11. KAPITEL

S abin wusste, dass er wie ein Ungeheuer aussah. Das Blut bedeckte seinen Körper wie eine zweite Haut, seine Augen leuchteten wild, barbarisch – das taten sie immer, wenn eine Sache wie diese zu Ende gegangen war –, und er roch nach alten Geldmünzen. Um Gwen nicht noch mehr zu verängstigen, hatte er duschen wollen, ehe er ihr gegenübertrat. Doch zuerst hatte er nach Amun gesehen. Der Mann hatte zwar aufgehört, sich zu winden, nicht jedoch zu stöhnen, und so lag er noch immer auf seinem Bett und hielt sich den Kopf. Dieses Mal musste er mehr Geheimnisse gestohlen haben als sonst. Dunklere Geheimnisse. Denn normalerweise brauchte er nicht so lange, um sich zu erholen.

Sabin fühlte sich schuldig, weil er seinen Freund gebeten hatte, noch mehr Chaos in seinen Kopf zu lassen, noch mehr Stimmen. Nur die Gewissheit, dass Amun genau wusste, was er tat, und die Jäger genauso sehnlichst besiegen wollte wie Sabin, beruhigte ihn ein wenig.

Als er gegangen war, hatte er beschlossen, kurz in sein Zimmer zu schauen, um nachzusehen, wie es Gwen ging. Hatte Anya sie dazu bewegt, etwas zu essen, oder sie verängstigt? Hatte sie mehr über sie herausgefunden? Die Fragen hatten sich in seinem Kopf eingenistet und sogar sein Verlangen überschattet, mehr Informationen aus den Gefangenen herauszuholen.

Doch Gwen war nicht in seinem Zimmer gewesen.

Wütend hatte er angefangen, sie zu suchen. Von dem Gedanken besessen, dass Paris, der den Kerker kurz nach Sabins Erscheinen verlassen hatte, die Gelegenheit genutzt und Gwen verführt hatte, war er zornig ins Schlafzimmer der Kriegers gestapft. Sabin hatte Gwen als Sein beansprucht. Sein. Niemand sonst durfte sie berühren. Nicht weil er eifersüchtig war oder irgendwelche Besitzansprüche hegte, natürlich nicht, sondern weil er vorhatte, sie als Waffe zu benutzen – das hatte er sich inzwischen erfolgreich eingeredet. Da käme es ihm mehr als ungelegen, wenn einer der Krieger sie vertrieb. Ja, das war der einzige Grund, warum seine Augen tiefrot geleuchtet und sich seine Fingernägel zu Krallen verlängert hatten, er die Fäuste geballt und sein ganzer Körper sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung vorbereitet hatte.

Doch Paris war nicht mit ihr im Bett gewesen, das hatte ihm das Leben gerettet. Er war allein und gerade dabei gewesen, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, ja, er hatte sich Ambrosia – die Lieblingsdroge der Götter – fast direkt ins Blut gemischt.

Sabin war von dem Anblick immer noch schockiert. Paris war doch der Optimistische, der Fürsorgliche. Was zum Teufel war mit ihm geschehen?

Der Missbrauch der starken Substanz musste Konsequenzen haben, denn ein Krieger auf Droge war ein liederlicher Krieger. Wieder hatte Sabin handeln wollen, hatte dem Krieger Verstand einprügeln und danach mit Lucien sprechen wollen. Dann hatte er lachende Frauenstimmen gehört. Unfähig, etwas anderes zu tun, war er dem Geräusch gefolgt. Er wäre vor Neugier fast gestorben. Ja, vor Neugier – nicht etwa vor Verlangen, Gwens bezauberndes Gesicht endlich von Heiterkeit erhellt zu sehen statt gezeichnet von Angst und Beklemmung.

