von uns hier ist …“
„Mist.“ Sabin rieb sich das Gesicht. „Es gäbe keinen besseren Zeitpunkt, um uns für die Geschehnisse in Ägypten zu bestrafen. Und nicht zu vergessen, dass er diese Frauen zurückhaben will.“ Inklusive Gwen.
„Ja. Torin alarmiert bereits die anderen“, meinte sie. „Wenigstens sind sie noch nicht auf dem Weg zu uns, aber sie versammeln sich gerade in der Stadt.“
„Was zum Teufel geht hier vor?“, wollte Bianka wissen.
„Die Jäger sind hier, und zwar kampfbereit“, informierte Sabin sie. „Ihr habt gesagt, ihr würdet mir helfen, sie zu besiegen. Tja, das ist die Gelegenheit.“ Aber zuerst musste er sich überlegen, wie er Gwen beschützte, während er – oder sie? – fort war. Wenn ihre Schwestern den Versuch wagten, sich mit ihr aus dem Staub zu machen, sobald er ihnen den Rücken kehrte …
In seiner Kehle stieg ein Knurren auf, das seinen Kehlkopf kitzelte.
Zugegeben – die Überlegung, einen starken, fähigen Krieger zurückzulassen, war ihm fremd. Es war sogar über alle Maßen lächerlich. Insbesondere weil er von Anfang an vorgehabt hatte, Gwen in die Schlacht zu schicken. Doch er würde seine Meinung nicht ändern. Irgendwann und irgendwie war Gwen zum wichtigsten Teil seines Lebens geworden.
In den vergangenen Tagen hatte er sie in Ruhe gelassen, weil er ihre Bedeutung für ihn hatte schwächen und seine Prioritäten wieder hatte ordnen wollen. Es hatte nicht funktioniert. Sie war ihm umso wichtiger geworden – und seine oberste Priorität obendrein.
Als Sabin das gerade dachte, rannte Kane an ihnen vorbei. In jeder Hand trug er eine Hälfte des nach wie vor zerbrochenen Porträts von Galen, das Danika gemalt hatte.
„Was hast du damit vor?“, rief Sabin.
„Torin will, dass ich es einschließe“, antwortete er. „Nur für alle Fälle.“
Kaia schnappte nach Luft, packte Kane am Arm und hielt ihn auf. „Wie bist du daran gekommen? Ich hoffe, du weißt, dass du dafür bezahlen wirst, dass du es kaputt gemacht hast, du Mist…“ Sie schrie kurz auf, ließ ihn los und rieb sich die Handfläche. „Wie zur Hölle hast du mich so erschreckt?“
„Ich habe keine …“
„Oh Gott!“ Gwen kam die Stufen heruntergestapft und musterte das Porträt. „Wie bist du daran gekommen?“
„Was ist denn los?“ Sabin ging zu ihr und legte ihr einen Arm um die Taille. Gwen zitterte.
Taliyahs kühler Blick schoss von Gwen zum Porträt und vom Porträt zurück zu Gwen. Auch sie wurde blass, und durch ihre ohnehin schon bleiche Haut schimmerten dunkelblaue Venen. „Wir müssen gehen“, sagte sie, und zum ersten Mal seit Sabin sie getroffen hatte, schwangen Emotionen in ihrer Stimme mit. Furcht. Sorge.
Bianka stapfte nach vorn und packte Gwens Handgelenk. „Sag kein Wort. Lass uns einfach nur von hier verschwinden und nach Hause gehen.“
„Gwen“, sagte Sabin und hielt sie fest. Was zum Teufel ging hier vor?
Ein Tauziehen begann, doch Gwen schien es kaum zu merken.
„Mein Vater“, erwiderte sie schließlich so leise, dass er sie kaum hören konnte.
„Was ist mit deinem Vater?“, fragte er drängend. Sie hatte den Mann noch nie erwähnt, woraus Sabin geschlossen hatte, dass er, wer auch immer er war, in ihrem Leben keine Rolle spielte.
„Sie mögen es nicht, wenn ich über ihn spreche. Er ist nicht so wie wir. Aber wie bist du daran gekommen? Es hing in meinem Zimmer in Alaska.“
„Moment.“ Er starrte auf das Porträt. „Willst du sagen, dass …“
„Der Mann mein Vater ist, ja.“
Nein. Nein. „Das ist unmöglich. Sieh genauer hin, dann merkst du bestimmt, dass du dich irrst.“ Irr dich. Bitte irr dich. Er packte sie bei den Schultern und zwang sie, sich das Bild anzusehen.
