8. KAPITEL

I ch will ein eigenes Zimmer.“

„Nein.“

„Einfach so? Ohne zu zögern?“

„Genau. Du bleibst hier.“ Die Worte „bei mir“ auszusprechen verbot er sich, aber er brauchte sie auch gar nicht auszusprechen. Es war auch so klar genug. „Ich lebe noch nicht lange in Buda und war noch nicht oft in diesem Zimmer, aber es gehört mir.“ Genauso wie du. Wieder nicht ausgesprochen und trotzdem da.

Gwen saß auf der Kante eines fremdartigen und doch opulenten Bettes in einem fremdartigen und beängstigend maskulin eingerichteten Schlafzimmer in einer fremdartigen und massiven Burg mit einem gar nicht fremdartigen und faszinierenden Mann, den sie auf gewisse Art und Weise geküsst hatte und gern wieder geküsst hätte, jedoch nicht küssen konnte, weil er nichts von ihr wollte. Und eigentlich war auch nicht sie diejenige, die sich nach diesem Kuss sehnte, sondern die Harpyie. Zumindest redete Gwen sich das ein. Die Harpyie mochte die Gefahr und das Düstere, der dämonische Sabin traf bestimmt genau ihren Geschmack.

Gwen hingegen mochte biedere Sicherheit, auch wenn es langweilig war.

Sie beobachtete den absolut nicht biederen Sabin dabei, wie er mit Bewegungen, die genauso steif waren wie eben gerade sein Tonfall, seine Tasche auspackte. Seine distanzierte Art ist für uns beide am besten, sagte Gwen sich. Und natürlich war es das Beste für die Harpyie. Den berauschenden und Wut auslösenden Sabin noch einmal zu küssen wäre alles andere als klug gewesen. Er war zu ernst, ein zu großes Rätsel für sie und ihr Bedürfnis nach Ruhe. Aber zum Teufel, er war sexy – obwohl er offensichtlich stark verärgert war, glich das Auspacken seiner Tasche einem Vorspiel. Wie sich seine Muskeln bewegten …

Hör auf, ihn anzusehen. Ist ja eher unwahrscheinlich, dass du eine Beziehung mit ihm anfangen kannst. Wer hatte was von einer Beziehung gesagt? Aus Furcht vor ihrer düsteren Seite hatte Gwen immer zu den Frauen gehört, die sich von einem Mann nahmen, was sie brauchten, und danach schnell verschwanden. Ihre sechsmonatige Beziehung mit Tyson war schon ungewöhnlich gewesen.

Was Tyson jetzt wohl machte? Ob er eine neue Freundin hatte? Vielleicht sogar eine Ehefrau? Und wie erginge es ihr, wenn dem so wäre? Dachte er manchmal an sie? Fragte er sich, wo sie war oder warum man sie entführt hatte? Wahrscheinlich sollte sie ihn anrufen.

Konzentriere dich auf das aktuelle Problem. „Wieso muss ich mit in dein Zimmer einziehen?“, stellte sie Sabin zur Rede.

„Ist sicherer so.“

Für wen? Für sie? Oder für seine Freunde? Der Gedanke deprimierte sie, obwohl es natürlich auch gut war, dass die Männer Angst vor ihr hatten. Denn dann würden sie sie in Frieden lassen. Aber gab es wirklich Dämonen, denen es zu gefährlich war, mit ihr Zeit zu verbringen? Eigentlich ein Witz! „Ich habe dir doch schon versprochen, in Budapest zu bleiben. Ich werde nicht weglaufen.“

„Egal.“

Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Seine knappen Antworten gingen ihr auf die Nerven. „Hast du auch eine Freundin, so wie die anderen? Oder eine Frau?“ Schlampe, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. „Ich bin sicher, dass sie bei dieser Entscheidung gern mitreden möchte.“

„Hab ich nicht. Und wenn doch, wäre es egal.“

Sie sah ihn fassungslos an. Bestimmt hatte sie sich verhört. „Es wäre egal? Warum? Sind deine Freundinnen es nicht wert, dass du nett zu ihnen bist und Rücksicht auf sie nimmst?“

