16. KAPITEL
S abin hatte wenigstens einen Jäger am Leben lassen wollen, damit sie ihn verhören und vielleicht ein bisschen foltern konnten. Doch als sie auf Gwen geschossen hatten, hatte er das Vorhaben aufgegeben. Die zweite Kugel war ein Versehen gewesen, aber da hatte die Wut schon gänzlich von ihm Besitz ergriffen – eine Wut, die er so noch nicht erlebt hatte. Er hatte die Männer wie Vieh abgeschlachtet, hatte einem nach dem anderen die Kehle mit seinem Messer aufgeschlitzt. Doch weder in jenem Moment noch in diesem schien es ihm genug zu sein.
Auf dem Weg zur Burg hatte er Lucien angerufen, der zuerst Maddox und Strider für Aufräumarbeiten an den Tatort gebracht hatte und dann zur Burg zurückgekehrt war, um Gideon und Cameo mit der Suche nach weiteren Jägern zu beauftragen, die womöglich in ihrer Nähe waren. Leider hatten sie keine gefunden – was nicht bedeutete, dass keine mehr da waren, sondern nur, dass sie sich gut versteckt hatten.
Am liebsten hätte er mindestens noch ein Dutzend weitere umgebracht.
In den zwei Tagen danach hatte Gwen nur wenige Male das Bewusstsein erlangt. Sie war so benommen, dass Sabin zigmal hin und her überlegt hatte: sie ins Krankenhaus in die Stadt bringen oder hierbehalten? Am Ende entschied er sich jedes Mal dafür, sie in seinem Zimmer zu lassen. Sie war kein Mensch. Die Ärzte würden ihr im Zweifel mehr schaden als helfen.
Aber warum erholte sie sich nicht schneller? Sie war unsterblich, eine Harpyie. Anya kannte ihre Art und schwor, dass ihre Wunden genauso schnell heilten wie die der Herren. Doch obwohl er die Kugeln entfernt hatte, klafften die Einschusswunden immer noch auseinander, sodass man das rohe Fleisch sah.
Während einer Diskussion am Morgen hatten Danika und Ashlyn vorgeschlagen, sie in den Zwangskäfig zu legen und ihr zu befehlen, zu heilen. Voller Hoffnung hatte Sabin es schließlich getan. Doch ihr Zustand hatte sich nur noch verschlechtert. Für solche Dinge war der Käfig nicht gedacht, und Sabin wurde klar, dass sie zwar wussten, welche Macht dem Artefakt innewohnte, es aber trotzdem noch viel zu lernen gab.
Sabin hatte versucht, Cronus herbeizurufen, aber der Götterkönig ignorierte ihn offensichtlich. Verfluchte Götter! Sie zeigten sich immer nur, wenn sie etwas wollten. Nun ertappte er sich dabei, wie er betete, dass Gwens Schwestern endlich eintrafen. Sie wüssten, was zu tun war – falls sie nicht zuerst jeden zerstückelten, der sich in der Burg aufhielt. Die Nummer, die Gwen am Vortag gewählt hatte, war in seinem Telefon gespeichert, und er hatte sie gewählt, um die Schwestern um Rat zu bitten und ihnen zu sagen, dass sie sich beeilen sollten. Doch die Frau am anderen Ende der Leitung war beinah in Flammen aufgegangen, sobald sie gemerkt hatte, dass Gwen nicht die Anruferin war. Als er nicht in der Lage gewesen war, Gwen ans Telefon zu holen, hatte sie angefangen, seine Männlichkeit zu bedrohen.
Kein gutes Omen für alles, was noch bevorstand.
„Kann ich dir irgendetwas bringen?“
Die Frage kam von der Tür, und Sabin fuhr überrascht zusammen. Normalerweise konnte sich nicht mal eine Spinne an ihn heranschleichen, ohne dass er es merkte. Doch in letzter Zeit gelang es jedem und allem. Verfluchte Jäger. Sie hatten in der Stadt auf ihn gelauert, ihn beobachtet und darauf gewartet, dass er in irgendeiner Form versagte, sodass sie sich Gwen schnappen konnten. Und er zum Teufel hatte es nicht gewusst.
„Sabin?“
„Ja.“ Er lag auf dem Bett und hielt Gwen im Arm. Sie hatte aufgehört, vor Schmerzen zu stöhnen – wenigstens das. Mein Schützling, und ich habe sie im Stich gelassen. Schlimmer noch: Er hatte ihr versprochen, dass die Jäger ihr nie wieder wehtaten. Oder etwa nicht? Falls nicht, hätte er es versprechen sollen. Die Schuldgefühle fraßen ihn auf.