Nun stand er hier, an der Tür zum Gemeinschaftszimmer, während sein Blick zwischen ihr und William hin-und herging und er vor Wut schäumte. Sein Dämon fletschte wild die Zähne. Zweifel mochte sich danach sehnen, Gwen zu zerstören, aber er wollte der Einzige sein, der es ihr antat. Er wollte der Einzige in ihrer Nähe sein. Jeder andere war ein Eindringling und verdiente es, bestraft zu werden.

Gib mir den Krieger, knurrte der Dämon. Er wird seine Taten bereuen. Er wird um Gnade flehen.

Später. Sabin hatte gerade einen Mann getötet, brutal und grausam. Der Gedanke, einen weiteren Mord auf seine stetig länger werdende Liste zu schreiben, war ihm – zumindest für den Moment – zuwider. Außerdem war Gwen noch nicht so weit, dass sie eine weitere Auseinandersetzung mit blutigem Ausgang miterleben konnte.

Ihre Belustigung war verflogen – worüber hatte sie gelacht? –, stattdessen wirkte Gwen mit einem Mal noch beklommener als bisher. War er der Grund dafür? Oder William, der soeben der Frau, die zu Sabin gehörte, ein unverblümtes Angebot gemacht hatte? Kaum zu glauben, dass Sabin gerade angefangen hatte, diesen miesen Schürzenjäger zu mögen und seine vorlaute witzige Art zu bewundern. Das hatte sich jetzt schlagartig geändert.

„Sabin, alter Freund“, begrüßte ihn eben dieser Schürzenjäger und sprang mit einem respektlosen Lächeln auf den Lippen von seinem Stuhl auf. „Wir haben gerade über dich gesprochen. Allerdings kann ich nicht gerade sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen.“

„Nein, und schon bald wirst du gar nichts mehr sagen. Gwen, geh zurück auf mein Zimmer.“

Anya stellte sich vor den Mann. „Hey, Sabin. Er hat es doch nicht böse gemeint. Er ist einfach nur grenzwertig dumm. Das weißt du doch.“

Anstatt sie hinter sich zu schieben, wie es ehrenwert gewesen wäre, schenkte William Sabin aus dem Schutz der Göttin heraus nur ein kesses Komm-und-fang-mich-doch-Winken. „In gewisser Weise habe ich es schon böse gemeint. Sie ist hübsch, und bei mir ist es schon eine Weile her. Mehrere Stunden, meine ich.“

„Gwen, geh. Jetzt.“ Ohne seinen finsteren Blick von dem Krieger abzuwenden, zog Sabin die Klinge aus der Scheide an seinem Hüftgurt und wischte die Blutreste an seiner Hose ab. „Hinter wem du dich auch verstecken magst, du hast heute Morgen deinen letzten Sonnenaufgang gesehen.“

Gwen rang nach Atem, als sie aus der Starre erwachte, in der sie abrupt gefangen gewesen war. Als Sabin einen Schritt nach vorn trat, streckte sie den Arm aus, um ihn aufzuhalten. Er ließ sie gewähren. Ihren Arm an seinem Bauch zu spüren war erotischer, als die Lippen einer anderen Frau an seinem Penis zu fühlen.

„Bitte“, flüsterte sie. „Tu es nicht.“

Auf einmal wurde er unschlüssig. Gwen würde nicht gehen. Dazu strahlte sie viel zu viel Entschlossenheit aus. Wie stark musste dieses schüchterne kleine Geschöpf sein, wenn sie sich hier so behauptete … Aber wollte sie etwa William beschützen? Sabins Verlangen danach, den Krieger zu bestrafen, nahm exponenziell zu.

„Wenn man mal darüber nachdenkt“, fuhr William in unverändert amüsiertem Tonfall fort, während seine Hände wie zum Hohn auf Anyas Schultern ruhten, „habe ich überhaupt nichts Falsches getan. Sie gehört schließlich nicht dir. Nicht richtig.“

Sabin atmete tief ein, seine Muskeln zuckten in der Erwartung, endlich angreifen zu dürfen. Irgendwie schaffte er es, sich nicht zu rühren. Vielleicht weil Gwen zitternd vor ihm stand, während ihre gespreizten Finger warm und unnachgiebig auf seiner Brust lagen. „Was soll das heißen?“, hörte er sich fragen.

