3. KAPITEL
V on dem Moment an, als Sabin die niedliche Rothaarige in der gläsernen Zelle gesehen hatte, war er unfähig gewesen, den Blick von ihr abzuwenden. Unfähig zu atmen, unfähig zu denken. Ihre langen Haare waren üppig gelockt. Zwischen dicken rubinroten Locken lugten mehrere blonde hervor. Ihre Augenbrauen waren von einem dunklen Kastanienbraun, aber ebenso schön. Sie hatte eine Stupsnase, und ihre Wangen waren so rund wie die eines Engels. Aber ihre Augen … die waren ein Fest für die Sinne: bernsteinfarben mit grauen funkelnden Ringen. Hypnotisierend. Ringsherum bildeten schwarze Wimpern einen dekadenten Rahmen.
Halogenlampen hingen von Haken an den Wänden und tauchten sie in helles Licht. Während es bei anderen ihre Makel enthüllt hätte, brachte es bei ihr nicht nur den Schmutz zum Vorschein, der ihre Haut in Streifen überzog, sondern verlieh ihr einen gesunden Glanz. Sie war zierlich, hatte kleine, runde Brüste, eine schmale Hüfte und Beine, die lang genug waren, um sie um ihn zu schlingen und sich so während der turbulentesten Ritte festzuhalten.
Hör auf so zu denken. Du weißt es doch besser. Ja, allerdings. Seine letzte Geliebte, Darla, hatte sich das Leben genommen. Und er hatte sich geschworen, nie wieder eine Beziehung einzugehen. Aber zu der Rothaarigen hatte er sich augenblicklich hingezogen gefühlt. Genau wie sein Dämon, auch wenn Zweifel sie aus einem anderen Grund wollte. Er hatte ihre Beklemmung gespürt und zielgerichtet versucht, in ihren Kopf zu gelangen, um sich an ihren tiefsten Ängsten zu weiden.
Aber sie war kein Mensch, das hatten sie beide schnell gemerkt, und aus dem Grund gelang es Zweifel nicht, ihre Gedanken zu hören, solange sie sie nicht artikulierte. Das hieß jedoch nicht, dass sie vor ihm sicher war. Oh nein. Zweifel wusste mit einer Situation zu wachsen und sein Gift in angemessener Weise zu versprühen. Mehr noch: Der Dämongenoss die Herausforderung und strengte sich umso mehr an, um die Zwischentöne dieser Frau zu hören und jeden Funken Hoffnung in ihr zu zerstören.
Was war sie? In den vielen Tausend Jahren seiner Existenz war er schon so manchem unsterblichen Geschöpf begegnet, und trotzdem konnte er sie nicht einordnen. Auf jeden Fall wirkte sie menschlich. Zart, schwach. Zerbrechlich. Doch diebersteinsilberfarbenen Augen verrieten sie. Und die Krallen. Er stellte sich vor, wie sie sich in seinen Rücken bohrten …
Warum hatten die Jäger sie gefangen genommen? Sabin fürchtete sich vor der Antwort. Drei der sechs eben befreiten Frauen waren eindeutig schwanger, und das ließ im Grunde nur eine Erklärung zu: Seine Feinde wollten eine neue Generation von Jägern gründen. Und zwar von unsterblichen Jägern. Sabin sah, dass zwei Sirenen Narben am Hals hatten. Offenbar war ihnen der Kehlkopf entfernt worden. Außerdem entdeckte er eine blasse Vampirfrau, der die Reißzähne gezogen worden waren, eine Gorgone, der man die Schlangenhaare abrasiert hatte, und eine Tochter von Amor, die man geblendet hatte – wohl um zu verhindern, dass sie einen Feind mit ihrem Liebeszauber verführte.
Wie grausam die Jäger mit diesen wunderbaren Geschöpfen umgegangen waren. Was hatten sie nur dem Rotschopf angetan, dem wunderbarsten von allen? Trotz knappem Top und kurzem Rock konnte Sabin weder Narben noch Blutergüsse ausmachen, die auf eine Misshandlung hingedeutet hätten. Aber das hieß gar nichts. Bei den meisten Unsterblichen verheilten Wunden schnell.