Mit einer Hand umklammerte er einen Samtbeutel mit … Wurfsternen? Sie klimperten Unheil verheißend, als er sie zu einer Truhe brachte und darin einschloss. Einen zweiten Samtbeutel ließ er an seiner Taille befestigt. „Ich habe noch nie eine Frau betrogen. Ich bin immer treu. Aber der Krieg kommt vor den Gefühlen jedes anderen. Und zwar immer.“

Wow. Krieg vor Liebe. Er war zweifellos der unromantischste Mann, dem sie je begegnet war. Sogar noch unromantischer als ihr Urgroßvater, der ihre Urgroßmutter nach der Geburt von Gwens Großmutter lachend in den Flammentod geschickt hatte. Gwen neigte den Kopf zur Seite, während sie Sabin noch intensiver musterte. „Würdest du deine Freundin betrügen, wenn es dir helfen würde, den Krieg zu gewinnen?“

Zurück an seinem Koffer, nahm er ein Paar Kampfstiefel heraus. „Was spielt das für eine Rolle?“

„Ich bin einfach neugierig.“

„Dann ja.“

Sie blinzelte überrascht. Erstens hatte sie in seiner Stimme kein Bedauern gehört. Und zweitens hatte er nicht gezögert. „Ja wie Ja, das würde ich‘?“

„Ja. Würde ich. Wenn das den Sieg bedeutete, würde ich sie betrügen.“

Doppel-Wow. Seine Ehrlichkeit … war deprimierend. Er war ein Dämon, aber irgendwie hatte sie mehr von ihm erwartet – oder gewollt? Sie wäre niemals fähig, mit einem Mann zusammen zu sein, der bereit war, sie zu betrügen. Nicht dass sie vorhatte, mit Sabin zusammenzukommen.

Gwen wollte das Ein und Alles eines Mannes sein. Immer. Im Teilen war sie noch nie gut gewesen, es widersprach jedem Instinkt, den sie und die anderen Vertreter ihrer Art hatten. Deshalb hatte sie ihre Ängste schließlich überwunden und sich auf eine Beziehung mit Tyson eingelassen.

Soweit sie wusste, war er ihr treu gewesen. Der Sex war gut gewesen, wenn auch etwas fade. Denn während sie sich erfolgreich eingeredet hatte, einer Beziehung gewachsen zu sein, hatte sie gewusst, dass es katastrophale Folgen hätte, wenn sie sich in sexuellen Genüssen verlor. Wenigstens hatte er sie geliebt, und sie hatte geglaubt, für ihn dasselbe zu empfinden. Doch jetzt, nach all den Monaten der Trennung, wurde ihr klar, dass sie nur geliebt hatte, für was er stand: Normalität. Und dass sie sich so ähnlich waren. Er arbeitete für die Bundessteuerbehörde und wurde von seinen Mitmenschengehasst. Sie war eine Harpyie, die die Konfrontation hasste und von ihren Artverwandten bemitleidet wurde. Doch das allein reichte nicht aus, um zusammenzubleiben. Nicht für immer.

Gwen hatte das Gefühl, dass sie bei Sabin irgendwie loslassen konnte. Er war weder in der Höhle noch im Flugzeug vor ihrer Harpyie zurückgewichen. Und stark wie er war, könnte er mehr aushalten als ein Mensch. Doch obwohl er sowohl mutig als auch unsterblich war, bezweifelte sie, dass er alles ertragen könnte, mit dem sie ihn konfrontieren würde. Niemand könnte das.

Trotzdem ertappte sie sich bei dem Gedanken daran, wie er wohl im Bett wäre. Nicht fade, so viel konnte sie sich denken. Er wäre skrupellos und würde dasselbe von seiner Geliebten verlangen. Aber wie viel würde er überhaupt annehmen können?

„Du bist also nicht verheiratet, aber bist du im Augenblick denn auch Single?“, fragte sie mit krächzender Stimme weiter. Gwen konnte sich nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der so verrückt war, sich mit ihm einzulassen. Ja, er sah gut aus. Ja, allein seine Küsse öffneten einer Frau das Tor zum Himmel. Doch vorübergehendes Vergnügen mit ihm würde nur mit Herzschmerz enden. Und sie war sicher nicht die Einzige, die das erkannt hatte.