„Ich war schon mit genügend Frauen zusammen, um zu wissen, wenn eine zu einem anderen Mann gehört. Zugegeben: Das hat mich trotzdem nicht davon abgehalten weiterzumachen. Aber Gwen ist Freiwild, mein Freund. Für mich und für jeden anderen Mann.“

Gwen winkte vor seinem Gesicht. „Es ist nichts passiert“, redete sie flehend auf Sabin ein. „Ich weiß gar nicht, warum du so wütend bist. Du und ich, wir sind noch nicht mal … wir sind kein …“

„Du bist Mein“, sagte er, den Blick noch immer auf William gerichtet. „Ich allein beschütze dich.“ Ich werde sie kennzeichnen, beschloss er. Sie brandmarken, damit für William und die anderen kein Zweifel mehr daran besteht, dass sie für jetzt und alle Zeit tabu für sie ist. „Ich allein erhebe Anspruch auf dich.“

Es bedeutete nichts. Das würde er nicht zulassen. Aber er musste klarstellen, dass sie zu ihm gehörte.

„Komm.“ Er verschränkte seine Finger mit ihren, drehte sich um und zog sie hinter sich her. William lachte. Zum Glück protestierte Gwen nicht. Sonst hätte er sie über seine Schulter legen und wie einen Sandsack hinaustragen müssen – nachdem er William ein paar Zähne herausgeschlagen hätte.

„Idiot“, hörte er Anya schimpfen. Dann ertönte ein Klatschen, vielleicht hatte sie William mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf geschlagen. „Willst du herausgeworfen werden? Was meinst du, auf wessen Seite Lucien steht, wenn er sich zwischen Sabin und dir entscheiden muss, hm?“

„Na ja, auf deiner“, erwiderte der Krieger. „Und du wirst auf meiner stehen.“

„Okay, schlechtes Beispiel. Vergiss nicht, dass ich immer noch dein wertvolles Buch habe. Jedes Mal, wenn du dich so benimmst, werde ich eine Seite herausreißen!“

Ein tiefes Knurren ertönte. „Eines Tages werde ich …“

Ihre Stimmen verloren sich. Jetzt hörte Sabin nur noch Gwens flachen Atem und seine eigenen schweren Schritte.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie nervös.

„In mein Zimmer. Wo du übrigens hättest bleiben sollen.“

„Ich bin nicht deine Gefangene, sondern dein Gast!“, protestierte sie.

Er stieg die Stufen empor und verlangsamte seine Schritte, damit sie ihm folgen konnte. Auf dem Weg trafen sie Reyes und Danika sowie Maddox und Ashlyn, die gerade in die Küche wollten. Beide Pärchen wollten stehen bleiben und mit ihnen plaudern, das Lächeln der Frauen verriet ihm, dass sie sich Gwen gern vorgestellt hätten, aber Sabin ging wortlos weiter.

„Warum bist du so schlecht gelaunt?“ Gwen fasste seine Hand fester. „Wieso durfte ich nicht mit ihnen sprechen? Ich verstehe nicht, was los ist.“

Er war stolz auf sie. Obwohl sie merkte, wie gefährlich er gerade war, unternahm sie weder einen Fluchtversuch, noch war sie kurz davor, die Kontrolle über die Harpyie zu verlieren. „Ich bin nicht schlecht gelaunt.“ Ich bin außer mir vor Wut!