Ich will sie. Sie sah zwar unsagbar müde aus, doch wenn sie ihm, ihrem Retter, dankbar zulächelte … Er hätte angesichts ihrer Schönheit vergehen können.
Ich will sie auch, flüsterte sein Dämon ihm zu.
Du kannst sie nicht haben. Was bedeutete, dass sie auch für ihn tabu war. Erinnerst du dich an Darla? Obwohl sie so stark und selbstsicher war, hast du es geschafft, sie zu brechen.
Er hörte ein schadenfrohes Lachen. Ich weiß. Das war doch lustig, oder?
Sabin ballte die Hände zu Fäusten, hob die Arme jedoch nicht. Verfluchter Dämon. Irgendwann zerbrach jeder unter den schweren Sorgen, die seine andere, seine dunklere Hälfte andauernd nährte und an denen sie sich labte. Er gab Frauen Gedanken ein wie: Du bist nicht attraktiv genug. Du bist nicht schlau genug. Wie könnte dich jemals irgendein Mann lieben?
„Sabin“, ertönte Aerons Stimme. „Wir sind so weit.“
Er streckte die Hand aus und winkte die Frau zu sich. „Komm.“
Doch sein Rotschopf drückte sich gegen die Wand am anderen Ende der Kammer. Ihr Körper zitterte vor wieder aufkeimender Angst. Er hatte erwartet, dass sie – trotz seiner Warnung – davonlaufen würde. Doch er hatte nicht mit solchem … Schrecken gerechnet.
„Ich habe es dir doch versprochen“, sagte er sanft. „Wir wollen dir nicht wehtun.“
Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Und wie er sie so ansah, vertiefte sich der goldene Glanz in ihren Augen, verdunkelte sich, lief ein tiefes Schwarz in das Weiße.
„Was zum Teufel …“
Von einer Sekunde auf die nächste war sie verschwunden. Als wäre sie nie da gewesen. Er wirbelte herum und sah sich suchend in der Kammer um. Er entdeckte sie nicht. Dann stieß der einzige Jäger, der noch auf den Beinen war, urplötzlich einen panischen Schrei aus – einen Schrei, der abrupt abbrach, als sein Körper in sich zusammensank und auf den sandigen Boden fiel, wo sich sogleich eine Blutlache bildete.
„Die Frau.“ Sabin keuchte und umklammerte seinen Dolch, fest entschlossen, sie vor der unbekannten Macht zu beschützen, die soeben den Jäger getötet hatte, den sie hatten verhören wollen. Er sah sie immer noch nicht. Wenn sie wie Lucien mithilfe eines Gedanken verschwinden konnte, war sie in Sicherheit. Zwar auch außer Reichweite für ihn, aber in Sicherheit. Konnte sie das? War sie weg?
„Hinter dir“, sagte Cameo, und ausnahmsweise klang sie eher erschrocken als elend.
„Meine C.götter“, stammelte Paris. „Ich habe nicht gesehen, dass sie sich bewegt hat, und trotzdem …“
„Sie hat doch nicht … Hat sie … Wie hätte sie denn …“ Maddox rieb sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er nicht glauben, was er sah.
Wieder wirbelte Sabin herum. Und da war sie, zurück in ihrer Zelle. Sie saß auf dem Boden, die Knie an die Brust gezogen, der Mund blutverschmiert, eine … Luftröhre? … in einer Hand. Sie hatte dem Mann die Kehle herausgerissen – oder ausgebissen?
Ihre Augen hatten wieder ihre normale Farbe angenommen, bernsteinfarben mit grauen Ringen, doch ihr Blick war dermaßen leer und abwesend, dass Sabin befürchtete, der Schock über ihre Tat hätte ihren Geist betäubt. Auch ihr Gesicht entbehrte jeglichen Ausdrucks. Ihre Haut war jetzt so blass, dass er die blauen Venen darunter erkennen konnte. Und sie zitterte, schaukelte vor und zurück und murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Was. Zur. Hölle?
Der Jäger hatte sie ein Ungeheuer genannt. Sabin hatte ihm nicht geglaubt. Jedenfalls nicht zu jenem Zeitpunkt.