„Was soll die Fragerei?“

„Ich will nur unangenehmes Schweigen vermeiden.“ Eine Lüge. Anscheinend log sie in letzter Zeit nur noch. Sie war – trotz allem – immer noch neugierig auf diesen Krieger, der sie gerettet hatte.

„Die Stille ist nicht unangenehm“, murmelte er und hatte den Kopf fast in der Tasche.

„Bist du jetzt Single oder nicht?“

„Du hast mir besser gefallen, als du vor allem Angst hattest“, erwiderte er.

Sie musste feststellen, dass sie in seiner Gegenwart tatsächlich weniger schüchtern als sonst war. Die Liebe zu sehen, die seine Freunde für ihre Frauen empfanden, hatte sie irgendwie ermutigt. Zumindest für den Augenblick. „Und? Single?“

Er kapitulierte seufzend. „Ja, ich bin Single.“

„Hab ich mir gedacht“, murmelte sie. Seine letzte Freundin hatte ihm bestimmt den Laufpass gegeben. „Na ja, aber das heißt trotzdem nicht, dass wir uns ein Bett teilen. Du wirst dir einen anderen Schlafplatz suchen müssen, weil ich nämlich das Bett nehme.“ Mutige Worte. Hoffentlich durchschaute er ihren Bluff nicht.

„Keine Sorge. Ich schlafe auf dem Boden.“ Er warf einige zerknitterte Hemden in den Wäschesack in seinem Schrank. Ein dämonischer Krieger, der Wäsche sortiert, dachte Gwen. Das ist doch mal etwas, das man nicht jeden Tag sieht.

„Und was ist, wenn ich dir nicht glaube, dass du auch wirklich dort bleibst?“

Er lachte. Schaurig. „Dein Pech. Ich werde dich nicht die ganze Nacht allein lassen.“

Das klang nicht gerade beruhigend. Er hatte weder geschworen, sich von ihr fernzuhalten, noch behauptet, keinen Sex mit ihr haben zu wollen.

Oder?

Und wollte sie überhaupt, dass er es versprach?

Sie musterte sein Profil. Ihr Blick schweifte über seine Nase. Sie war ein wenig länger als der Durchschnitt, wirkte aber genau deshalb majestätisch. Die Wangenknochen zeichneten sich scharf ab, sein Kinn war kantig. Insgesamt hatte er ein ziemlich grobes Gesicht ohne ein Zeichen der Jungenhaftigkeit, die sie sich manchmal zu sehen eingebildet hatte.

Aber seine Augen waren von himmlisch schönen, fast weiblichen Wimpern eingerahmt. Sie waren so dicht, dass seine Augen wirkten wie mit Ruß umrandet.

Sie schlang sich die Arme um die Taille, riss den Blick von diesem faszinierenden Gesicht und richtete ihn auf den Körper. Diese Muskeln … Auch davon war sie – schon wieder – fasziniert. In seinem Bizeps pulsierten die Venen, als er sein Rasierzeug hochhob. Die schwarzen Leder-und Metallösen seines Herrenarmbands umarmten sein kräftiges Handgelenk. Seine langen Beine fraßen die wenigen Meter zum Badezimmer regelrecht. Gwen hoffte, dass er sein Hemd ausziehen musste, sodass sie noch mehr von seinen sexy Muskeln sah. Vielleicht sogar noch mehr von dem Schmetterlingstattoo, das sich über seinen Brustkorb ausdehnte und von dem eine Flügelspitze in seinem Hosenbund verschwand.