„Dann gehört es für dich also zum Alltag, Männern, die dir nichts getan haben, mit dem Tod zu drohen?“

Er ignorierte die Frage, da ihm selbst eine in den Sinn kam, die sich weigerte, wieder zu gehen. „Hat er dich angefasst?“ Die Worte waren schonungslos, sein Tonfall war beißend. Dem drohenden Kampf auszuweichen war vertretbar gewesen, weil er gedacht hatte, dass William mit seinen Worten nur Gwens Sympathie hatte wecken wollen. Wenn noch irgendetwas hinzukäme, würde Sabin jedoch sofort umkehren, Hackfleisch aus dem Mistkerl machen und ihn an die wilden Tiere verfüttern, die durch die Hügellandschaft stromerten.

„Nein. Hat er nicht. Aber deine Fingernägel tun mir weh.“

Augenblicklich lockerte Sabin seinen Griff und konzentrierte sich darauf, die Krallen wieder einzufahren. Als sie um eine Ecke bogen, wurden seine Schritte schneller. Mit einem Mal hatte er es sehr eilig, das Gefühl war so mächtig und stark wie ein über die Ufer tretender Fluss.

„Hat er dir Angst eingejagt?“ Diesmal klang die Frage lediglich schroff.

„Noch mal nein. Und selbst wenn er es getan hätte – ich wäre schon mit ihm fertig geworden.“

Seine Lippen zuckten, und zum ersten Mal an diesem Abend zeigte er eine Spur von Humor. Von wegen. Wenn sie Gwen war und die Harpyie ruhig blieb, war sie das gutmütigste Geschöpf, dem er je begegnet war. Das war hin und wieder reizend. Sein Leben bestand aus Tod und Ehrlosigkeit, aus Grausamkeit und Macht, aber sie war alles, was fröhlich und gut war.

„Und wie hättest du das angestellt?“ Er wollte sie mit der Frage nicht verhöhnen, sondern sie zu dem Geständnis zwingen, dass sie einen Leibwächter brauchte. Ihn. Hier, in diesem Haus, und auch draußen in der Welt. An dem Tag, an dem sie gelernt hatte, ihre Harpyie zu kontrollieren, würde sich das natürlich ändern. Und er war froh darüber. Jawohl. Froh.

Ärgerlich stieß sie den Atem aus und versuchte, ihm ihre Hand zu entreißen. Er hielt sie fest, weil er seltsamerweise nicht wollte, dass der Körperkontakt endete. „Ich bin keine totale Versagerin, klar?“

„Es wäre mir egal, und wenn du so stark wärest, wie Pandora einst gewesen ist. Du bist begehrenswert, und einige der Männer hier halten sich gern für unwiderstehlich. Ich will nicht, dass du dich mit ihnen einlässt. Niemals.“

„Du findest mich … begehrenswert?“

Hatte sie etwa den warnenden Unterton überhört? Sie sollte sich von den Kriegern fernhalten, weil er sonst für nichts garantieren konnte.

„Vergiss es“, murmelte sie. Sein Zögern machte sie offenbar verlegen. „Lass uns über etwas anderes reden. Zum Beispiel über dein Zuhause. Ja. Perfekt. Dein Zuhause ist wunderbar.“ Sie war inzwischen außer Atem. Vermutlich strengte der lange Spaziergang sie an, weil sie sich während ihrer Gefangenschaft wenig hatte bewegen können.

Er schenkte seiner Umgebung einen flüchtigen Blick. Der glänzende Steinboden war mit Gold gemasert – wie ihre Augen. Die Beistelltische waren aus Kirschholz – von einem ebenso strahlenden Rot wie ihr Haar. In die glatten Wände waren gesprenkelte Marmorplatten eingelassen, die absolute Perfektion – wie ihre Haut, obwohl sie mit einer dicken Schicht Schmutz überzogen war.

Wann hatte er angefangen, alles mit ihr zu vergleichen?

Als sie den Absatz der zweiten Treppe erreicht hatten, sah Sabin seine Schlafzimmertür und atmete erleichtert auf. Fast da … Wie würde sie auf das reagieren, was er vorhatte? Würde er der Harpyie begegnen?

Er würde vorsichtig sein müssen. Aber gleichzeitig konnte und würde er keinen Rückzieher machen.