Nun ging er zu ihr in die Zelle. Auch wenn er nicht wusste, was er tun sollte, war ihm zweierlei klar: Er konnte sie weder in dieser Verfassung zurücklassen, noch konnte er sie wieder einsperren. Erstens hatte sie keinen seiner Freunde angegriffen. Und zweitens würde sie, flink wie sie war, entwischen, ehe sich das Glas geschlossen hatte, und ihm dafür, dass er sein Versprechen gebrochen hatte, ernsthaften Schaden zufügen.
„Sabin, Mann“, warnte Gideon ihn. „Vielleicht willst du es dir ja nicht noch mal überlegen, ob du wirklich da reingehen willst. Mal wieder hat ein Jäger gelogen.“
Ausnahmsweise die Wahrheit gesagt, hieß das also. „Weißt du, womit wir es hier zu tun haben?“
„Nein.“ Ja. „Sie ist keine Harpyie, keine Ausgeburt des Teufels, die nicht ein Jahr unbehelligt auf der Erde verbracht hat. Ich habe bisher noch nie mit ihnen zu tun gehabt, und ich weiß nicht, dass sie eine Armee Sterblicher binnen Sekunden töten können.“
Da Gideon kein wahres Wort sagen konnte, ohne sich schon bald den Tod zu wünschen, weil er körperliche Höllenqualen litt und von Schmerzen geschüttelt wurde, wusste Sabin, dass alles, was er sagte, gelogen war. Das hieß, dass der Krieger sehr wohl schon einer Harpyie begegnet war und dass Harpyien natürlich Ausgeburten des Teufels waren und selbst Vertreter seiner Art innerhalb weniger Sekunden vernichten konnten.
„Wann?“, fragte er.
Gideon wusste, was er meinte. „Weißt du noch, als ich nicht in Gefangenschaft gewesen bin?“
Aha. Gideon hatte mal drei Monate lang die Foltertechniken der Jäger aushalten müssen.
„Keine hat das halbe Lager getötet, ehe irgendein Alarm ausgelöst werden konnte. Sie flog nicht aus unbekannten Gründen davon, und die überlebenden Jäger verbrachten die nächsten Tage nicht damit, die gesamte Art der Harpyien zu verfluchen.“
„Moment. Harpyie? Das glaube ich nicht. Sie ist nicht hässlich.“ Der Einwand kam von Strider, dem König im Aussprechen offensichtlicher Fakten. „Wie sollte sie eine Harpyie sein?
„Du weißt genauso gut wie wir, dass die Mythen der Menschen manchmal verzerrt sind. Nur weil Harpyien laut der Legenden hässlich sind, heißt das nicht, dass sie es auch wirklich sind. Und jetzt, alle raus.“ Sabin begann seine Waffen hinter sich auf den Boden zu werfen. „Ich kümmere mich um sie.“
Ein mehrstimmiger Protest wurde laut.
„Ich bekomme das schon hin.“ Das hoffte er zumindest.
Vielleicht aber auch nicht…
Ach halt die Klappe, verdammt noch mal.
„Sie wird …“
„… mit uns kommen“, fiel Sabin Maddox ins Wort. Er konnte sie nicht hierlassen. Sie war eine viel zu kostbare Waffe – eine Waffe, die gegen ihn eingesetzt werden konnte oder von ihm. Ja, dachte er, und seine Augen wurden größer. Ja. „Und zwar lebendig.“
„Zum Teufel, nein“, protestierte Maddox. „Ich will keine Harpyie in Ashlyns Nähe haben.“
„Du hast doch gesehen, was sie getan hat. Sie …“
Maddox fiel ihm ins Wort: „Ja, allerdings, und genau deshalb will ich sie nicht in der Nähe meiner schwangeren Menschenfrau haben. Die Harpyie bleibt hier.“
Noch ein Grund, der Liebe aus dem Weg zu gehen, dachte Sabin. Sie verwandelt sogar den härtesten Krieger in einen Schwächling. „Sie muss diese Männer genauso hassen wie wir. Sie kann uns helfen.“
Maddox blieb stur. „Nein.“
„Ich übernehme die Verantwortung für sie, und ich werde dafür sorgen, dass sie ihre Klauen nicht ausfährt.“ Auch das konnte er nur hoffen.