„Jetzt bin ich dran und frage dich aus“, sagte er von der Badezimmertür aus. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen den Türrahmen. „Wieso bist du nicht davongelaufen? Oder hast es wenigstens mal versucht? Ich weiß, du hast gesagt, du wolltest dich nicht mitten in der Wüste dem Unbekannten stellen. Das verstehe ich ja noch irgendwie. Aber dann hast du unser kleines Dämonengeheimnis gelüftet und bist immer noch geblieben. Du hast mir sogar deine Hilfe angeboten.“

Gute Frage. In dem Moment, als das Flugzeug gelandet war, hatte sie tatsächlich erwogen, einfach in den Wald zu rennen, und dann noch einmal, als der Geländewagen gehalten hatte. Doch im nächsten Moment waren die Frauen aus der Burg gekommen und hatten sich – ganz offensichtlich schwer verliebt – ihren Männern an den Hals geworfen. Gwen hatte innegehalten. Die Dämonenkrieger waren sanft und zärtlich zu ihnen gewesen. Absolut ehrfürchtig, so als schätzten sie sie.

Das hatte sie mehr als alles andere dazu gebracht, ihr Urteil über die Dämonen zu revidieren.

Diese Männer waren das komplette Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte, und auf ihre eigene Art ehrenwert – jedenfalls bis jetzt – und beinah freundlich. Anscheinend wollten sie sie beschützen. Besser gesagt: Sie schauten sie nicht enttäuscht und mit dem unverhohlenen Wunsch an, dass sie stärker, mutiger und grausamer sein sollte.

„Es ist der Engel in ihr“, hatte ihre Mutter jedes Mal geringschätzig gesagt, wenn Gwen sich geweigert hatte, einen Unschuldigen zu verletzen. „Es war dumm von mir, mit ihm zu schlafen.“ Ihre Schwestern waren ihr stets zu Hilfe geeilt, denn sie liebten sie über alles. Doch Gwen wusste, dass selbst Bianka, Kaia und Taliyah sie für schwach hielten. Sie konnte es in ihren Augen sehen.

Würde mein Vater mich kennen, wäre er stolz auf mich, dachte sie abwehrend. Er hätte bei solcher Gutmütigkeit bestimmt applaudiert.

„Und?“, drängte Sabin.

„Ich könnte dir genauso antworten wie du mir die ganze Zeit“, erwiderte sie und hob das Kinn. Ich bin stark. Ich kann mich selbst verteidigen. „Warum ich nicht vor dir weggelaufen bin? Darum.“ Da. Schluck ein bisschen von deinem eigenen Gift.

Sabin fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Das finde ich nicht komisch.“

„Ach nein? Ich auch nicht!“ Das ist es. Das ist der richtige Weg.

„Mein Schatz, sprich mit mir.“

Wie er das Kosewort aussprach … als wären ein Streicheln, eine Fantasie und ein Fluch zusammen in einem Eclair verarbeitet worden, in einem gestohlenen, natürlich. „Bei dir fühle ich mich sicher“, gab sie schließlich zu. Warum sie sich für die Wahrheit entschieden hatte, wusste sie nicht. „Zufrieden?“

Sein spöttisches Lachen überraschte sie. „Das ist lächerlich. Du kennst mich doch nicht mal. Aber wenn du wirklich so dumm bist, warum wolltest du dann ein eigenes Zimmer? Und warum hast du mich so ausgefragt?“

Ihre Wangen brannten vor Hitze. Sie war so dumm. „Warum habe ich nur das Gefühl, dass du mir ausreden willst zu bleiben, obwohl ich allein auf deinen Wunsch hier bin? Willst du mich dazu bringen wegzurennen oder was?“

Ein kurzes Kopfschütteln.

„Kannst du dann bitte wenigstens so tun, als wärest du nett? Und zwar die ganze Zeit?“

„Nein.“

Auch diesmal hatte er nicht gezögert. Das machte sie allmählich wirklich wütend. „Na schön. Dann erklär mir bitte wenigstens, weshalb du in einer Sekunde nett bist und in der nächsten so grausam?“

Es sah so aus, als würde er die Zähne fest aufeinanderbeißen. „Ich bin nicht gut für dich. Mir zu vertrauen würde dich nur verletzen.“

Und das wollte er nicht? „Warum sagst du das?“

Keine Antwort.