„Ich irre mich nicht. Das ist er. Ich habe ihn nie kennengelernt, aber ich habe dieses Bild mein ganzes Leben lang immer wieder betrachtet.“ Ihre Stimme klang wehmütig. „Das ist die einzige Verbindung, die ich zu meiner guten Seite habe.“
„Unmöglich.“
„Gwen!“, riefen die Harpyien im Chor. „Es reicht.“
Sie ignorierte sie. „Ich sage dir doch, das ist mein Vater. Warum? Was ist los mit dir? Und wie seid ihr an das Bild gekommen? Warum ist es kaputt?“
Er wollte es einfach nicht glauben. Doch dann folgte auf das Leugnen ein Schock, dann ganz langsam Akzeptanz. Mit der Akzeptanz kam die Wut. Eine große Wut, in der die Furcht und Sorge lagen, die er Taliyah vorhin angesehen hatte. Galen war Gwens Vater. Galen, sein größter Feind, der Unsterbliche, der für die schlimmsten Tage in seinem langen, langen Leben verantwortlich war, war Gwens verdammter Vater.
„Scheiße!“, fluchte Kane. „So eine verfluchte Scheiße! Das ist schlecht. Äußerst schlecht.“
Sabin knackte mit dem Kiefer und gab sich alle erdenkliche Mühe, die Fassung zu wahren. „Das Bild hängt in deinem Zimmer? Genau dieses Bild?“
Sie nickte. „Meine Mutter hat es mir gegeben. Sie hat es vor vielen Jahren gemalt, als sie mit mir schwanger gewesen ist. Sie wollte, dass ich den Engel sehe, um in mir den Wunsch zu wecken, anders zu sein.“
„Gwen“, ermahnte Kaia sie bissig und zerrte fester an ihr. „Wir haben dir gesagt, du sollst aufhören.“
Sie gehorchte nicht. Es war, als hätten die Worte ihren eigenen Willen und würden nach viel zu langer Zeit in Gefangenschaft endlich aus ihr heraussprudeln. Und vielleicht hatte sie jetzt, da sie zu kämpfen gelernt hatte, keine Angst mehr, sich für ihre Wünsche einzusetzen. „Sie hatte einen gebrochenen Flügel und war in eine Höhle gekrochen, um sich zu erholen. Er hatte einen als Mensch verkleideten Dämon gejagt, einen Dämon, der in dieselbe Höhle gerannt ist und versucht hat, sie als Schild zu benutzen. Er hat sie gerettet und den Dämongetötet.
Gwen fuhr fort: „Er heilte sie, und sie schlief mit ihm, obwohl sie hasste, was er war. Sie sagte, sie habe nicht anders gekonnt, sie hätte die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm gespürt. Eine Zukunft, die zu wollen sie sich irgendwie eingeredet hatte. Danach kam die dunkelhaarige Frau, die du auf dem Bild siehst, mit einer Nachricht – irgendwas von einem Geist, den man gesichtet hatte – und er musste gehen. Er hat ihr gesagt, sie solle warten, bis er sie hole. Doch als er weg war, kam meine Mutter wieder zur Besinnung und merkte, dass sie nichts mit einem lebenden Engel zu tun haben wollte. Also verschwand sie. Sie ist eine Künstlerin, und nach meiner Geburt malte sie ein Porträt von ihm mit der Frau. Das letzte Bild, das sie von ihm gehabt habe, solle mein erstes sein, hat sie gesagt.“
Gütige. Götter. „Weißt du, wer dein Vater ist, Gwen?“, fragte er eindringlich.
Endlich riss sie den Blick von dem Bild los und sah Sabin an. Sie wirkte verwirrt. „Ja. Ein Engel, wie ich gesagt habe. Ein Engel, den meine Mutter verführt hat. Deshalb bin ich so, wie ich bin. Schwächer, weniger aggressiv.“
Zwar war sie gar nicht mehr so, aber es war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um sie darauf hinzuweisen. „Galen ist kein Engel.“ Sabin wusste, dass aus jedem seiner Worte Ekel sprach. „Der Mann, den du auf diesem Bild siehst und deinen Vater nennst, ist ein Dämon. Der Hüter der Hoffnung. Ich garantiere dir, dass sein Dämon der Grund dafür ist, dass deine Mutter dieses falsche Gefühl der Hoffnung auf eine Zukunft mit ihm verspürt hat. Deshalb war sie auch so schnell wieder klar im Kopf, nachdem er weg war.“
Sie keuchte laut und schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Nein, das kann nicht stimmen. Wenn ich Dämonenblut hätte, wäre ich genauso stark gewesen wie meine Schwestern.“
„Aber das warst du immer, du hast dich nur geweigert, es zu erkennen“, meinte Bianka. „Ich denke, Mom hat die ganze Zeit dein Selbstvertrauen unterdrückt.“
Sabin schloss die Augen und öffnete sie wieder. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren?
„Dieser Mann ist genauso wie ich, mit einer bedeutenden Ausnahme: Er ist der Anführer der Jäger. Er ist verantwortlich für die Vergewaltigung jener Frauen. Er ist der Befehlshaber der Männer, die dich entführt haben. Er ist hier, in Buda, und er brennt darauf, uns niederzumetzeln.“ Noch während er sprach, wurde ihm bewusst, welchen Fehler er begangen hatte. Gwens Augen glänzten vor Freude, als sie erfuhr, dass ihr Vater in der Nähe war.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte Sabin den Verdacht gehegt, dass die Jäger Gwen in die Zelle gesetzt hatten, um sie als Köder zu benutzen – um seine Geheimnisse herauszufinden und ihn in eine tödliche Falle zu locken. Doch er hatte diesen Gedanken augenblicklich verworfen. Er verwarf ihn sogar immer noch, obwohl Zweifel in seinem Kopf schrie und andere Möglichkeiten zertrampelte.