„Wenn du sie willst, gehört sie dir“, meinte Strider. Er war immer auf seiner Seite. Guter Mann. „Maddox wird auch einverstanden sein, weil du Ashlyn nie drängst, in die Stadt zu gehen und sich nach möglichen Hinweisen in den Gesprächen der Jäger umzuhören, egal wie sehr du es auch möchtest.“
Maddox kniff die Augen zusammen. „Wir müssen sie irgendwie bändigen.“
„Nein. Ich übernehme das.“ Sabin gefiel der Gedanke nicht, dass irgendein anderer sie berührte. Egal auf welche Weise. Er redete sich ein, dass es an der Folter lag, die sie höchstwahrscheinlich hatte erleiden müssen, an dem entsetzlichen Missbrauch, und dass sie zornig auf jeden reagieren könnte, der versuchte, sie anzufassen, aber …
Im Grunde wusste er, dass das nichts war als eine faule Ausrede. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, und ein Mann, der sich für eine Frau interessierte, konnte das Objekt seiner Begierde nicht einfach aufgeben. Selbst wenn dieser Mann den Frauen abgeschworen hatte.
Cameo trat neben ihn, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. „Paris kann sich um sie kümmern. Mit seiner Finesse kann er selbst die grausamsten Frauen in gute Stimmung versetzen. Du dagegen eher weniger, und wir sind eindeutig darauf angewiesen, dass diese hier gute Laune hat.“
Paris, der jede Frau jederzeit verführen konnte, Unsterbliche wie Menschen? Paris, der Sex zum Überleben brauchte? Sabin biss fest die Zähne zusammen, als er es sich, ohne es zu wollen, vorstellte. Nackte, ineinander verschlungene Körper, die Hand des Kriegers, mit der er in das zerzauste Haar der Harpyie griff, Glückseligkeit auf ihrem Gesicht.
Es wäre besser für sie. Es wäre wahrscheinlich für sie alle besser, wie Cameo gesagt hatte. Die Harpyie wäre geneigter, ihnen im Kampf gegen die Jäger zu helfen, wenn sie an der Seite ihres Liebsten kämpfen konnte – und Sabin war jetzt fest entschlossen, sie zur Unterstützung zu bewegen. Natürlich könnte Paris mehr als nur einmal mit ihr ins Bett steigen. Doch irgendwann würde er sie betrügen, weil er Sex mit verschiedenen Frauen brauchte, um zu überleben, und das würde sie vermutlich in Rage versetzen. So sehr, dass sie sich am Ende womöglich noch dazu entschloss, die Jäger zu unterstützen.
Eine ganz schlechte Idee, beschloss er, und zwar nicht nur, weil er es so wollte.
„Gebt mir fünf Minuten. Wenn sie mich umbringt, kann Paris sich ja an ihr versuchen.“ Sein trockener Tonfall löste nicht das leiseste Gelächter aus.
„Lass wenigstens zu, dass Paris sie in Tiefschlaf versetzt so wie die anderen“, beharrte Cameo.
Sabin schüttelte den Kopf. „Wenn sie zu früh aufwacht, bekommt sie nur Angst und greift euch am Ende noch an. Ich muss erst an sie herankommen. Und jetzt raus mit euch. Lasst mich arbeiten.“
Eine Weile geschah nichts. Dann hörte Sabin, wie sie sich schlurfend in Bewegung setzten, schwerer als sonst, da die Krieger die anderen Frauen heraustrugen. Und dann war er mit dem Rotschopf allein. Oder war die korrekte Bezeichnung ihrer Haarfarbe eher Rotblond? Wahrscheinlich. Sie saß immer noch zusammengekauert da, murmelte immer noch vor sich hin, hielt immer noch die Luftröhre umklammert.
Na, du bist aber ein schlechtes kleines Mädchen, hm?, rief der Dämon und schleuderte die Worte direkt in den Kopf der Harpyie. Und du weißt bestimmt auch, was mit schlechten kleinen Mädchen passiert, nicht wahr?
Lass sie in Ruhe. Bitte!, flehte Sabin den Dämon an. Sie hat unseren Feind getötet und damit verhindert, dass sie weiter nach der Büchse suchen – und sie am Ende finden.