„Wegen deines Dämons“, beharrte sie. „Welcher Dämon wohnt in dir?“

„Spielt keine Rolle.“

Also wieder keine Antwort. Aber es gäbe auch keine Antwort, die einen Sinn ergeben hätte. Außer vielleicht, dass er log und ihr in Wahrheit sehr wohl wehtun wollte, weil er ein Dämon war und Dämonen so was nun mal taten. Aber er konnte gar nicht durch und durch böse sein. Er liebte seine Freunde aufrichtig. Das spürte Gwen jedes Mal, wenn er sie ansah.

„Sag mir noch mal, wie ich dir deiner Meinung nach helfen kann“, bat sie, nur um ihn daran zu erinnern, dass er etwas von ihr wollte und dass sie ihm nicht helfen musste, wenn sie nicht wollte. „Sag mir, warum ich hierbleiben soll.“

Ausnahmsweise schien er jetzt gern zu antworten. „Um meine Feinde zu töten, die Jäger.“

Sie konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. „Und du glaubst wirklich, dass ich zu so etwas fähig bin? Mit Absicht?“, fügte sie schnell hinzu, um nicht noch mal daran erinnert zu werden, was sie unabsichtlich in den ägyptischen Katakomben getan hatte.

Sein finsterer Blick fixierte sie und schien sie wie eine scharfe Klinge zu durchdringen. „Ich denke, unter den richtigen Umständen bist du so gut wie zu allem fähig.“

Richtige Umstände. Auch bekannt als Todesangst haben, auch bekannt als In-Rage-Sein. Er brächte es fertig. Er würde sie einer Gefahr aussetzen oder sie so lange ärgern, bis sie völlig die Kontrolle verlor. Hauptsache, er gewann seinen Krieg. „Und was ist mit ‚Ich bringe dir bei, deine Harpyie zu kontrollieren‘?“

„Ich habe gesagt, ich würde es versuchen. Nicht, dass ich es schaffe.“

Nie würde es einen besseren Grund geben, einen Fluchtversuch zu unternehmen, als jetzt. Sabin war bei Weitem gefährlicher, als sie gedacht hatte. Aber sie konnte ihn jetzt nicht verlassen, wo sie doch gerade erst gemerkt hatte, dass ein Teil von ihr ihm helfen wollte. Nicht beim Töten, sie wollte nicht an der eigentlichen Schlacht teilnehmen. Aber es gefiel ihr nicht, dass da draußen Männer wie Chris herumliefen, die womöglich Jagd auf andere unsterbliche Frauen machten. Wenn sie die Chance bekam, sie aufzuhalten, war es dann nicht ihre Pflicht, sie zu ergreifen?

„Hast du keine Angst um dein Leben?“, fragte sie. „Wenn ich der Harpyie nachgebe, bist du danach vielleicht nicht mehr am Leben, um dich an den Jägern zu erfreuen, denen ich den Garaus gemacht habe. Auch Unsterbliche können ‚unter den richtigen Umständen‘ getötet werden.“

„Das Risiko nehme ich in Kauf. Wie gesagt: Sie haben meinen besten Freund umgebracht, Baden, den Hüter des Argwohns. Er war ein großartiger Mann, der es nicht verdient hatte, so zu sterben.“

„Wie ist er denn gestorben?“ Nach allem, was sie ihren Zellengenossinnen angetan hatten, befürchtete Gwen das Schlimmste.

„Sie schickten eine Frau, die ihn verführen sollte, und mitten im Akt griffen sie ihn aus dem Hinterhalt an und köpften ihn. Aber falls du einen aktuelleren Grund brauchst: Die Jäger geben mir und meinen Brüdern die Schuld an jeder Krankheit, mit der sie sich infizieren, an dem Tod, der einen geliebten Menschen dahinrafft, an jeder Lüge, die erzählt, und an jeder Gewalttat, die verübt wird. Sie haben Menschen gequält, die mir – dumm wie ich war – etwas bedeutet haben, und sie werden alles tun, um mich ins Grab zu bringen. Alles. Jeden und alles zerstören, und mich weiterhin als das Böse bezeichnen.“

„Oh.“ Das war alles, was ihr als Erwiderung einfiel.

