4. KAPITEL
D ie Frau würde ihn umbringen, und das nicht etwa, weil sie stärker und bösartiger war als er. Das war sie zweifelsohne. Er hatte noch keinem Menschen die Kehle herausgebissen, und dass Gwen es getan hatte, imponierte ihm mächtig. Sie hatte es geschafft, die Herren der Unterwelt wie Marshmellow-Männchen dastehen zu lassen.
Zwei ganze Tage waren vergangen, seit Sabin und seine Leute sie aus der Pyramide gerettet hatten. Und erst beim Anblick der Sonne hatte Gwen zufrieden gewirkt. Bis dahin hatte sie sich nicht entspannt. Oder gegessen. Die Energieriegel, auf die sie so scharf gewesen war, hatte sie nur sehnsüchtig angesehen, bevor sie den Kopf geschüttelt und sich weggedreht hatte. Sie benutzte nicht mal die tragbare Dusche, die Lucien auf Sabins Bitte hin für sie besorgt hatte.
Sie traute ihnen nicht. Offensichtlich wollte sie nicht das Risiko eingehen, vergiftet zu werden, wollte sich nicht der Verletzlichkeit des Schlafes oder der Nacktheit aussetzen. Und das war verständlich. Aber, verdammt noch mal, in ihm brodelte das Verlangen, sie zu all diesen Dingen zu zwingen. Zu ihrem Besten. Ohne das Dreckszeug, das in ihre Zelle gepumpt worden war, musste sie den Hunger bis in jede Faser ihres Körpers spüren. Sie musste erschöpft sein, und schmutzig wie sie war – von den letzten zwei Tagen sowie von der gesamten Zeit ihrer Gefangenschaft, was seltsam war, weil die anderen Frauen sauber waren –, konnte sie sich unmöglich wohlfühlen. Dennoch, sie zu zwingen war keine Option. Sabin wollte seine Luftröhre gern noch ein bisschen behalten.
Das Einzige, das sie von ihm angenommen hatte, war Kleidung. Seine Kleidung. Ein Camouflage-T-Shirt und eine Tarnhose. Die Sachen schlackerten an ihrem Körper, obwohl sie Ärmel, Hosenbund und Beine umgekrempelt hatte. Und trotzdem fand er, dass er noch keine schönere Frau gesehen hatte. Die wilden rostbraunen Locken, die Geh-mit-mir-ins-Bett-Lippen – das alles machte sie zur Sünde schlechthin. Und zu wissen, dass der Stoff, den sie trug, schon seinen Körper berührt hatte …
Ich muss mein selbst auferlegtes Zölibat beenden. Und zwar bald.
Sobald sie in Buda ankämen, würde er genau das tun. Sich eine Frau suchen, die nichts als ein bisschen Spaß wollte, und, nun ja, ihr diesen Spaß bereiten. Niemand würde verletzt werden, weil er nicht bei der Frau bleiben würde. Aber vielleicht bekam er so einen klaren Kopf und wusste dann endlich, wie er mit Gwen umgehen sollte.
Was ihn außerdem beschäftigte, war die Tatsache, dass Gwen sich in die Ecke seines Zeltes gesetzt hatte und ihn anstarrte – egal, wer hereinkam. Ihn. Als stellte er jetzt die größte Bedrohung für sie dar. Gut, er hatte sie vor zwei Tagen in der Höhle angefahren, als er ihr gesagt hatte, dass sie ihn nicht anfassen sollte. Aber er hatte auch dafür gesorgt, dass sie auf dem Weg durch die Wüste zu ihrem Lager auf den Beinen geblieben war. Er war bei ihr geblieben und hatte sie beschützt, während die anderen Krieger zurück in die Pyramide gegangen waren, um nachzusehen, ob sie bei der ersten Begehung etwas übersehen hatten. Hatte er diese tötenden Blicke wirklich verdient?
Vielleicht…
Halt’s Maul, Zweifel! Ich lege keinen Wert auf deine Meinung.
Keine Ahnung, warum dich interessiert, was sie denkt. Du hast Frauen doch noch nie gutgetan, hab ich recht? Schon komisch, dass ich dich ausgerechnet jetzt an Darla erinnern muss.