Hast du etwa weniger erwartet?
Zweifel hatte ihm unlängst seine finsteren Gedanken aufgezwungen und ließ keine Sekunde nach.
„Sabin.“
Er ballte die Hände zu Fäusten und sah Kane an, der im Türrahmen stand. Dunkles Haar, haselnussbraune Augen. Auf der linken Wange war ein weißer Streifen zu sehen. Vermutlich Mauerputz, dachte Sabin. Decken stürzten gern auf den Hüter des Unglücks herab.
„Alles okay?“
„Nein.“ Eigentlich sollte er den nächsten Schlag gegen seinen Feind vorbereiten. Er sollte bei seinen Männern sein und sich für die Schlacht bereit machen. Er sollte auf der Straße sein und jagen. Stattdessen konnte er sich kaum dazu aufraffen, sein Schlafzimmer zu verlassen. Wenn sein Blick nicht auf Gwen ruhte, wenn er nicht beobachtete, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, verlor er langsam den Verstand, und er war unfähig, Zweifel mit Logik abzuwehren.
Was zum Teufel war nur los mit ihm? Sie war doch nur ein Mädchen. Ein Mädchen, das er benutzen wollte. Ein Mädchen, das vermutlich im Kampf gegen seinen Feind starb – ein Mädchen, das er gebeten hatte, gegen seinen Feind zu kämpfen. Ein Mädchen, das er nicht haben konnte. Ein Mädchen, das er erst seit Kurzem kannte …
Dass ich jetzt bei ihr bin und auf sie aufpasse, heißt nicht, dass ich sie über meine Mission stelle, versicherte er sich. Sobald er sie ausgebildet hätte, wäre sie eine Killermaschine. Niemand könnte sie aufhalten. Deshalb war er hier, war er unfähig, sie zu verlassen, und wartete so verzweifelt auf ihre Genesung.
„Wie geht es ihr?“, ertönte plötzlich eine Frauenstimme.
Wieder blinzelte er überrascht. Verdammt, seine Gedanken schweiften in letzter Zeit ziemlich häufig ab. Ashlyn und Danika waren wieder da – er hatte vergessen, wie oft sie schon hier gewesen waren – und standen nun neben Kane.
„Sie hält sich tapfer.“ Warum heilten ihre Wunden nicht, verflucht? „Wie war das Treffen?“ Wegen des Angriffs war es auf diesen Morgen verlegt worden.
Kane zuckte die Schultern, daraufhin sprühte die Glühbirne der Lampe in der Ecke Funken. Dann explodierte sie. Die Frauen kreischten und sprangen zur Seite. An solche Vorkommnisse gewöhnt, fuhr Kane fort, als wäre nichts geschehen: „Alle sind sich einig: Baden kann unmöglich überlebt haben. Jeder von uns hat seinen Kopf in den Händen gehalten, bevor wir ihn verbrannt haben. Entweder gibt sich irgendwer als Baden aus, oder sie haben das Gerücht in die Welt gesetzt, um uns von unserem Ziel abzulenken.“
Variante Nummer zwei ergab durchaus einen Sinn. Das sah den Jägern ähnlich. Weil sie nicht so stark waren wie die Krieger, waren ihre besten Waffen List und Tücke.
Danika ging langsam zu Gwen hinüber und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Ashlyn stellte sich neben sie und nahm Gwens Hand, wahrscheinlich, um etwas von ihrer Kraft in den geschwächten kleinen Körper zu projizieren. Ihre Anteilnahme rührte Sabin. Sie kannten sie kaum, trotzdem sorgten sie sich um sie. Weil er sich sorgte.
„Galen weiß doch, dass wir wissen, dass er der Anführer der Jäger ist“, sagte er an Kane gewandt. „Warum hat er nicht wieder angegriffen?“
„Vermutlich heckt er einen Plan aus. Sammelt seine Kräfte. Verbreitet Lügen über Baden, um uns zu verwirren.“
„Ich werde ihn umbringen.“
„Vielleicht schon eher, als du denkst. Ich habe ihn letzte Nacht in meinen Träumen gesehen“, warf Danika ein, ohne aufzusehen. „Er war mit einer Frau zusammen. Die Szene war so echt, dass ich sie heute Morgen nach dem Aufwachen gemalt habe. Möchtest du das Bild sehen?“
Arme Danika. Sie wurde fast jede Nacht von grausigen Visionen heimgesucht. Dämonen, die Seelen quälten, Götter, die gegen andere Götter kämpften, geliebte Personen, die starben. Feinfühlig, wie sie als Mensch nun mal war, mussten die entsetzlichen Dinge, die sie beobachtete, sie völlig verängstigen, doch sie ertrug sie mit einem Lächeln. Immerhin hatten sie ihrem Mann geholfen.