„Ja. Oh. Denkst du immer noch, du bist nicht fähig, mir zu helfen?“

Sabin war gefesselt von der reizenden Frau, die da vor ihm saß. Dieses rotblonde Haar, das ihre Arme umspielte und ihr bis auf den Schoß reichte. Diese goldenen, mit glänzendem Silber gesprenkelten Augen, die hell leuchteten. Diese rosige Farbe, die auf den runden Wangen brannte.

Aber mehr noch als ihr Aussehen mochte er dieses neu entdeckte Temperament – auch wenn er vor wenigen Minuten noch das Gegenteil behauptet hatte. Stärke war verdammt sexy. Vor allem Stärke, die nicht selbstverständlich war. Obwohl Gwen von Natur aus schüchtern war und Angst vor ihm und vor diesem Haus hatte, sogar vor ihrem eigenen Schatten, saß sie ruhig auf seinem Bett und fragte ihn mit erhobenem Kopf aus, weil sie sich weigerte, klein beizugeben. Sie war wirklich ein außergewöhnliches Geschöpf.

Sofern sie nicht die beste Schauspielerin der Welt ist.

Zweifel. Sabin presste die Lippen aufeinander. Gwen war keine Schauspielerin. Sie war von den Jägern eingesperrt und gequält worden; sie half ihnen nicht. Du irritierst mich mit deinen Verdächtigungen.

Vielleicht kann ich dir und deinen Freunden das Leben retten. Besser auf der Hut sein als tot. Immerhin ist Danika damals auch unter dem Deckmantel der Rettung zu uns gekommen und hat in Wahrheit die Jäger mit Informationen versorgt.

Sabin schluckte.

Lass mich an die Harpyie ran! Ich breche sie und finde die Wahrheit heraus.

Er rief sich Reyes und Danika vor Augen. Sie waren glücklich und verliebt. Sie waren der lebende Beweis dafür, dass sich schlechte Absichten in gute verwandeln konnten. Du hältst die Klappe. Klar? Er hingegen …

Er sah Gwen mit dem – zweifelsfreien – Wissen an, dass ihm kein so märchenhaftes Ende vergönnt war wie Reyes. Eine Frau konnte sich daran gewöhnen, zuzusehen, wie ein Mann sich schnitt. Aber nicht daran, jeglichen Respekt vor sich zu verlieren. Und Gwen war schon gefährlich nah an diesem Punkt.

Was sonst hatte sie zu dem Mädchen gemacht, das sie war? Oder vielmehr, zu der Frau? Schließlich war sie älter als Ashlyn und Danika.

Er wollte mehr von ihr wissen, jedes Detail ihres Lebens erfahren. Familie, Freunde, Liebhaber. Und sie wollte auch mehr über ihn wissen. Diese Entdeckung freute ihn sogar mehr, als gut war. Sogar viel mehr, als gut war. Am liebsten hätte er all ihre Fragen beantwortet und alles ausgeplaudert, aber er wusste, wie gefährlich das war. Sein Ärger auf sich machte ihn bissiger, als er es sonst war. Bissiger, aber nicht weniger erregt.

Allein wie er hier so stand, verspürte er ein heißes Verlangen. Er wollte ihre Haare zwischen den Fingern spüren, wollte diesen sinnlichen Körper unter sich zittern sehen – und auf sich –, wollte ihre Lustschreie hören.

Um sich daran zu hindern, die Hand nach ihr auszustrecken, verschränkte er die Arme vor der Brust, wobei der Stoff seines Hemdes spannte. Ihr Blick schweifte tiefer und ruhte auf seinem linken Bizeps. Verflucht. Wenn sie ihn genauso wollte wie er sie, würden sie schon bald in große Schwierigkeiten geraten. In beglückende, ach so falsche Schwierigkeiten.

Wieder zerrte sein Dämon an seinen Ketten. Er wollte unbedingt in ihren Kopf eindringen und ihn mit Zweifeln füllen. Sein Geflüster hatte sogar schon begonnen: Du bist nicht gut genug, nicht hübsch genug, nicht stark genug. Sabin musste alle erdenkliche Kraft aufbringen, um die Sätze in seinem eigenen Kopf zu halten. Wenn sie ihre Gedanken erreichten …

Er wusste, wie er den Dämon bekämpfen und die Gedanken unterdrücken konnte. Sie nicht. Sie würde daran zerbrechen, genau wie es der Dämon wollte.