Auf dem sandigen Boden hockend, knallte Sabin den Deckel seiner Waffenkiste kräftig zu, schloss sie ab und wandte sich dann der Tasche mit Essen zu, die Paris in seinem Auftrag gebracht hatte.
Darla, Darla, Darla, sang der Dämon.
„Wie gesagt, halt endlich dein verdammtes Maul, du dreckiges Stück Scheiße! Ich hab die Schnauze voll von dir.“
Gwen, die immer noch in der gegenüberliegenden Ecke saß, zuckte zusammen. „Aber ich habe doch gar nichts gesagt.“
Er hatte lange Zeit mit Sterblichen zusammengelebt und gelernt, nur in Gedanken mit Zweifel zu kommunizieren. Dass er das jetzt – in Anwesenheit dieser schreckhaften und doch todbringenden Frau – vergessen hatte, war … demütigend.
„Ich habe nicht mit dir gesprochen“, murmelte er.
Blasser als gewöhnlich schlang sie sich die Arme um die Taille. „Und mit wem dann? Wir sind doch allein.“
Er antwortete nicht. Es ging nicht. Nicht ohne zu lügen. Da Zweifels Unfähigkeit zu lügen vor langer Zeit auf Sabin übergegriffen hatte, musste er bei der Wahrheit bleiben oder weglaufen, wenn er während der nächsten Tage nichtbewusstlos herumliegen wollte.
Zum Glück bestand Gwen nicht auf einer Antwort. „Ich möchte nach Hause“, sagte sie leise.
„Ich weiß.“
Am Vortag hatte Paris alle befreiten Frauen zu ihrer Gefangenschaft befragt. Wie sie vermutet hatten, waren sie entführt, vergewaltigt, geschwängert worden. Man hatte ihnen gesagt, dass man ihnen ihre Babys wegnehmen und zu Kämpfern gegen das Böse ausbilden würde. Danach hatte Lucien alle außer Gwen – die Paris nichts verraten hatte – zu ihren Familien gebracht, die sie hoffentlich vor den Jägern verstecken und ihnen den Frieden und die Behaglichkeit schenken würden, die sie während ihrer Gefangenschaft entbehrt hatten.
Gwen hatte darum gebeten, zu einem verlassenen Eisstrich in Alaska gebracht zu werden. Obwohl sie nicht kooperiert hatte, hatte Lucien ihr die Hand gereicht, und Sabin wardazwischengegangen.
„Wie ich in der Höhle gesagt habe: Sie bleibt bei mir“, hatte er gesagt.
Gwen keuchte. „Nein! Ich will gehen.“
„Tut mir leid. Das geht nicht.“ Er weigerte sich, sie anzusehen, aus Angst, dass er dann schwach wurde und sie freiließ. Und das hätte er getan, obwohl sie ihm mit ihrer Kraft, Geschwindigkeit und Grausamkeit dabei helfen konnte, den Krieg zu gewinnen und somit seine Freunde zu retten.
Bei den Göttern, er träumte schon seit unzähligen Jahren von einem Ende, von einem siegreichen Ende. Er konnte Gwens Bedürfnisse und Wünsche nicht über diesen Sieg stellen.
Dafür wollte er Galen – die Person, die er am meisten auf der Welt hasste – viel zu gern geschlagen und eingekerkert sehen.
Galen, der einst vergessene Herr, war der Mann, der die Krieger überredet hatte, mit ihm zusammen die Büchse der Pandora zu stehlen und zu öffnen. Er war außerdem der Mann, der geplant hatte, sie zu töten und dann die Dämonen einzufangen, die sie einst befreit hatten, um auf diese Art in den Augen der Götter zum Held aufzusteigen. Doch die Dinge waren nicht so gelaufen, wie der Bastard gehofft hatte. Und auch Galen war dazu verdammt worden, einen Dämon zu beherbergen – Hoffnung.
Wenn die Sache damit nur erledigt gewesen wäre. Doch als zusätzliche Strafe hatte man sie alle aus dem Himmel verbannt. Galen – immer noch entschlossen, die Männer zu vernichten, die ihn als Freund bezeichnet hatten – hatte schnell eine Armee wütender Sterblicher um sich versammelt, die sogenannten Jäger. Und die Blutfehde hatte ihren Anfang genommen. Es war eine Fehde, die mit jedem Jahr heftiger wurde. Wenn Gwen Sabin auch nur im Geringsten helfen konnte, war sie zu kostbar, um freigelassen zu werden. Was sie natürlich ganz anders sah.