Was Gwen wohl täte, wenn sie solche Visionen hätte?, fragte er sich. Würde sie genauso zittern wie damals in der Pyramide? Oder würde sie mit gefletschten Zähnen angreifen wie die Harpyie, als die sie geboren wurde?
„Sabin?“, fragte Kane. „Deine Zerstreutheit beleidigt unseren Stolz.“
„Entschuldigt. Ja, bitte. Ich möchte es sehen.“
Danika wollte gerade aufstehen, da hielt Kane sie zurück. „Bleib hier. Ich hole es.“ Er verschwand im Flur und kehrte wenige Minuten später mit einer Leinwand zurück, die so breit war wie sein Arm lang. Er hielt sie hoch, und das Licht brachte die dunklen Farben zum Glänzen.
Es sah aus wie eine Höhle. Die zerklüfteten Felsen waren mit Blut und Ruß besprenkelt. Auf dem mit Zweigen und Schmutz bedeckten Boden lagen ein paar Knochen verstreut. Höchstwahrscheinlich von einem Menschen. Und dort, in der Ecke am anderen Ende der Höhle, stand Galen, die gefiederten Flügel ausgebreitet. Sein blasses Gesicht war dem Betrachter zugewandt, und in der Hand hielt er ein … Sabin musste die Augen zusammenkneifen, um es zu erkennen. Ein Blatt Papier?
An seiner Seite stand tatsächlich eine Frau, die man allerdings nur undeutlich im Profil sah. Sie war groß und dünn und hatte schwarze Haare. Aus ihren Mundwinkeln tropfte Blut. Sie sah sich ebenfalls das Blatt an.
„Ich habe sie noch nie gesehen.“
„Wir auch nicht“, erwiderte Kane. „Trotzdem wirkt sie auf seltsame Art vertraut, findest du nicht auch?“
Er betrachtete sie genauer. Nein, keiner ihrer Gesichtszüge kam ihm vertraut vor. Außer vielleicht die Art, wie sie die Stirn runzelte … die Falten in den Augenwinkeln … vielleicht.
„Ich wünschte, ich hätte sie besser sehen können“, sagte Danika.
„Es ist schon ein Wunder, dass du überhaupt etwas gesehen hast“, versicherte Ashlyn ihr.
Kane nickte. „Torin wird das Bild einscannen und mit ein bisschen Zauberei ein komplettes Profil daraus basteln. Vielleicht erfahren wir dann mehr über sie. Wenn sie eine Unsterbliche ist, taucht sie vermutlich in keiner Datenbank der Menschen auf, aber es ist auf jeden Fall einen Versuch wert.“
„Warum sind sie auf dem Bild zu sehen?“, fragte Sabin, während er seine Aufmerksamkeit von der Frau abwandte und sich auf ihre Umgebung konzentrierte.
„Das weiß ich nicht, aber auch dem werden wir nachgehen.“ Kane stellte das Gemälde auf seinen Stiefelspitzen ab. „Galen zu finden ist zur obersten Priorität geworden. Wenn es uns gelingt, ihn zu töten, können wir den Jägern ein für alle Mal den Garaus machen. Ohne ihn als unsterblichen Anführer müssten die anderen eigentlich zerfallen.“
Gwen bewegte sich, und ihre Knie streiften Sabins Oberschenkel.
Er erstarrte, traute sich nicht mal mehr zu atmen. Sie sollte endlich aufwachen. Andererseits sollte sie auch keine Schmerzen spüren. Mehrere Minuten vergingen, ohne dass sich ihr Zustand veränderte.
Ich schätze, dass sie sterben wird.
Fick dich.
Du bist schuld an der Sache, nicht ich.
Das konnte er nicht anfechten. „Wie steht es mit unserer Suche nach der Büchse?“, fragte er Kane. „Was ist mit der Trainings anläge oder dem Internat oder was es auch immer für ein Ding ist, wo sie die Kinder verstecken? Und ich möchte noch mal in den Tempel der Unerwähnten gehen und ihn durchsuchen.“
Der Tempel befand sich in Rom und hatte sich erst vor Kurzem aus dem Meer erhoben – als Endpunkt eines Prozesses, der begonnen hatte, als die Titanen die Griechen gestürzt und die Kontrolle über den Himmel an sich gerissen hatten. Dank Anya wusste Sabin, dass diese Tempel ursprünglich als Orte der Verehrung vorgesehen waren. Als Mittel, um die Welt wieder zu dem zu machen, was sie einst gewesen war: ein Spielplatz für die Götter.