Warum konnte sie seine Qualen nicht lindern so wie Ashlyn bei Maddox? Wieso konnte sie seine dunkle Seite nicht bezaubern so wie Anya bei Lucien? Weshalb konnte sie das Verlangen nach dem Bösen nicht zügeln so wie Danika bei Reyes? Stattdessen machte sie die Bestie in ihm erst richtig wild.

„Ich weiß wirklich nicht, ob ich dir so helfen kann, wie du möchtest, aber es tut mir leid, dass du so einen Verlust erlitten hast“, sagte sie, und in ihrer Stimme lag aufrichtiges Bedauern.

„Danke.“ Wie … süß. Er runzelte die Stirn. Sie musste ihr Herz und ihre Gefühle besser schützen. Seinetwegen verletzt zu werden wäre nicht gut für sie. Er stutzte. Jetzt dachte er schon wie ein Liebhaber. Apropos … „Hast du einen Freund?“

„Früher schon. Vorher.“

Vor ihrer Entführung, vermutete er. Wie hatte die Beziehung funktioniert? Hatte sich der arme Mann genau überlegen müssen, was er sagte und tat, damit er die Bestie in ihr nicht weckte? „Vermisst du ihn?“ Sie hatte traurig geklungen.

„Das habe ich mal, ja.“

Okay, das … ärgerte ihn. „Hat er dich betrogen? Hast du mir deshalb all diese albernen Fragen gestellt?“

„Albern?“ Wütend befeuchtete sie sich die Lippen, und er sah ihre rosafarbene Zungenspitze. Sofort war er erregt, als er sie sich woanders vorstellte. Auf seinem Körper. In Höhe des Bauchnabels. „Nein, er hat mich nicht betrogen. Er war aufrichtig.“

Aus irgendeinem Grund schürte der Vergleich seinen Ärger. „Ich bin auch aufrichtig. Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich nicht gelogen habe, als es darum ging, was ich vorhabe, und dass ich es auch nicht tun werde. Ich kann nicht.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Was meinst du mit: ‚Ich kann nicht‘?“

„Nichts“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Genauso wie Gwen auf ihr Herz aufpassen musste, musste er besser auf seine Worte achten.

„Deine Bereitschaft, nicht zu betrügen, macht dich keinen Deut besser als meinen Menschen. Tyson wäre mir unter keinen Umständen untreu geworden. Er hat mich geliebt.“

Ihr Mensch? Ihr Mensch! „Sein Name ist Tyson? Ich sage es dir ja nur ungern, aber du bist mit einer Hühnchenfleisch-Marke zusammen gewesen. Und was sein Ehrgefühl angeht, wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher. Ich wette, er hat sein Ding in dem Moment in eine andere gesteckt, als du ihm den Rücken zugekehrt hast. Und wenn er dich so geliebt hat, wie du es sagst, warum hat er dann nicht versucht, dich zu finden?“ Sabin fluchte stumm und presste die Lippen aufeinander. Diese schrecklichen Worte waren nicht seine gewesen, sondern die seines Dämons. Er sorgte immer wieder dafür, dass die Bestie sich nicht in ihre Gedanken schlich, aber jetzt hatte sie einen anderen Weg gefunden, zu entkommen.

Gwen wurde blass. „W-wahrscheinlich hat er es versucht.“

Schuld und Schamgefühle überschatteten seine Wut. Trotz ihres mutigen Auftretens war Gwen immer noch zerbrechlich. Doch der Vorfall hatte nur seinen Verdacht bestätigt: ein paar schäbige Zweifel, und sie war kurz davor, zu zerbrechen. Er musste sich von ihr fernhalten.

Doch konnte er das überhaupt? Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Er hatte es sogar so arrangiert, dass sie in seinem Zimmer schlief. Mit ihm. Allein. Dämlich! Aber das war der einzige Weg, sie zu beschützen – vor den anderen und vor ihr selbst. Und dummerweise gefiel ihm der Gedanke, in ihrer Nähe zu sein. Er genoss ihre Gegenwart. Mehr noch als schön war sie witzig – wenn sie nicht gerade ängstlich und still war – und unglaublich süß.