„Bitte“, hatte sie ihn angefleht. „Bitte.“
„Ich werde dich eines Tages nach Hause bringen“, hatte er ihr versprochen. „Du könntest uns, unserer Sache nützlich sein.“
„Aber ich will euch gar nicht helfen. Ich will einfach nur nach Hause.“
„Tut mir leid. Aber wie gesagt: Das geht erst mal nicht.“
„Mistkerl“, murmelte sie. Dann war sie wie erstarrt. Fast, als hätte sie es nicht laut sagen wollen und nun dächte, er würde sich auf sie stürzen und sie schlagen. Als er es nicht tat, entspannte sie sich etwas. „Dann habe ich also einen Entführer gegen den anderen eingetauscht oder was? Du hast mir versprochen, mir nicht wehzutun.“ Sie klang so sanft, so sanft. Fast schon traurig und resigniert, und das … verletzte ihn. „Lass mich einfach gehen. Bitte.“
Offensichtlich hatte sie Angst. Vor ihm, vor seinen Freunden. Vor sich und ihren tödlichen Fähigkeiten. Sonst hätte sie sicherlich versucht, ihn loszuwerden oder um ihre Freilassung zu feilschen. Aber das hatte sie kein einziges Mal getan. Fürchtete sie sich davor, was sie mit ihr machen würden, wenn sie sie schnappten? Oder davor, was sie ihnen antäte?
Oder, wie Zweifel ihm im Dunkel der Nacht so gern zuflüsterte: Hatte sie viel hinterhältigere Pläne? War sie ein Köder, eine außergewöhnlich überzeugende Falle der Jäger? Eine Falle, die ihn zerstören sollte?
Unmöglich, erwiderte Sabin jedes Mal scharf. Solche Schüchternheit konnte niemand vortäuschen. Das Zittern, die Weigerung zu essen – das alles bedeutete, dass ihre Ängste – worin auch immer sie bestanden – echt waren. Und je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, umso größer würden diese Ängste und Zweifel sein. Irgendwann würde sie nichts anderes mehr kennen, an nichts anderes mehr denken. Sie würde jedes Wort infrage stellen, das ihr über die Lippen kam, genau wie jedes Wort, das ihm über die Lippen kam. Sie würde jedes Handeln und alle Beweggründe hinterfragen.
Sabin seufzte. Andere hier stellten sein Handeln schon jetzt infrage, und dafür war sein Dämon nicht verantwortlich. Als Gwen ihre Bitte vorgebracht hatte, hatte sich Luciens Miene verhärtet – was eine Seltenheit war, denn Lucien war stets darauf bedacht, seine Gefühle zu verbergen. Nachdem er Paris befohlen hatte, sie zu bewachen, hatte er Sabin und sich in ihre Unterkunft in Kairo gebracht, wo sie in Ruhe geredet hatten. Weit weg von den anderen. Weg von Gwen.
Das Gespräch hatte sich zu einem zehnminütigen Streit entwickelt. Und weil Sabin beim Beamen immer übel wurde, war er nicht gerade in der besten Stimmung gewesen.
„Sie ist gefährlich“, begann Lucien.
„Sie ist stark.“
„Sie ist ein Killer.“
„Hallo? Genauso wie wir. Der Unterschied ist nur, dass sie besser ist als wir.“
Lucien zog die Augenbrauen hoch. „Woher willst du das wissen? Du hast nur gesehen, wie sie einen Mann getötet hat.“
„Und trotzdem weigerst du dich wegen genau dieses Mordes, sie in unser Zuhause zu lassen – trotz der Tatsache, dass sie unseren Feind umgebracht hat. Sieh doch, die Jäger kennen unsere Gesichter. Sie halten unentwegt Ausschau nach uns. Aber die Einzigen, die sie kennen, sind jetzt tot oder eingesperrt. Sie ist unser Trojanisches Pferd. Unsere Version des Köders. Die Jäger werden sie mit offenen Armen empfangen, und sie wird ihnen das Licht auspusten.“
„Oder uns“, murmelte Lucien, doch Sabin wusste, dass er über seine Worte nachdachte. „Sie wirkt nur einfach so … mutlos.“
„Ich weiß.“
„Und in deiner Gegenwart wird das nur schlimmer werden.“
„Auch das ist mir klar“, erwiderte Sabin.