Bei dem Wort „Büchse“ schrie Zweifel auf. Der Dämon hatte tausend Jahre in der Dunkelheit und dem Chaos der Büchse der Pandora verbracht und wollte nicht zurückkehren. Er täte alles, um diesem Schicksal zu entkommen.
Sabin konnte nicht mehr ohne Zweifel existieren. Er war ein fester Teil von ihm geworden. Und sosehr er ihn auch manchmal hasste, er hätte lieber einen Lungenflügel geopfert als den Dämon. Ersteren konnte er schließlich erneuern.
Nur ein paar Minuten Ruhe, fügte er hinzu. Bitte.
Oh, sehr gerne.
Zufrieden mit dem Ausgang seiner Verhandlung, trat Sabin in die Zelle ein. Er bückte sich, sodass er sich mit der Frau auf Augenhöhe befand.
„Tut mir leid, tut mir leid“, wiederholte sie, als spürte sie seine Gegenwart. Aber sie sah ihn nicht an, sondern starrte weiter blind geradeaus. „Habe ich dich getötet?“
„Nein, nein, es geht mir gut.“ Das arme Ding wusste ja gar nicht, was es getan hatte oder was es sagte. „Du hast etwas Gutes getan und einen durch und durch schlechten Mann umgebracht.“
„Schlecht. Ja, ich bin sehr schlecht.“ Sie schlang ihre Arme fester um die Knie.
„Nein, er war schlecht.“ Langsam streckte er die Hand aus. „Ich möchte dir helfen. In Ordnung?“ Vorsichtig drückte er seine Finger unter ihre und öffnete ihre Hand. Das blutige Überbleibsel fiel herunter. Sabin fing es mit der anderen Hand auf, um es dann über seine Schulter weit wegzuwerfen. „Und, so ist es doch besser, hm?“
Glücklicherweise löste sein Handeln keinen weiteren Wutanfall aus. Sie atmete nur schwer.
„Wie heißt du?“, fragte er.
„W…was?“
Immer noch auf ruhige Bewegungen bedacht, strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hinters Ohr. Siegenoss die Berührung sichtlich und schmiegte die Wange an seine Handfläche. Er verharrte in der Liebkosung und genoss es, ihre weiche Haut zu spüren, während er tief in sich den schmalen Grat der Gefahr erkannte, auf dem er sich bewegte. Seinem Interesse für sie nachzugeben und sich nach mehr zu sehnen hieß, sie zu heillosem Elend zu verurteilen – so wie er es mit Darla getan hatte. Dennoch zog er seine Hand nicht zurück; auch nicht, als sie sein Handgelenk packte und seine Hand durch ihr seidiges Haar führte. Es war so offensichtlich, dass sie gestreichelt werden wollte. Er kraulte ihr den Kopf. Sie seufzte genießerisch.
Sabin konnte sich nicht erinnern, jemals so … zärtlich zu einer Frau gewesen zu sein, selbst zu Darla nicht. So viel sie ihm auch bedeutet hatte, er hatte dem Sieg stets größere Bedeutung beigemessen als ihrem Wohlergehen. Doch diese Frau berührte ihn in diesem Augenblick irgendwie. Sie war so verloren und einsam – das waren Gefühle, die ihm sehr vertraut waren. Er hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen.
Siehst du? Du sehnst dich schon nach mehr.
Stirnrunzelnd zwang er sich, den Arm fallen zu lassen.
Ein zarter Schrei der Verzweiflung entwich ihr, und auf einmal wurde es noch schwerer, den kleinen Abstand beizubehalten, der zwischen ihnen bestand. Wie hatte dieses bedürftige Geschöpf den Menschen so brutal niedermetzeln können? Es erschien ihm unmöglich, und hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er die Geschichte nicht geglaubt. Nicht dass es viel zu sehen gegeben hätte, so schnell wie sie sich bewegt hatte.