„Das sind die Prioritäten zwei, drei und vier“, erklärte Kane, „aber so wie ich Torin kenne, führt er auf verschiedenen Computern mehrere Suchen gleichzeitig durch. Nur noch ein paar Tage, dann können wir sehr wahrscheinlich wieder aktiv werden.“
Ob Gwen sich bis dahin erholt hatte? „Irgendwelche Neuigkeiten zum dritten Artefakt?“ Manchmal hatte der Tag einfach nicht genügend Stunden, um alles zu erledigen, was erledigt werden musste. Die Jäger bekämpfen, die alten Reliquien der Götter finden, am Leben bleiben. Eine zierliche Frau heilen.
„Noch nicht. Maddox und Gideon bringen Ashlyn später in die Stadt, damit sie sich umhören kann.“
Hoffentlich sprachen die Jäger, die gekommen waren, um Gwen zu holen, über ihre Pläne. Zum Beispiel darüber, wohin sie sie bringen wollten. Diesen Ort würde er allein aus Prinzip in die Luft jagen.
„Haltet mich über alles auf dem Laufenden.“
Wieder nickte Kane. „Betrachte es als erledigt.“
„Sabin.“
Es war ein raues, kratziges Flehen – und es kam von Gwen. Sein Kopf flog förmlich in ihre Richtung. Ihre Augen öffneten sich, und die Lider flatterten, als sie versuchte, ihn zu fixieren.
Sein Herz begann zu rasen, seine Haut zog sich zusammen, sein Blut erhitzte sich.
„Sie wacht auf“, sagte Danika aufgeregt.
„Vielleicht sollten wir …“ Kane presste die Lippen aufeinander, als das Bild auf den Boden knallte. Mit finsterem Blick hielt er den Rahmen oben fest. „Tut mir leid, Danika.“
„Kein Problem.“ Sie sprang auf, ging zu ihm hinüber und nahm ihm vorsichtig die beiden Hälften ab. „Das lässt sich kleben.“
Ashlyn kam zu ihnen und rieb sich auf dem Weg ihren immer runder werdenden Bauch. „Kommt. Wir sollten die beiden ein bisschen allein lassen.“
Und dann waren sie auch schon durch die Tür, die hinter ihnen zuging.
„Sabin?“ Diesmal klang Gwen etwas kräftiger.
„Ich bin hier.“ Er ließ die Finger mehrmals an Gwens Arm hoch-und runtergleiten, um ihr so viel Trost zu spenden, wie es ihm möglich war. Seine Erleichterung war unfassbar. „Wie fühlst du dich?“
„Wund. Schwach.“ Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah kurz an sich hinab. Ein schwarzes T-Shirt bedeckte ihre Blöße, und sie seufzte erleichtert. „Wie lange bin ichbewusstlos gewesen?“
„Ein paar Tage.“
Sie rieb sich das müde Gesicht, das für seinen Geschmack immer noch zu blass war. „Was? Wirklich?“
Ihre Überraschung war echt. „Wie lange brauchst du denn normalerweise, um dich zu erholen?“
„Ich weiß nicht.“ Sie war so schwach, dass sie ihren Arm nicht für längere Zeit hochhalten konnte. Sie ließ ihn wieder auf die Matratze fallen. „Ich war noch nie verletzt. Verdammt noch mal, ich kann nicht glauben, dass ich eingeschlafen bin.“
Ihre Worte verblüfften ihn. „Das ist unmöglich. Dass du noch nie verletzt gewesen bist.“ Jeder, selbst Unsterbliche, schürften sich irgendwann in ihrem Leben mal die Knie auf, stießen sich irgendwo den Kopf oder brachen sich ein Bein.
„Wenn man Schwestern hat wie ich, die einen immerzu beschützen, ist es möglich.“
Ihren Schwestern war es also gelungen, für ihre Sicherheit zu sorgen – ganz im Gegensatz zu ihm. Das ärgerte ihn.
Hast du etwas anderes erwartet?
Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich heute hasse? Aber sie ist entführt worden, weil sie sich nciht wehren konnte, rief er sich ins Gedächtnis. Er hingegen hatte sie gerettet.
„Habe ich dir nicht gesagt, dass du im Auto warten sollst?“, murmelte er missmutig.