„Wie kannst du dann in Erwägung ziehen, sie als Kriegerin einzusetzen?“
„Glaub mir, ich habe das Für und Wider sorgfältig abgewogen. Mutlos oder nicht, mit durch mich gebrochenem Geist oder ohne – sie hat die Fähigkeit zu zerstören. Und das können wir uns zunutze machen.“
„Sabin …“
„Sie kommt mit uns und damit basta. Sie gehört mir.“ Er hatte sie nicht als sein Eigentum beanspruchen wollen, jedenfalls nicht so. Schließlich brauchte er nicht noch mehr Verantwortung – schon gar nicht für eine schöne, zögerliche Frau, die zu besitzen er nicht mal zu hoffen wagen durfte. Doch das war der einzige Weg. Lucien, Maddox und Reyes hatten Frauen in ihr Zuhause gebracht, und deshalb konnten sie es ihm nicht verwehren.
Er hätte ihr das nicht antun sollen, hätte sie einfach freilassen sollen – ihnen beiden zuliebe. Doch wie er sich immer wieder ins Gedächtnis rief: Er hatte seinen Krieg gegen die Jäger über alles andere gestellt, sogar über seinen besten Freund, Baden, den Hüter des Misstrauens. Jetzt war er tot, für immer fort. Er konnte für Gwen keine Ausnahme machen. Sie würde mit nach Budapest kommen, ob es ihr gefiel oder nicht.
Doch zuerst würde er ihr etwas zu essen geben.
Er hockte sich vor sie, sodass sie sich auf Augenhöhe befanden, und fing an, kleine Küchlein und mit Schinken und Käse überbackene Kekse auszupacken. Er pikste einen Strohhalm in eine Saftpackung. Götter, er vermisste die selbst gekochten Mahlzeiten, die Ashlyn zubereitete, und die Gourmetgerichte, die Anya sich aus Budas Fünfsternerestaurants „borgte“.
„Bist du schon mal geflogen?“, erkundigte er sich.
„W-was interessiert dich das?“ Sie hob das Kinn, und in ihren Augen loderten gelbe Flammen. Doch dieser feurige Blick galt nicht ihm, sondern dem Essen, das er neben sich auf einem Pappteller anrichtete. Dessen war Sabin sich bewusst.
Aber ihm gefiel sie, wenn sie temperamentvoll wurde. Er zog es definitiv der stoischen Billigung vor, die sie zuvor an den Tag gelegt hatte. „Ich noch nicht. Ich will nur sichergehen, dass du mich nicht …“ Mist. Wie sollte er diesen Satz beenden, ohne sie daran zu erinnern, was sie mit dem Jäger gemacht hatte?
„Vor lauter Angst angreifst“, beendete sie den Satz für ihn und errötete vor Verlegenheit. „Im Gegensatz zu dir lüge ich nicht. Wenn du mich in ein Flugzeug setzt, das nicht nach Alaska fliegt, stehen die Chancen sehr gut, dass du meine … dunklere Hälfte kennenlernst.“ Die letzten Worte sprach sie gedämpft.
Er kniff die Augen zusammen, als er über ihre Worte nachdachte. Er knüllte die Plastikverpackungen zusammen, die rings um ihn verteilt lagen, und stopfte sie in einen Müllbeutel aus Stoff. „Was meinst du mit ‚im Gegensatz zu dir‘? Ich habe dich nie angelogen.“ Dass er noch immer bei Bewusstsein war, war der eindeutige Beweis dafür.