Vielleicht wurde sie wie er und seine Freunde von einer dunklen Macht beherrscht. Vielleicht konnte sie sie nicht davon abhalten, ihren Körper wie eine Marionette zu steuern. In dem Moment, als ihm dieser Gedanke in den Sinn kam, wusste Sabin auch schon, dass er richtig geraten hatte. Wie ihre Augen die Farbe gewechselt hatten. Mit welchem Entsetzen sie ihre Tat realisiert hatte …
Wenn Maddox sich in einem Wutanfall seines Dämons verlor, gingen die gleichen Veränderungen in ihm vor. Sie konnte nichts für das, was sie tat, und hasste sich vermutlich dafür, der kleine Liebling.
„Wie ist dein Name, Rotschopf?“
Sie spitzte die Lippen und runzelte die Stirn – ein Spiegelbild seiner Mimik. „Name?“
„Ja. Name. Wie heißt du?“
Sie blinzelte. „Wie ich heiße.“ Das leicht Raue in ihrer Stimme verblasste allmählich und ließ eine Erkenntnis aufkeimen. „Wie ich … ach so. Gwendolyn. Gwen. Ja, das ist mein Name.“
Gwendolyn. Gwen. „Ein hübscher Name für eine hübsche Frau.“
Ein Hauch von Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und sie blinzelte wieder – dieses Mal richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Sie schenkte ihm ein zögerliches Lächeln, das begrüßend, erleichtert und hoffnungsvoll wirkte. „Du bist Sabin.“
Wie sensibel war eigentlich ihr Hörsinn? „Ja.“
„Du hast mir nichts getan. Auch nicht, als ich …“ In ihrer Stimme schwang Verwunderung mit, Verwunderung und Reue.
„Nein, ich habe dir nichts getan.“ Er hätte gern hinzugefügt: Und das werde ich auch nie. Aber er war sich nicht sicher, ob das stimmte. In seinem Streben nach dem endgültigen Sieg über die Jäger hatte er einen guten Mann verloren, einen großartigen Freund. Er hatte sich von zahllosen beinah tödlichen Verletzungen erholt und viele Geliebte begraben. Falls nötig, würde er der Sache auch diese kleine Biene opfern, ob er sie begehrte oder nicht.
Außer du wirst weich, meldete sich plötzlich Zweifel zu Wort.
Das wird nicht passieren. Das war ein Schwur. Er weigerte sich, etwas anderes zu glauben. Und es war eine Bestärkung dessen, was er schon längst wusste: Er war kein ehrenwerter Mann. Er würde sie benutzen.
Gwens Blick glitt an ihm vorbei, und ihr Lächeln erstarb. „Wo sind deine Männer? Sie standen genau dort. Ich habe doch nicht … ich … habe ich …“
„Nein, du hast ihnen nichts getan. Sie warten direkt vor der Kammer, das schwöre ich.“
Vor Erleichterung ließ sie die Schultern sinken. „Danke.“ Offenbar sprach sie mit sich selbst. „Ich … oh Himmel.“
Sie muss den Jäger entdeckt haben, den sie getötet hat, dachte er.
Sie wurde wieder blass. „Er hat … so viel Blut … wie konnte ich nur …“
Sabin lehnte sich zur Seite, um ihr die Sicht zu versperren. „Hast du Durst? Oder Hunger?“
Die außergewöhnlichen Augen richteten sich auf ihn. Sie leuchteten gierig. „Du hast etwas zu essen? Richtiges Essen?“
Bei diesem Blick spannte sich jeder Muskel seines Körpers an. Es hatte schon fast etwas Euphorisches. Womöglich spielte sie ihm nur vor, an seinem Angebot interessiert zu sein, damit er sich entspannte und sie leichter entkommen konnte. Musst du wie dein Dämon sein und jeden und alles anzweifeln?
„Ich habe Energieriegel“, erwiderte er. „Ich weiß nicht, ob man das als richtiges Essen einstufen kann, aber sie halten einen bei Kräften.“ Nicht dass sie noch mehr Kraft brauchte.
Sie schloss die Augen und seufzte verträumt. „Energieriegel, das klingt göttlich. Ich habe seit über einem Jahr nichts gegessen, aber ich habe es mir oft vorgestellt. Immer und immer wieder. Schokolade und Kuchen, Eis und Erdnussbutter.