Sie war gefährlicher als ein Köder. Galen könnte jederzeit den Vatertrumpf ausspielen und sie dazu bringen, Sabin zu verraten.
Verdammt noch mal!
„Das kann einfach nicht stimmen“, wiederholte Gwen. Die Freude wich Ungläubigkeit, als sie ihre Schwestern ansah. „Ich war nie wie ihr, egal, was Bianka sagt. Ich war immer zu weich. Wie ein Engel. Wie könnte mein Vater ein Dämon sein? Dann hätte ich doch schlimmer sein müssen als ihr! Oder? Ich meine … ich kann nicht … Habt ihr irgendwas davon gewusst?“
Kaia ignorierte ihre Schwester und machte ein paar Schritte vorwärts, sodass sie Nase an Nase mit Sabin dastand. „Du lügst. Sosehr wir uns auch oft etwas anderes gewünscht haben, aber ihr Vater ist kein Dämon. Und er ist mit Sicherheit nicht der Anführer dieser Jäger. Wenn Gwen zur Hälfte ein Dämon wäre, hätten wir es gewusst. Dann hätte sie nicht … Es muss einfach ein Irrtum vorliegen. Gwens Vater ist nicht der Anführer deines Feindes, also denk nicht einmal daran, ihr etwas anzutun!“
Gwens gottverdammter Vater. Diese Worte hallten in ihm wider, obgleich er sie kaum verarbeiten konnte. Jegliche Zukunftsträume, die er sich für sich und Gwen ausgemalt hatte, waren höchstwahrscheinlich ruiniert. Selbst wenn sie vollkommen unschuldig war und ihrem Bastard von Vater nicht geholfen hatte – und dessen war er sich eigentlich absolut sicher –, so hatte Sabin dennoch vor, ihn bis in alle Ewigkeit wegzusperren. Wie könnte sie mit einem Krieger zusammen sein, der ihren Vater gefangen hielt?
Außerdem würden sich die meisten Leute nicht gegen ihre Familie wenden, ganz gleich unter welchen Umständen. Auch er nicht. Seine Freunde – seine Ersatzfamilie – waren alles für ihn. Das war schon immer so gewesen. Und so musste es auch bleiben.
Ganz egal, wie laut der Protest in ihm war, er musste tun, was er tun musste.
Gwen hatte ihrem Vater vielleicht nicht geholfen, aber das konnte sich jetzt, da sie wusste, wer er war, jeden Moment ändern. Verdammtes Schicksal!
„Vielleicht hat Kaia recht, und du irrst dich“, sagte Gwen hoffnungsvoll und klammerte sich an sein Hemd. „Vielleicht …“
„Ich habe tausend Jahre mit diesem Mann verbracht, als wir gemeinsam den Götterkönig im Himmel beschützt haben. Ich habe tausend weitere Jahre damit verbracht, ihn mit jeder Faser meines Körpers zu hassen. Ich weiß verdammt genau, wer er ist.“
„Warum sollte ein Dämon die Jäger anführen? Warum sollte er die Büchse finden wollen, um euch alle zu vernichten und damit auch sich selbst? He? Verrate mir das mal!“
„Ich weiß nicht, wie er sich retten will. Aber ich weiß, dass er der Grund ist, weshalb wir diese verdammte Büchse damals überhaupt erst geöffnet haben! Er würde alles tun, um uns zu zerstören – sogar seine eigene Tochter in unsere Mitte schicken. Und seit wir besessen sind, führt er diese Menschen an der Nase herum und macht ihnen weis, er sei ein Engel. Allein deshalb ist er in der Lage, sie zu führen.“
Sie rieb sich das Gesicht, was eigentlich eine seiner charakteristischen Gesten war. „Vielleicht liegst du richtig, was ihn betrifft, vielleicht auch nicht. Aber so oder so – ich habe es nicht gewusst.“ Ihre Augen leuchteten, und das, obwohl sich darunter halbkreisförmige, langsam verblassende Blutergüsse abzeichneten. „Und ich habe auch kein Komplott gegen dich geschmiedet.“
Er atmete zittrig ein. „Das weiß ich.“
„Was ist dann los? Denkst du, ich werde ihm eines Tages helfen, jetzt, da ich weiß, wer er ist? Das würde ich dir niemals antun. Ja, ich werde die Burg verlassen wie geplant.“ An dieser Stelle brach ihre Stimme. „Weil du nicht darauf vertraust, dass ich an deiner Seite kämpfe. Aber du kannst dich darauf verlassen, dass ich deine Geheimnisse für mich behalte.“
„Bleib stehen“, sagte er. „Du gehst nirgendwohin.“ Und dann stürzte er sich auf ihre Flügel.