Ihr bernsteinfarbener Blick, in dem eine Spur Schmerz und eine ordentliche Portion Wut lagen, traf ihn. „Du hast mir gesagt, dass ich entweder warten oder dir helfen soll. Ich habe mich fürs Helfen entschieden.“ Mit jedem Wort wurde ihre Stimme schwächer. Ihre Augenlider flatterten wieder, bereit, sich für einen weiteren viel zu langen Schlaf zu schließen.
Seine Wut verebbte. „Bleib wach. Bitte.“
Ihre Augen öffneten sich halb, und sie verzog die Lippen zu einem müden Lächeln. „Ich mag es, wenn du um etwas bettelst.“
Es verhieß nichts Gutes, dass er plötzlich um ein paar Küsse flehen wollte. „Gibt es irgendwas, das dir hilft, wach zu bleiben?“ Dank Anya, Danika und Ashlyn hatte er alles, was sich ein Patient auf seinem Nachtschrank nur wünschen konnte. „Wasser? Schmerzmittel? Essen?“
Sie leckte sich die Lippen, und ihr Magen knurrte. „Ja, ich … nein.“ Jedes einzelne Wort troff vor Verlangen. „Nichts. Ich brauche nichts.“
Ihre verdammten Regeln, dachte er. Obwohl er keinen Hunger hatte, nahm er sich das Truthahnsandwich und biss hinein. Dann setzte er sich das Wasserglas an die Lippen und trank. „Das ist meins, aber der Rest ist für dich“, erklärte er ihr und wies dabei auf die Schale mit Weintrauben, die noch auf dem Schränkchen stand.
„Wie gesagt. Keinen Hunger.“
Für keine Sekunde verlor sie die Aufmerksamkeit für das Essen in seiner Hand. „Na gut. Dann essen wir später.“ Er platzierte Sandwich und Glas wieder auf dem Tablett und griff nach seinem Handy, als könnte er es kaum erwarten, eine wichtige Textmitteilung zu verschicken. „Dauert nur einen kurzen Moment.“
Er drehte sich von ihrem warmen Körper weg und setzte sich hin. Dann schrieb er: „T, ruf mich an, wenn du neue Infos hast.“
Die Antwort folgte unmittelbar: „Was denkst du denn?“
Er legte sich wieder hin. Das Sandwich war verschwunden und das Wasserglas leer. Er hatte nicht mal gesehen, dass sie sich bewegt hatte. Er tat, als bemerkte er das fehlende Essen nicht, als er das Telefon in seine Hosentasche steckte. „Sicher, dass du nichts brauchst?“
Sie schluckte hörbar, und er musste ein Lachen unterdrücken. „Ich muss zur Toilette. Und unter die Dusche.“
„Keine Dusche. Nicht ohne mich. Du bist so schwach, dass du am Ende noch fällst.“ Sabin hob sie hoch. Er hatte erwartet, dass sie protestieren würde, doch stattdessen barg sie den Kopf an seinem Hals. Wie vertrauensselig. Verdammt, aber es gefiel ihm.
„Dann werde ich nicht duschen. Es passieren komische Dinge, wenn wir zusammen duschen.“
Als ob man ihn daran erinnern müsste. „Ich werde mich zusammenreißen“, versprach er.
„Aber gilt das auch für deinen Dämon? Ich habe gerade nicht die Kraft, ihn zu bekämpfen. Gib mir einfach … zehn Minuten“, sagte sie, als er sie absetzte. Ihre Locken hatten sich rings um ihren Kopf verknotet. „Und komm nur, um mich zu retten, wenn du hörst, wie meine Knochen auf das Porzellan schlagen“, fügte sie hinzu, während sie sich am Waschbecken festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Er spürte, wie seine Lippen zuckten. Wie erleichtert er doch war, dass sie schon wieder stark genug war, um ihn herauszufordern. „Versprochen.“
Neun Minuten später kam sie aus dem Bad. Ihr Gesicht war feucht, und der Duft von Zitronen hüllte sie ein. Sabin lechzte nach einer Kostprobe, nach einer größeren, volleren Kostprobe, als er sie beim letzten Mal bekommen hatte. Gwen hatte sich das Haar gekämmt, das ihr jetzt locker auf den Rücken fiel. „Fühlst du dich besser?“
Sie blickte stur auf den Fußboden, und ihre Wangen glühten. „Viel besser. Danke.“ Als sie versuchte, einen Schritt vorwärts zu machen, gaben ihr die Knie nach.
Sabin hielt sie sicher in den Armen, noch ehe sie zu Boden stürzen konnte. Wieder einmal war sie froh über seine Aufmerksamkeit. Genau wie er.