Was, wenn er dir etwas antut?, flüsterte der Dämon ihr plötzlich in den Kopf. Was, wenn er…

„Halt die Klappe, verdammt noch mal!“, presste Sabin hervor, und Zweifel lachte hämisch über den Schaden, den er bereits angerichtet hatte.

Gwen verkrampfte sich. „Musst du so fluchen?“

„Ja.“ Sie folgte ihm jetzt nur noch widerstrebend, und er zog sie zur Tür herein, die er hinter ihnen schloss und verriegelte. Sie sahen einander an. Gwen war blass und zitterte wieder. „Außerdem habe ich nicht mit dir gesprochen.“

„Ich weiß. Diese Unterhaltung haben wir schon mal geführt. Du hast mit deinem Dämon gesprochen. Mit Zweifel.“

Das war eine Feststellung, keine Frage. Er massierte sich den Nacken und wünschte, seine Finger würden sich stattdessen um den Hals der Göttin der Anarchie legen. „Anya hat es dir erzählt.“ Ihm gefiel nicht, dass Gwen es wusste. Er hätte sich um ihretwillen gewünscht, dass sie Zeit gehabt hätte, sich zuerst an ihn zu gewöhnen.

Sie sah sich um. „Nein, William. Der Dämon will also, dass ich … an dir zweifle?“ Sie zwirbelte eine Haarsträhne. Eine weitere nervöse Geste?

„Er will, dass du an allem zweifelst. An jeder Wahl, die du triffst, an jedem Atemzug, den du tust. An jedem, der sich in deiner Nähe befindet. Er kann nicht anders. Er zieht seine Kraft aus der Unentschlossenheit und Verwirrung. Vor ein paar Sekunden konnte ich hören, wie er seinen giftigen Stachel in deine Gedanken gebohrt und versucht hat dir einzureden, dass ich dir wehtun will. Deshalb habe ich geflucht.“

Sie riss die Augen auf, wodurch sich die silbernen Kreise ausdehnten und das Bernsteinfarbene überschatteten. „Das ist es also, was ich höre. Ich habe mich schon gefragt, woher diese Gedanken kommen.“

Während er über ihre Worte nachdachte, runzelte er die Stirn. „Du kannst seine Stimme von deiner eigenen inneren Stimme unterscheiden?“

„Ja.“

Diejenigen, die ihn kannten, erkannten den Dämon oft an seiner Wortwahl. Aber dass ein Fremder zwischen sich und dem Dämon unterscheiden konnte … Wie gelang es ihr? „Das schaffen nicht viele“, erwiderte er.

Ihre Augen wurden noch größer. „Wow. Da habe ich doch tatsächlich eine Fähigkeit, die den meisten fehlt. Und dazu noch eine beeindruckende. Dein Dämon ist raffiniert.“

„Hinterhältig“, stimmte er ihr zu. Er war überrascht, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war, geschrien oder ihn aufgefordert hatte, sofort seine verabscheuungswürdigen Hände von ihr zu nehmen. Sie schien sogar stolz auf sich zu sein. „Sobald er Schwäche spürt, stürzt er sich darauf“, fügte er hinzu.

Ihr Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. Dann deprimiert. Dann wütend. Die Botschaft war offenbar angekommen: Sie war schwach, und der Dämon wusste es. Sabin zog ihren Stolz vor.

Sein Blick ruhte auf dem Tablett, das auf der Anrichte stand. Auf dem leeren Tablett. Fast hätte er gegrinst. Anya hatte sie zum Essen bewegt, den Göttern sei Dank. Kein Wunder, dass Gwens Gesichtsfarbe gesünder war und ihre Wangen auf niedliche Art runder wirkten. Was an ihr war sonst noch anders? Aufmerksam musterte Sabin sie. An ihrer Taille entdeckte er drei leichte Rundungen – aber er war sich sicher, dass sie nicht mit ihrer letzten Mahlzeit zusammenhingen.