„Du hast gesagt, du wolltest mich nicht verletzen.“
Er spürte, dass sein Wangenmuskel zuckte. „Und das habe ich auch nicht. Auch jetzt nicht.“
„Mich hier festzuhalten heißt, mich zu verletzen. Du hast gesagt, du würdest mich befreien.“
„Ich habe dich befreit. Aus der Pyramide.“ Er zuckte verlegen die Schultern. „Und solange du körperlich unversehrt bist, betrachte ich dich als unverletzt.“ Ihm entwich ein Seufzer. „Ist es wirklich so schlimm, in meiner Nähe zu sein?“
Sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.
Autsch. „Ist ja auch egal. Du wirst dich früher oder später an mich gewöhnen müssen. Wir zwei werden nämlich viel Zeit miteinander verbringen.“
„Aber warum? Du hast gesagt, ich könnte euch nützlich sein; das habe ich nicht vergessen. Aber ich verstehe nicht, was ich deiner Meinung nach tun könnte.“
Vielleicht sollte ich ihr einfach alles erzählen, dachte er. Das könnte sie mir und der Sache gegenüber milde stimmen. Es könnte sie aber auch so sehr verängstigen, dass sie schließlich davonlief. Wäre er fähig, sie aufzuhalten?
Aber nicht zu wissen, was er von ihr wollte, musste eine Art Folter sein. Und Gwen hatte wirklich genug gelitten. „Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst“, sagte er. „Wenn du etwas isst.“
„Nein. Ich … ich kann nicht.“
Sabin hob den Teller hoch und führte ihn in einem Kreis durch die Luft. Vollkommen bezaubert verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Als er sicher war, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte, nahm er sich ein Küchlein und biss die Hälfte davon ab.
„Kann nicht“, wiederholte sie und klang dabei genauso, wie sie aussah: fasziniert.
Er schluckte, bevor er sich jeden noch so kleinen Klecks Sahne von den Lippen leckte. „Siehst du. Ich lebe noch. Kein Gift.“
Zögernd, als könnte sie sich einfach nicht mehr anders helfen, streckte Gwen die Hand aus. Sabin legte ihr den Nachtisch in die Hand, und sofort riss sie es an ihre Brust.
Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass einer von ihnen ein Wort sagte. Sie beäugte ihn einfach nur wachsam.
„Ist dieses Essen eine Art Bezahlung dafür, damit ich dir zuhöre?“, fragte sie.
„Nein.“ Sie sollte nicht denken, dass Bestechung eine akzeptable Methode war. „Ich will nur, dass es dir gut geht.“
„Ach so“, erwiderte sie, offensichtlich enttäuscht.
Warum Enttäuschung?
Zweifel tanzte fast, so stark war sein Verlangen, aus Sabins Kopf in Gwens zu kriechen. Lange konnte Sabin ihn nicht mehr bändigen. Aber eine falsche Andeutung von dem Dämon, und Gwen würde das winzige Häppchen auf den Boden werfen, davon war Sabin überzeugt.
Iss es, projizierte er in ihren Kopf. Bitte, iss es. Zwar gab es nahrhaftere Snacks, aber in diesem Augenblick wäre er schon glücklich gewesen, wenn sie einen Löffel voller Sand gegessen hätte.
Endlich hob sie den Kuchen hoch und knabberte zögerlich am Rand. Ihre langen dunklen Wimpern berührten sich, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie versprühte pure Ekstase – wie andere sie nur beim Orgasmus erleben.
Seine körperliche Reaktion kam sofort. Jeder Muskel verhärtete sich; sein Herzschlag beschleunigte sich; seine Handflächen brannten darauf, sie zu berühren. Meine Götter, sie ist wundervoll. Wahrscheinlich das Erlesenste, das er je betrachtet hatte – ein Genuss für die Sinne und die glückselige Dekadenz schlechthin.
Eine Sekunde später war auch der Rest des Kuchens in ihrem Mund verschwunden, und ihre Wangen füllten sich. Während sie kaute, streckte sie die Hand aus und befahl ihm damit stumm, ihr noch ein Küchlein zu geben. Er tat es, ohne zu zögern.
„Soll ich die Hälfte abbeißen?“, bot er an, bevor er losließ.
In ihren Augen erschien ein schwarzer Wirbel, der das Gold überlagerte.
Wohl nicht. Er hob defensiv die Hände, und sie stopfte sich den zweiten Kuchen in den Mund. Das Schwarz verschwand, und das Gold kehrte zurück. Krümel fielen ihr aus dem Mundwinkel.