Ein ganzes Jahr ohne den kleinsten Krümel? „Sie haben euch nichts gegeben?“
Sie öffnete die dicht bewimperten Augen. Sie nickte weder, noch bestätigte sie seinen Verdacht, doch das brauchte sie auch nicht. Die Wahrheit lag klar erkennbar in ihrem grimmigen Gesichtsausdruck.
Sobald er die Jäger verhört hätte, würde jeder einzelne, den er in diesen Katakomben gefunden hatte, sterben. Durch seine Hand. Er würde sich Zeit lassen und jeden Schnitt genießen, jeden Tropfen Blut, der vergossen wurde. Dieses Mädchen war eine Harpyie, die Ausgeburt des Teufels, wie Gideon gesagt hatte, doch selbst sie verdiente es nicht, die nagende Qual des Hungerns auszuhalten. „Und wie hast du überlebt? Ich weiß, dass du unsterblich bist, aber sogar die Unsterblichen brauchen Nahrung, um bei Kräften zu bleiben.“
„Die haben irgendwas in das Belüftungssystem gespeist. Eine spezielle Chemikalie, die uns am Leben halten und gefügig machen sollte.“
„Hat bei dir wohl nicht ganz funktioniert, was?“
„Nein.“ Sie leckte sich hungrig die Lippen. „Hast du nicht was von Energieriegeln gesagt?“
„Wir müssen die Kammer verlassen, um sie zu holen. Kannst du das?“ Oder besser: Würde sie es tun? Er bezweifelte, dass er sie zu irgendetwas zwingen konnte, ohne am Ende blutüberströmt und mit gebrochenen Knochen dazuliegen – vielleicht sogar tot. Er fragte sich, wie die Jäger sie eingefangen und hierher gebracht hatten, ohne sie zu töten.
Kurz zögerte sie. Dann sagte sie: „Ja.“
Wieder bewegte Sabin sich langsam, nahm sie beim Arm und half ihr auf die Füße. Sie taumelte. Nein, wurde ihm im nächsten Moment klar, sie kuschelte sich an ihn, suchte engeren Kontakt zu seinem Körper. Er war wie erstarrt, fest entschlossen, sich der Berührung zu entziehen – auf Abstand halten, ich muss sie auf Abstand halten. Und als sie seufzte, drang ihr Atem durch die Schnitte in seinem Hemd bis an seine nackte Brust.
Nun schloss er verzückt die Augen. Er legte sogar einen Arm um ihre Taille, um sie dichter an sich zu ziehen. Vertrauensselig legte sie den Kopf an seinen Hals.
„Davon habe ich auch geträumt“, flüsterte sie. „So warm. So stark.“
Er schluckte den Kloß herunter, der ihm plötzlich im Hals zu stecken schien, und spürte, wie Zweifel in ihm unruhiger wurde und verzweifelt an den Gitterstäben seines Käfigs rüttelte. Er wollte raus und die Behaglichkeit ausmerzen, die Gwen bei Sabin verspürte.
Zu viel Vertrauen, sagte der Dämon, als wäre das eine Krankheit.
Genau die richtige Dosis, fand Sabin. Es gefiel ihm, dass eine Frau ihn als Prinz des Lichts betrachtete und nicht als König der Dunkelheit, vor dem sie schreiend davonlaufen müsste. Ihm gefiel, dass sie ihm erlaubt hatte, ihren Schmerz zu lindern.
Trotzdem war es dumm von ihr, das musste er zugeben. Sabin war niemandes Held. Er war der größte Feind eines jeden.
Ich will mit ihr sprechen!, verlangte sein Dämon und klang dabei wie ein Kind, dem ein besonderes Vergnügen vorenthalten wird.
Ruhe. Wenn Gwen an ihm zweifelte, konnte das leicht die todbringende Harpyie wecken und seine Männer in Gefahr bringen. Und das würde Sabin nicht zulassen. Sie waren ihm viel zu wichtig. Er brauchte sie.
Er musste auf Abstand gehen. Also ließ er die Arme fallen und machte einen Schritt zur Seite. „Nicht anfassen.“ Die Worte waren nur ein Krächzen und klangen härter, als er beabsichtigt hatte. Sie wurde blass. „Jetzt komm. Lass uns von hier verschwinden.“