„Ich hab wohl ziemlich den Hintern versohlt bekommen, was?“, sagte sie und zuckte zusammen, als ihre verwundete Schulter das Bettlaken berührte.
„Ja.“ Er stellte sich neben das Bett und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber das wird nicht noch einmal passieren. Ich werde dich ausbilden.“ Ganz gleich, ob sie je wieder kämpfen würde oder nicht, sie musste lernen, sich anständig zu verteidigen.
Ob sie je wieder kämpft oder nicht – als stünde das inzwischen zur Debatte! Ich dachte, sie soll kämpfen – komme, was wolle. Für diesen Gedanken konnte er seinen Dämon nicht verantwortlich machen. Er kam einzig und allein aus seinem tiefsten Innern.
„Einverstanden“, antwortete sie und überraschte ihn damit. Erneut bewegten sich ihre Wimpernkränze aufeinander zu. „Du darfst mich ausbilden, weil du recht hattest. Der Gedanke, den Jägern wehzutun, gefällt mir.“
Das war nicht gerade die Antwort, die er von ihr erwartet hatte. „Vielleicht änderst du deine Meinung, bevor ich mit dir fertig bin. Ich werde dir wehtun, wenn auch nicht mit Absicht, und du wirst meinetwegen bluten und zusammenbrechen.“ Aber dadurch würde sie stärker werden, und deshalb würde er sie hart rannehmen.
Versuchst du gerade, ihr die Sache auszureden?
Nein, er wollte sie nur darauf vorbereiten. Im Gegensatz zu den anderen Kriegern betrachtete er weibliche Kämpfer nicht sofort als schwach, zerbrechlich und schutzbedürftig. Er schonte sie auch nicht – jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Vielleicht hatte sich Cameo deshalb für ihn entschieden, als er und Lucien die Gruppe damals geteilt hatten. Er behandelte sogar weibliche Jäger genauso wie männliche. Ob er schon welche gefoltert hatte? Und ob. Und es tat ihm nicht leid. Er würde es wieder tun. Er würde sie sogar noch stärker foltern, wenn nötig.
Doch bei Gwen war ihm in der Tat etwas unbehaglich zumute. Denn sie war weder nur irgendeine Kriegerin noch seine Feindin.
Keine Antwort.
„Gwen?“
Ein gehauchter Seufzer. Sie war wieder eingeschlafen. Sabin deckte sie zu, legte sich neben sie und widmete sich der mittlerweile vertrauten Aufgabe, darauf zu warten, dass sie wieder aufwachte.
„Wenn du dich auch nur einen Zentimeter bewegst, schlage ich dir deinen gottverdammten Kopf ab.“
Sabin wachte augenblicklich auf. Kalter Stahl bohrte sich in seine Halsschlagader, und ein Blutstropfen kullerte seinen Hals hinunter. In seinem Zimmer war es dunkel, die Vorhänge waren zugezogen. Er atmete ein und erhaschte einen Duft – weiblich. Der Eindringling roch nach Eis und Winterhimmel. Ihre langen Haare kitzelten ihn an der nackten Brust.
„Warum liegt meine Schwester in deinem Bett? Und warum schläft sie … und ist verletzt? Und erzähl mir jetzt nicht, dass es ihr gut geht, sonst zwinge ich dich, deine eigene Zunge zu essen. Ich kann ihre Wunden riechen.“
Die anderen Harpyien waren eingetroffen.
Offensichtlich waren sie ohne Probleme durch Torins hochmodernes Sicherheitssystem geschlüpft, denn es schrillte keine einzige Alarmglocke. Das war Sabin ein Beweis mehr dafür, dass er diese Frauen in seinem Team brauchte – vorausgesetzt, er hatte überhaupt noch ein Team. „Atmen meine Männer noch?“
„Bis jetzt schon.“ Die Klinge bohrte sich tiefer. „Also? Ich warte, und Geduld ist nicht gerade meine Stärke.“
Sabin verhielt sich vollkommen ruhig und versuchte erst gar nicht, nach seiner Waffe unter dem Kopfkissen zu greifen. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, sagte er zu Zweifel.
Ich dachte, du hasst mich.
Würdest du bitte einfach deinen Job machen?
Er hätte bei den Göttern schwören können, dass der Dämon in seinem Kopf seufzte. Bist du sicher, dass du diesen Mann verletzen willst?, fragte Zweifel die Harpyie. Was, wenn er Gwens Geliebter ist? Gwen könnte dich für immer hassen.
Ihre Hand begann zu zittern, und sie nahm etwas von dem Druck weg.