„Durst?“ Er hielt die Saftpackung hoch.
Wieder streckte sie die Hand aus, und ihr Winken bedeutete ihm, sich zu beeilen.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sie das Saftpäckchen bis auf den letzten Tropfen geleert.
„Mach langsamer, sonst wird dir noch schlecht.“
Mit einem Mal kehrte das Schwarz in ihre Augen zurück. Doch zumindest lief es nicht in das Weiße über, so wie es nur wenige Momente vor ihrem Übergriff auf den Jäger geschehen war. Sabin schob den Teller zu ihr, und sie verspeiste das restliche Essen.
Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und lächelte noch mal ihr zufriedenes Lächeln. Ihre Wangen waren rosig. Und vor seinen Augen füllten sich ihre Rundungen. Ihre Brüste schienen zu schwellen. Taille und Hüfte weiteten sich auf die perfekten Maße. Sündhaft. Schmerzhaft war er sich seiner Erektion bewusst, die immer noch beträchtlich war.
Aufhören. Sofort. Vermutlich würde seine Erregung ihr Angst machen, weshalb er in der Hocke verweilte – Knie zusammen, Brust nach vorn.
Und wenn es ihr gefällt? Was, wenn sie dich bittet, zu ihr zu kommen und sie zu küssen? Sie zu berühren?
Klappe.
In dem Moment wurde Gwen blass. Ihr Lächeln erstarb, wich einem Stirnrunzeln.
„Was ist mit dir?“, fragte er.
Ohne ein Wort zu sagen, riss sie die untere Zeltklappe auf, lehnte sich hinaus und würgte. Jeder Tropfen und jeder Krümel verließen ihren Magen wieder.
Seufzend stand er auf und holte einen Lappen. Nachdem er ihn mit dem Inhalt einer Wasserflasche befeuchtet hatte, gab er ihn ihr in die Hand. Nach einer Weile kehrte Gwen ins Zelt zurück und wischte sich mit zittriger Hand den Mund ab.
„Ich hätte es wissen müssen“, murmelte sie und kauerte sich wieder in ihrer vorherigen Stellung zusammen. Beine an die Brust gezogen und Arme fest darum geschlungen.
Hätte es wissen müssen und nicht so schnell essen dürfen? Ah, ja. Weil er sie gewarnt hatte.
Sabin räusperte sich und beschloss, es mit dem Essen noch mal zu versuchen, sobald sich ihr Magen beruhigt hatte. Jetzt sollten sie erst mal ihr Gespräch fortsetzen. Immerhin hatte sie ihren Teil der Abmachung erfüllt und etwas gegessen.
„Du wolltest wissen, wofür ich dich brauche. Tja, ich brauche deine Hilfe, um die Männer zu finden und zu töten, die verantwortlich sind für deine … Misshandlung.“ Schön langsam. Bloß nicht mit schmerzhaften Erinnerungen ihre dunkle Seite wecken. Doch er konnte das Thema nicht umgehen. „Die anderen … sie haben uns erzählt, was die Menschen getan haben. Die Fruchtbarkeitsdrogen, die Vergewaltigungen. Dass früher noch mehr Frauen in den Zellen eingesperrt gewesen sind. Frauen, die auch vergewaltigt worden sind und denen man ihre Babys weggenommen hat. Einige schienen zu denken, dass es schon seit vielen Jahren so verlief.“
Gwen hatte sich bereits mit dem Rücken gegen die sandfarbene Zeltwand gepresst. Und trotzdem versuchte sie, noch weiter zurückzurutschen, als müsste sie vor seinen Worten und den Vorstellungen und Erinnerungen fliehen, die sie heraufbeschworen.
Sabin war selbst erschrocken, als er die Schauergeschichten gehört hatte. Er mochte zur Hälfte ein Dämon sein, aber niemals hatte er jemandem etwas so Grausames angetan wie die Jäger den Frauen in der Höhle.
„Diese Männer sind abscheulich“, fuhr er fort. „Sie müssen vernichtet werden.“
„Ja.“ Sie löste einen Arm aus der Umklammerung und zeichnete kleine Kreise in den Schmutz. „Aber ich … wurde nicht …“ Die Worte kamen so zaghaft aus ihrem Mund, dass Sabin sich anstrengen müsste, um sie zu verstehen.