Er sah sich blitzschnell in seinem Zimmer um und stellte fest, dass die Waffentruhe siebeneinhalb Zentimeter weiter rechts stand als sonst. Gwen musste das Schloss aufgebrochen und den Inhalt gestohlen haben. Diese kleine Diebin, dachte er und beäugte sie wieder.

Sie wand sich unter seinem forschenden Blick, und ihre Wangen wurden rot. „Was?“

„Ich denke nur nach.“ Sie soll sie behalten, beschloss er. Hoffentlich gaben sie ihr ein Gefühl der Sicherheit. Denn je sicherer Gwen sich fühlte, umso unwahrscheinlicher war es, dass er der Harpyie begegnete.

„Du machst mich nervös“, gestand sie. Sie wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab.

„Dann lass uns die Sache beschleunigen und deine Angst lindern.“ Götter, sie war ein Genuss für die Sinne. „Zieh deine Sachen aus.“

Sie öffnete entsetzt den Mund und keuchte leise. „Wie bitte?“

„Du hast mich schon richtig verstanden. Zieh dich aus.“

Sie machte einen Schritt zurück, dann noch einen und hob dabei abwehrend die Hände. „Nicht einfach nein, sondern: Nein, zum Teufel!“ Sie stieß mit den Kniekehlen gegen das Bettende, fiel auf die Matratze und starrte ihn panisch an. „Ich bin hingefallen! Das war ein Unfall und keine Einladung“, stieß sie hervor und sprang wieder auf die Füße.

„Ich weiß. Das ‚Nein, zum Teufel‘ hat dich verraten. Aber es ist egal. Wir werden jetzt duschen gehen.“ Sie musste sich waschen, und er musste sie kennzeichnen. Da konnten sie doch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

„Bitte schön.“ Ihr zitterte die Stimme. „Aber ohne mich.“

„Mit dir. Das ist übrigens auch keine Einladung. Sondern eine Tatsache.“ Er griff hinter sich und zog sich das Hemd über den Kopf. Seine Lieblingskette, ein Geschenk von Baden, fiel zurück auf seine Brust, als der Stoff zu Boden fiel.

„Zieh das wieder an!“, sagte sie, während sie das Schmetterlingstattoo fixierte. „Ich will dich nicht sehen.“ Ihre geweiteten Pupillen straften ihre Worte Lügen.

Gut. Sie war fasziniert, wenn auch panisch. Er zog erst den einen, dann den anderen Stiefel aus. Sie landeten mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Er öffnete seine Hose und schob sie bis zu den Knöcheln hinunter. „Das wird jetzt passieren, ob du einverstanden bist oder nicht, Gwendolyn.“

Sie schüttelte vehement den Kopf, wobei ihre rotblonden Locken wild durch die Luft flogen. Immer noch ruhte ihr Blick auf seinem Körper. Mittlerweile zwischen seinen Beinen. Ihr Atem ging schneller, schwerer. „Du hast gesagt, du würdest mir nichts antun.“

„Das werde ich auch nicht. An Duschen ist nichts bedrohlich. Es ist einfach nur … reinigend.“

„Ha!“

Er schüttelte sich die Tarnhose von den Knöcheln und war nun splitterfasernackt. Und, ja, er hatte eine Erektion. Er brachte seine ganze Willenskraft auf, um es wegzuzaubern, damit Gwen sich entspannen konnte, doch das dämliche Ding wollte ihm einfach nicht gehorchen, sondern blieb lang und hart und dick.

Mit der Zunge befeuchtete sie sich die Lippen. Eine vielsagende Reaktion, fand Sabin. Sie hätte genauso gut sagen können: Ich will was davon. Das T-Shirt, das er ihr geliehen hatte, war zwar weit, trotzdem sah er, dass ihre Brustwarzen hart geworden waren. Noch ein Zeichen.