Gut gemacht. In Momenten wie diesem war er den Göttern für den Fluch dankbar. „Sie ist hier, weil sie hier sein will. Und sie ist verletzt, weil mein Feind uns angegriffen hat.“
„Und du hast sie nicht beschützt?“
„Das fragt die Richtige.“ Er biss die Zähne zusammen. „Nein, habe ich nicht. Aber ich habe aus meinem Fehler gelernt, und es wird nie wieder vorkommen.“
„Da hast du recht. Hast du ihr Blut gegeben?“
„Nein.“
Ein gereiztes Knurren. „Kein Wunder, dass sie hier mit dir herumliegt! Wie lange ist es her, dass sie verletzt worden ist?“
„Drei Tage.“
Ein wütendes Nach-Luft-Schnappen. „Sie braucht Blut, du Arsch. Sonst wird sie sich nie erholen.“
„Woher weißt du das? Sie hat mir erzählt, dass sie noch nie verletzt gewesen ist.“
„Natürlich war sie schon verletzt. Sie erinnert sich bloß nicht mehr daran. Dafür haben wir gesorgt. Und nur damit du es weißt: Du wirst für jeden Kratzer an ihrem Körper bezahlen. Ach ja, und falls ich herausfinde, dass du lügst und du derjenige bist, der ihr das angetan hat …“
„Ich habe ihr nichts getan.“ Trotzdem. Bei dem Gedanken dachte er sofort wieder klar.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Pass mal auf: Ich bin vielleicht beeindruckt von den Geschichten, die ich über euch gehört habe, aber das heißt nicht, dass ich so dumm bin, dir zu vertrauen.“
„Dann sprich mit Gwen.“
„Das werde ich auch. Gleich. Also, raus damit. Welcher Dämon bist du?“
Er erwog, ob es klug war, zu antworten. Wenn sie die Wahrheit kannte, wüsste sie sich gegen Zweifel zu schützen.
„Ich warte.“ Die Messerspitze drückte auf seine Halsschlagader.
Was soll’s, dachte er. Wenn er den Dämon gewähren ließ, hätte sie selbst dann keine Chance, wenn sie wüsste, welcher es war. Niemand hätte eine Chance, auch er nicht. „Ich bin von Zweifel besessen.“
„Ach so.“ Hörte er Enttäuschung in ihrem Ton? „Ich hatte auf Sex gehofft, oder wie ihr ihn nennt. Seine Eroberungsgeschichten höre ich am liebsten.“
Jawohl, Enttäuschung. „Ich werde euch miteinander bekannt machen.“ Vielleicht würde eine gute Nummer mit Paris die Stimmung der Frau etwas aufhellen. Und wenn er noch ein wenig weiterdachte: Vielleicht würde eine gute Nummer mit der Frau auch Paris’ Stimmung aufhellen.
„Bemüh dich nicht. Ich werde nicht lange genug hier sein, um mir Erinnerungen für später mitzunehmen. Gwen.“ Im nächsten Augenblick bebte Gwens Körper neben seinem.
Sabin fletschte die Zähne, als er merkte, dass Gwens Schwester kräftig an ihr rüttelte, und packte die Harpyie am Handgelenk. „Hör auf. Du tust ihr nur noch mehr weh.“
Auf einmal verschwand das Messer von seiner Kehle, ihr Arm riss sich aus seinem Griff los, und das Licht ging an. Seine Augen begannen zu tränen, er blinzelte. In der nächsten Sekunde war die Harpyie auch schon wieder an seinem Hals, ohne dass er Zeit gehabt hätte, sich zu bewegen.
Als er wieder klar sehen konnte, musterte er sie eingehend. Sie war hübsch, ihre Haut leuchtete genauso wie Gwens. Doch aus irgendeinem Grund war Sabin nicht wie versteinert, und ihn überkam auch nicht der Drang, sie ins Bett zu zerren. Sie hatte leuchtend rote Haare ohne die blonden Strähnen, die er bei Gwen so mochte. Dafür hatten sie die gleichen bernsteinfarbenen Augen und die gleichen sinnlichen roten Lippen. Doch während Gwen die pure Unschuld ausstrahlte, pulsierten in dieser Frau Jahrhunderte des Wissens und der Macht.
„Hör zu“, begann er und wurde sogleich wieder still, als das Messer seine Haut ritzte.