„Du wurdest nicht was? Vergewaltigt?“
Während sie sich auf die Unterlippe biss – eine nervöse Angewohnheit von ihr? –, nickte sie. „Er hatte zu große Angst, meine Zelle zu öffnen, deshalb hat er mich in Ruhe gelassen. Zumindest körperlich. Er … hat die anderen vor meinen Augen missbraucht.“ In ihrer Stimme schwangen Schuldgefühle mit.
Aha. Sie fühlte sich verantwortlich.
Sabin verspürte nur Erleichterung. Der Gedanke daran, dass dieses elfenhafte Geschöpf festgehalten wurde, ihre Beine auseinandergedrückt, während sie weinte und um Gnade flehte – Gnade, die nie gewährt worden wäre … Er presste sich die Hände an die Hüften, während sich seine Fingernägel zu Krallen verlängerten und durch den Stoff seines Tarnanzugs schnitten.
Wenn ich wieder in Budapest bin, werden die Jäger in meinem Kerker ungeahnte Qualen erleiden, dachte er bestimmt zum tausendsten Mal. Er hatte schon viele Menschen gefoltert und betrachtete es als notwendigen Teil seines Krieges. Aber dieses Mal würde er es so richtig genießen.
„Aber warum hat er dich dann behalten, wenn er doch Angst vor dir hatte?“
„Weil er die Hoffnung nicht aufgab, dass mich die richtigen Drogen gefügig machen würden.“
Wo seine Krallen auf die nackte Haut trafen, traten Blutstropfen hervor.
Er war sicher, dass Gwen in der ständigen Panik gelebt hatte, dass genau das eines Tages geschehen könnte. „Du kannst dich rächen, Gwen. Du kannst die anderen Frauen rächen. Ich kann dir dabei helfen.“
Sie hob die Lider. Der Sand, mit dem sie gespielt hatte, war vergessen. Und dann schien sich der Blick aus diesen bernsteingelben Kugeln direkt in seine Seele zu bohren. „Das kannst du auch. Uns rächen, meine ich. Offensichtlich haben diese Männer auch dir etwas angetan. Du bist doch hergekommen, um gegen sie zu kämpfen?“
„Ja, sie haben mir und den meinen etwas angetan, und, ja, ich bin hergekommen, um gegen sie zu kämpfen. Aber das heißt nicht, dass ich sie allein vernichten kann.“ Sonst hätte er es schon längst getan.
„Was haben sie dir angetan?“
„Sie haben meinen besten Freund umgebracht. Und sie hoffen, jeden umbringen zu können, der mir wichtig ist – und alles nur, weil sie die Lügen ihres Anführers glauben. Ich versuche schon seit Jahrhunderten, sie auszumerzen“, gestand er. Die Tatsache, dass sich die Jäger immer noch vermehrten, schmerzte ihn wie ein Dolch zwischen den Rippen. „Aber wenn ich einen töte, nehmen fünf neue seinen Platz ein.“
Als sie bei dem Wort Jahrhunderte‘ nicht blinzelte, wurde ihm klar, dass sie wusste, dass auch er unsterblich war. Aber wusste sie, was er war?
Das hat sie auf keinen Fall erraten. Wie fast alle Frauen in deinem Leben würde sie verachten, was du bist. Wie könnte sie auch anders? Sieh sie dir an. So süß, so sanft. Kein Zeichen von Hass. Noch nicht. Die letzten Worte waren wie ein Singsang.
Zweifel. Sein ständiger Begleiter. Das Päckchen, das er zu tragen hatte.
„Woher weiß ich, dass du keiner von ihnen bist?“, fragte sie hitzig. „Woher weiß ich, dass dies nicht einfach nur ein weiterer Versuch ist, mich zur Kooperation zu bewegen? Ich helfe dir, deinen Feind zu bekämpfen, und du vergewaltigst mich. Ich werde schwanger, und du stiehlst mir mein Kind.“
Zweifel. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von seinem Dämon?