Nach dem Kuss im Flugzeug hatte er vermutet, dass sie ihn begehrte. Jetzt war er sich sicher. Und er freute sich darüber. Es war dumm und falsch und konnte nur dazu führen, dass sie am Ende beide verletzt wurden. Aber in diesem Moment war ihm das egal.

„Ich werde nicht mit dir vögeln“, sagte er absichtlich grob. Er wollte, dass sie aufhörte, auf seinen Penis zu starren.

Es funktionierte. Sie hob den Blick, und Bernstein und Braun trafen sich. „W-warum kein Sex? Was hast du dann mit mir vor?“

Dich küssen. Dich berühren. Dir einen Knutschfleck machen … und dir einen Orgasmus schenken, der dich so zum Schreien bringen wird, dass die Wände wackeln. Danach könnte William nicht mehr infrage stellen, dass er sie als Sein beanspruchte. Dass es nicht zum Sex kam, tja … Sabin würde die Kontrolle verlieren, wenn er sich zu viel Genuss gestattete, und dann hätte sein Dämon freie Bahn. Also würde er nur so viel tun wie möglich: ein bisschen Streicheln für ihn und ganz viel für sie.

Bist du sicher, dass du in der Lage bist, jemanden wie sie zu befriedigen? Hübsch, wie sie ist, hatte sie bestimmt schon unzählige Männer. Sie haben wahrscheinlich Sachen mit ihr angestellt, von denen du bisher nur geträumt hast.

Er biss die Zähne fest aufeinander. Für sein Alter hatte er nicht gerade viel Erfahrung mit Frauen. Während er im Himmel gelebt hatte, war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Götter zu verteidigen, als dass er seinen Gelüsten hätte folgen können. In seiner ersten Zeit auf der Erde war er zu böse und wild gewesen, um irgendetwas außer Zerstörung zu wollen. Und als er endlich so etwas wie Kontrolle über die Boshaftigkeit in sich erlangt hatte, war ihm schnell klar geworden, wie destruktiv sein Einfluss aus das andere Geschlecht war.

Trotzdem hatte er sich ein paarmal verliebt und den Frauen schamlos nachgestellt. Ob alleinstehend oder verheiratet, es hatte ihn nicht interessiert. Vermutlich hatten er und William das gemeinsam. Wenn er Lust verspürt hatte, war er ihr gefolgt, weil dieses Gefühl so selten war.

Darla war das jüngste – und verheerendste – Beispiel für seinen zerstörerischen Einfluss. Sie war mit einem Jäger verheiratet gewesen, mit Galens rechter Hand. Sie war zu Sabin gekommen und hatte ihm erzählt, wo ihr Ehemann und seine Leute ihre Waffen aufbewahrt und was sie als Nächstes geplant hatten. Sie habe die Heuchelei des Jäger-Codes erkannt, hatte sie gesagt, und dass sie wollte, dass der Krieg endete. Zuerst dachte Sabin, sie wäre ein Köder und sollte ihn sowie seine Männer in eine Falle locken. Doch sein Verdacht bestätigte sich nicht. Alles, was sie ihm sagte, stimmte.

Schon bald waren sie ein Paar. Er wollte, dass sie ihren Ehemann verließ, doch sie weigerte sich, weil sie sonst nicht länger in der Lage gewesen wäre, Sabin zu helfen. Er gab es nicht gern zu, aber er war auch froh über ihre Entscheidung gewesen. Denn dadurch hatte er seine Spionin nicht verloren. Doch jedes Mal, wenn sie ihn besuchte, jedes Mal, wenn er mit ihr ins Bett gegangen war und sie ihn wieder verließ, fehlte etwas mehr von ihrem Glanz. Viel zu schnell wurde sie anhänglich, bedürftig und süchtig nach einem freundlichen Wort. Er versuchte mit allen Kräften, ihr Selbstbewusstsein wieder aufzubauen, indem er ihr versicherte, wie hübsch, mutig und intelligent sie war. Aber natürlich hatte sie an seinen Worten gezweifelt, sodass sie letztlich überflüssig geworden waren.

Nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, hatte sie nach ihm gerufen.

Doch er war nicht mehr rechtzeitig zu ihr gekommen. Nein, Stefano war schneller gewesen, und er hatte Sabin davon abgehalten, sie ein letztes Mal zu sehen. Er hatte noch nicht mal zu ihrer Beerdigung gehen können, weil die Jäger ihn sonst gesehen hätten.

Elf Jahre waren seit ihrem Tod vergangen, doch seine Schuldgefühle waren noch genauso stark wie am ersten Tag. Er hätte Darla in Ruhe lassen sollen. Und wäre Stefano der Jagd und der Kämpfe irgendwann überdrüssig geworden und ausgestiegen, hätte Sabin es getan. Doch stattdessen war der Jäger – von Rachsucht und Fanatismus angetrieben – mittlerweile genauso wild entschlossen zu siegen wie Sabin.

Seit jenem Unglück war Sabin mit niemandem mehr zusammen gewesen. Er hatte die Gesellschaft von Frauen ganzlieh gemieden, bis er Gwen begegnet war. Aber war sie ihm gewachsen? Zumindest ein bisschen?

„I-ich höre“, stammelte sie. „Was hast du vor?“

Mit aller Kraft verscheuchte er die vom Dämon gestreuten Sorgen aus seinen Gedanken. „Ich werde dich sauber machen.“

Erneut schüttelte sie den Kopf. „Ich will aber nicht sauber sein, ich schwöre.“

„Das ist mir egal“, erwiderte er und kam auf sie zu.

Keuchend fiel sie von Neuem aufs Bett und wich so weit vor ihm zurück, bis sie mit den Schultern ans Kopfende stieß. „Ich will das nicht machen, Sabin.“

„Doch, willst du. Du hast nur Angst.“

„Stimmt genau. Was ist, wenn ich dich töte?“

„Seit Jahrtausenden bezwinge ich Jäger. Was ist dagegen schon eine einzelne Harpyie?“ Das waren mutige Worte, aber er konnte unmöglich die ganze Wahrheit sagen. Und natürlich hatte er keine Ahnung, wie sie reagieren oder was geschehen würde, wenn sie gegeneinander kämpfen mussten. Trotzdem würde er ihren Zorn in Kauf nehmen.

Weißes, heißes Verlangen schoss ihr in die Augen und brachte sie noch mehr zum Leuchten. „Glaubst du wirklich, du kannst eine Harpyie besiegen, wenn sie kurz vor dem Angriff steht?“

Er kletterte aufs Bett und überwand den verhassten Abstand zwischen ihnen Zentimeter für Zentimeter. „Dazu wird es hoffentlich nicht kommen. Aber falls doch, na ja, dann werden wir es gemeinsam herausfinden.“

„Nein! Das reicht nicht.“ Sie trat ihn gegen die Brust, doch statt ihn wegzustoßen, besiegelte sie damit ihr Schicksal. Er legte ihr die Finger um den Knöchel und zog Gwen zu sich.

„Wir werden es nie erfahren, wenn wir es nicht ausprobiert ren.

Als er sah, dass ihr eine Träne aus dem Augenwinkel und die Wange hinablief, wurde Sabin schwer ums Herz. „Bitte“, flehte sie heiser. „Ich könnte nicht mehr weiterleben, wenn ich dir etwas antue.“

Mach keinen Rückzieher. „Wie gesagt, es gibt nur einen Weg, dir zu beweisen, dass ich mit allem fertig werde, was du mir vorsetzt.“ Er versiegelte sein Herz gegen ihre Tränen; er hatte keine Wahl. Um ihretwillen, um seinetwillen, um des Friedens in der Burg willen musste es getan werden. Sie musste gekennzeichnet werden. Sie wollte gekennzeichnet werden, ob sie es nun zugab oder nicht. Und er war ein Krieger, der zu Ende führte, was er begonnen hatte. Unter allen Umständen.