Er fragte sich, ob alle Harpyien so verführerisch waren wie Gwen. Vermutlich würde er es schon bald herausfinden, denn immerhin hatte er ihr versprochen, ihre Schwestern einzuladen. Natürlich war es zunächst ein unfreiwilliges Versprechen gewesen. Denn mehr Harpyien bedeuteten größere Gefahr. Mehr Ärger. Doch dann war ihm klar geworden, dass mehr Harpyien auch mehr Waffen gegen die Jäger bedeuteten. Irgendwie wollte Sabin ihre Schwestern davon überzeugen, ihm zu helfen, die Männer zu töten, die ihre geliebte Gwen verletzt hatten.

Falls sie sie lieben, warf der Dämon ein. Haben sie überhaupt nach ihr gesucht, während sie eingesperrt gewesen ist?

Verdammt. Daran hatte er nicht gedacht. Gwen hatte ein Jahr lang in der gläsernen Zelle gesessen. Sie hatten sie nicht gefunden, nicht gerettet. Ebenso wenig wie dieser Versager Tyson.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Wenn die Schwestern ihm nicht helfen wollten, auch gut. Er hatte ja Gwen. Er wusste aus erster Hand, wozu sie fähig war.

„Hör mal, es tut mir leid, was ich gesagt habe“, zwang er sich zu sagen – er hasste es, sich zu entschuldigen – und ging auf die Tür zu. „Du willst ein Zimmer für dich? Einverstanden. Ich gebe dir ein paar Stunden. Aber wage es nicht, diesen Raum zu verlassen. Ich lasse dir etwas zu essen hochbringen.“

Sie stöhnte vor offensichtlicher Vorfreude und vor Verlangen auf, sagte jedoch: „Bemüh dich nicht. Ich werde es sowieso nicht anrühren.“

Er blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Je öfter er sie ansah, umso schneller würde er ihr gegenüber weich werden. „Du wirst anfangen zu essen, Gwen. Verstehst du? Ich will nicht, dass du denkst, ich bin wie deine Entführer und lasse dich bewusst hungern.“

„Das denke ich nicht“, erwiderte sie stur. „Aber ich werde nichts essen. Und du lässt mich einfach hier, wo mich jederzeit die Dämonen holen können? Wohin gehst du?“

„Ich bin auch ein Dämon“, sagte er, ihre zweite Frage ignorierend. Darin wurde er langsam gut.

„Ich weiß.“ Ihre Stimme klang zögerlich und war kaum zu hören.

Sein Magen zog sich zusammen. Sie wusste es, aber es war ihr egal? Er hatte noch nie stärkere Worte gehört. „Ich bin in der Nähe, wenn du mich brauchst. Ruf einfach. Nein, ich habe eine bessere Idee: Ich schicke Anya her, damit sie dir Gesellschaft leistet. Sie und Lucien hatten jetzt schon mehrere Stunden, um … ihr Wiedersehen zu feiern. Sie wird auf dich aufpassen.“ Und Gwen zum Essen bringen, wenn nötig, dachte er. Wenn jemand einen anderen davon überzeugen konnte, etwas zu tun, was er eigentlich nicht tun wollte, dann war es die listige Anya. „Rühr dich nicht vom Fleck.“

Erst als er die Tür hinter sich geschlossen und Gwen in seinem Zimmer eingesperrt hatte, damit sie sich nicht doch noch entschloss, das Risiko einzugehen, einem seiner Freunde über den Weg zu laufen, oder in der Burg herumzuschnüffeln oder sogar ein Telefon zu suchen, mit dem sie die Jäger anrufen konnte – sie arbeitet nicht für sie, verflucht! –, erst da dämmerte Sabin, dass er kurz davorstand, eine Harpyie wissentlich mit der Göttin der Anarchie zusammenzubringen. Na prima. Er konnte von Glück sagen, wenn ihm am nächsten Morgen noch der Kopf auf den Schultern saß.