Bevor er sich eine Antwort überlegen konnte, fügte sie mit fester Stimme hinzu: „Ich habe dich beim Kampf gegen diese Männer beobachtet. Du hast sie verletzt, hast behauptet, sie zu hassen, aber du hast sie nicht getötet. Du hast sie am Leben gelassen. So verhält sich kein Krieger, der seinen Feind auslöschen will.“
Während sie sprach, kam ihm eine Idee. Er wusste einen Weg, sich zu beweisen. „Und wenn wir sie töten würden – wärst du dann überzeugt davon, dass wir sie hassen?“
Noch mehr Knabbern an der sinnlichen Unterlippe. Ihre Zähne waren weiß und gerade und ein bisschen spitzer als die eines Menschen. Wenn man sie küsste, floss wahrscheinlich Blut, doch ein Teil von ihm ahnte, dass es jeden Tropfen wert wäre. „Ich … vielleicht.“
Vielleicht war besser als nichts. „Lucien“, rief er, ohne seine Aufmerksamkeit von ihr zu wenden.
Ihre Augen wurden größer, und sie versuchte erneut, sich zurückzuziehen. „Was machst du denn? Hör auf …“
Lucien trat durch den Zelteingang und sah erwartungsvoll zwischen den beiden hin und her. „Ja?“
„Bring mir einen Gefangenen aus Buda. Egal, welchen.“
Lucien zog neugierig die Augenbrauen hoch, doch er erwiderte nichts. Er ging einfach.
„Ich kann dir nicht helfen, Sabin“, sagte Gwen gequält und um Verständnis flehend. „Wirklich nicht. Es gibt keinen Grund, zu tun, was auch immer du vorhast. Ich hätte dich nicht so anschreien sollen. Okay? Das gebe ich zu. Ich hätte dich nicht mit meinen Zweifeln beleidigen sollen. Aber ich kann wirklich gegen niemanden kämpfen. Wenn ich Angst habe, erstarre ich. Und dann falle ich in Ohnmacht. Wenn ich wieder zu mir komme, sind alle um mich herum tot.“ Sie schluckte und kniff für einige Sekunden die Augen zusammen. „Wenn ich erst mal anfange zu töten, kann ich nicht mehr aufhören. Das ist nicht gerade die Art Krieger, auf die du dich verlassen kannst.“
„Mich hast du nicht umgebracht“, erinnerte er sie. „Und meine Freunde auch nicht.“
„Ich weiß ehrlich nicht, wie ich mich zurückgehalten habe. Das ist vorher noch nie passiert. Ich wüsste nicht, wie ich das noch mal schaffen sollte.“ Sie wurde blass.
Lucien war mit einem zappelnden Jäger im Schlepptau zurückgekehrt.
Sabin griff hinter sich, zog einen Dolch hervor und stand mit entschlossener Miene auf.
Als Gwen das glänzende Silber sah, keuchte sie erschrocken. „W…was hast du vor?“
„Ist dieser Mann einer von deinen Peinigern?“, fragte er Gwen, die jetzt am ganzen Körper zitterte.
Schweigen. Ihr Blick wanderte ängstlich von einem Mann zum nächsten. Sie wusste genau, was im nächsten Moment geschehen würde, aber sie befanden sich nicht in der Hitze eines Gefechts. Es wäre ein kaltblütiger Mord.
Der Jäger trat und schlug nach Lucien. Als er damit nicht die ersehnte Freiheit erlangte, begann er zu schluchzen. „Lasst mich gehen, lasst mich gehen, lasst mich gehen. Bitte. Ich habe nur getan, was man mir befohlen hat. Ich wollte die Frauen nicht verletzen. Das alles war doch für das große Ganze.“
„Sei still“, befahl Sabin. Diesmal wäre er derjenige, der keine Gnade zeigen würde. „Aber du hast keine von ihnen gerettet, oder?“
„Ich werde nicht länger versuchen, euch zu töten. Das schwöre ich!“
„Gwendolyn.“ Sabins Stimme war hart, erbarmungslos, ein Grollen – verglichen mit dem Flehen des Jägers. „Eine Antwort. Bitte. Ist dieser Mann einer von deinen Peinigern?“
Ein kurzes Nicken.
Ohne ein Wort der Warnung von sich zu geben, schnitt er dem Jäger die Kehle durch.