„Nein, du hörst zu. Ich bin Kaia. Du kannst froh sein, dass ich diejenige bin, die dieses Messerchen in der Hand hält, und nicht Bianka oder Taliyah. Du hast Bianka angerufen und dich geweigert, sie mit Gwennie sprechen zu lassen, und jetzt will sie dich verprügeln – und zwar mit deinen eigenen Gliedmaßen. Taliyah will dich den Schlangen zum Fraß vorwerfen, Stück für Stück. Und ich, tja, ich bin gewillt, dir die Chance zu geben, dich zu erklären. Welche Pläne hattest du für sie?“
Er hätte reden und ihr sagen können, was sie wissen wollte, doch er tat es nicht. Nicht so. Wenn Gwens Schwestern länger hierblieben – und trotz Kaias Wut ging er davon aus, dass sie blieben – und für ihn kämpften, musste er sich als Kommandant behaupten.
Ohne mit einem Muskel zu zucken und sie damit vor dem zu warnen, was gleich geschehen würde, zog er Kaia auf sich. Die Klinge versank tief in seinem Hals und traf eine Sehne, doch davon ließ er sich nicht beeindrucken. Er rollte sie auf den Rücken, weg von Gwen, und hielt sie mit dem Gewicht seines muskulösen Körpers auf der Matratze fest.
Statt sich zu wehren, lachte sie. Das klimpernde Geräusch war wie Musik in seinen Ohren. „Elegante Bewegung. Kein Wunder, dass sie in deinem Bett liegt. Allerdings muss ich sagen, dass ich ein bisschen enttäuscht bin, weil du nicht auf meinen Kopf losgegangen bist. Von einem Herrn der Unterwelt hätte ich mehr erwartet.“
Offenbar hatte die bebende Matratze Gwen endlich geweckt, denn sie rang schwach nach Atem. Dann krächzte sie: „Kaia?“
Kaia richtete alle Aufmerksamkeit auf sie, und auf ihren Lippen zeigte sich ein bezauberndes Lächeln. „Hey, Baby. Lange nicht gesehen. Du denkst jetzt bestimmt, ich bin sauer auf dich, weil du eingeschlafen bist, aber du irrst dich. Ich weiß genau, wem ich die Schuld dafür geben muss. Um genau zu sein, waren dein Mann und ich gerade dabei, ein paar Details über deinen Aufenthalt hier zu klären. Wie geht es dir?“
„Du liegst unter ihm. Du liegst unter Sabin.“ Gwens Pupillen fraßen den Goldton auf … das Weiße … Ihre Nägel wurden länger und schärfer. Ihre Zähne glänzten bedrohlich in dem Licht.
Kaia japste. „Sie wird … sie wird wirklich …“
„Ja. Zur Harpyie.“ Mist. Sabin stieß Kaia mit aller Kraft vom Bett. Sie landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden, doch das kümmerte ihn nicht. Kaum waren seine Arme frei, zog er Gwen an seinen warmen Körper, legte ihr einen Arm locker um den Hals und liebkoste ihr Gesicht, während er mit der anderen Hand die weichen Konturen ihres Bauchs streichelte, und zwar dort, wo ihr T-Shirt hochgerutscht war.
Sie bohrte ihm die Krallen in die Schultern und versenkte sie bis zu seinen Knochen, doch er ließ sich den Schmerz nicht anmerken. Sie hätte ihm noch viel mehr antun können.
„Wir haben uns nur unterhalten. Ich hätte ihr nicht wehgetan. Ich habe sie nur festgehalten, um das Messer aus meinem Hals zu ziehen, das ist alles. Sie ist hier, um dir zu helfen. Sie will nur das Beste für dich.“
„Willst du sie?“, fragte Gwen, und ihr Atem rasselte.
„Nein. Ich will sie nicht. Und sie will mich auch nicht. Das schwöre ich. Du weißt doch, dass ich nur dich will.“
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Kaia aufgestanden war und ihn nun verzückt beobachtete.
Allmählich zogen sich Gwens Krallen zurück und hinterließen tiefe blutende Wunden. Ihr Blick klärte sich. Und während der ganzen Zeit war Zweifel seltsam still. Fast schon totenstill, als hätte er sich in die hinterste Ecke von Sabins Kopf verkrochen.
„Wow“, sagte Kaia schließlich. Sie klang leicht gereizt. „Beeindruckend. Du hast eine Harpyie allein mit Worten beruhigt. Du weißt, was das heißt, oder?“
Er würdigte sie keines Blickes. Stattdessen widmete er Gwen seine ungeteilte Aufmerksamkeit, ließ seine Hand an ihrem Bein hinabgleiten und winkelte es schließlich an, sodass ihr Knie auf seiner Hüfte lag und ihre Unterkörper sich eng aneinanderschmiegten. „Nein, ich habe keine Ahnung.“
„Du bist der Gemahl meiner Schwester. Herzlichen Glückwunsch.“