21. KAPITEL
I n Chicago war es kühl, und es wehte ein leichter Wind. Die Sonne glich einem starrenden Auge, das jede Bewegung verfolgte, die Gideon machte. Ihm gefielen die hoch aufragenden Gebäude und die Nähe zum Wasser – das eine vermittelte Großstadtatmosphäre und das andere Entspannung am Seeufer. Das Beste aus zwei Welten.
Er und die anderen Krieger waren schon seit mehreren Tagen hier, doch erst jetzt hatten sie die Anlage gefunden, wegen der sie hergekommen waren. Irgendwie hatten sie sie wieder und wieder übersehen. Vielleicht, weil die Hausnummern nicht mehr zu erkennen waren oder weil sich die roten Backsteinhäuser, die ringsherum standen, bis auf die letzte Fuge glichen. Sie waren schmal, aber hoch, mindestens vierzehn Stockwerke, zwei quadratische Fenster auf jeder Etage.
Doch obwohl es so gut versteckt lag, hätten sie es nicht mehrfach übersehen dürfen. Deshalb stellte Gideon sich die Frage, ob hier noch etwas anderes im Gang war, etwas anderes als seine „Vielleichts“. Etwas wie Zauberei.
Womöglich ein Schutzzauber? Er hatte in seinem Leben schon ein paar Hexen kennengelernt und wusste, dass sie sehr mächtig waren. Aber warum sich eine dafür entscheiden sollte, mit den Jägern zusammenzuarbeiten, war ihm ein Rätsel.
Schließlich waren sie auf die brillante Idee gekommen, Luciens Geist hier draußen allein zurückzulassen, um darauf zu warten, dass ihm ein Jäger über den Weg lief. Daraus hatte sich eine weitere Verzögerung ergeben: Da Jäger nicht so leicht zu erkennen waren – sie trugen unauffällige Kleidung und versteckte Waffen –, war Lucien vielen harmlosen Menschen gefolgt. Aber schließlich hatten sich seine Bemühungen ausgezahlt, als er einen wahrscheinlichen Kandidaten erspäht hatte, der in ein Gebäude geschlichen war, das niemandem von ihnen aufgefallen war – oder falls doch, erinnerten sie sich nicht daran. Lucien hatte das Gebäude mit einer kleinen Blutspur markiert, denn die konnte Anya sogar mit geschlossenen Augen aufspüren.
Nun saßen sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einer Baustelle versteckt und blickten zwischen dicken Holzbalken hindurch, während hinter ihnen die Arbeiter hin und her eilten. Ein paar Leute waren so mutig gewesen, sie zum Gehen aufzufordern. Aber ein mit Rosenduft unterlegter hypnotischer Blick aus Luciens verschiedenfarbigen Augen hatte genügt, und die Arbeiter hatten vergessen, dass sie sich überhaupt hier aufhielten. Gideon hätte schreien können, sie hätten nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
Gideon wollte auch solche Macht besitzen. Oder vielleicht die Superwut von Maddox, der die Welt in kleine Stücke zerreißen konnte, nur weil er genervt war. Vielleicht auch die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, wie Amun sie besaß. Oder jeden Schnitt, jeden Hieb, jede Verletzung zu genießen, so wie Reyes es tat. Oder sogar wie ein Tier Sex zu haben wie Paris. Oder zu fliegen wie Aeron. Oder alles zu gewinnen wie Strieder. Oder – er fand bei jedem Krieger etwas, um das er ihn beneidete. Sogar bei Cameo, dem Inbegriff des Elends. Sie war in der Lage, allein durchs Reden einen Raum zu räumen. Sie konnte erwachsene Männer dazu bewegen, schluchzend wie Babys auf die Knie zu sinken.
Und was konnte Gideon? Er konnte lügen, sonst nichts. Und das nervte wie Sau. (Das war übrigens keine Lüge.) Er konnte keiner Frau sagen, dass sie hübsch war, wenn sie nicht hässlich war. Er konnte seinen Freunden nicht sagen, dass er sie liebte. Er konnte den Jägern nicht sagen, dass sie Abschaum waren. Er musste ihnen sagen, dass sie Goldstücke waren. Ein echter Albtraum. Apropos Albtraum – den musste er natürlich die Erfüllung eines Traumes nennen.
Und trotz allem tat ihm nicht leid, dass er zum Leben eines dämonenbesessenen Kriegers verdammt war. Er trug es mit Stolz, als wäre es eine Auszeichnung. Er hätte gern so getan, als ob es ihn anwiderte, was er – abgesehen von Sabin und Strider – mit den anderen gemeinsam gehabt hätte. Aber er belog sich niemals selbst.
Manchmal dachte er, er wäre der einzige Krieger, der seinen Fluch positiv bewertete. Es war nicht schlimm, einen Dämon in sich zu haben. Es war auch nicht schlimm, sich an ihm zu erfreuen und froh zu sein, weil man nicht allein war – außer dass sein Dämon, im Gegensatz zu allen anderen, nie mit ihm sprach. Nein, sein Dämon war vielmehr ein … immer präsenter Schatten in seinem Hinterkopf. Es war nicht falsch, froh zu sein, weil man mächtiger war. Aber, verflucht noch mal, hätte es die Götter vielleicht umgebracht, ihm Wut oder Albtraum zuzuteilen? Also, Albtraum wäre wirklich ziemlich cool. Über die Fähigkeit zu verfügen, die Albträume der Jäger wahr werden zu lassen, das wäre der Himmel auf Erden.
Plötzlich bohrte sich ein Stich der Sehnsucht durch seinen Körper, und Gideon blinzelte überrascht. Sehnsucht? Wonach? Nach der Fähigkeit? Oder nach dem Dämon an sich?
Gideon verdrängte das seltsame Gefühl. Er wusste nicht einmal, ob Albtraum überhaupt in der Büchse gewesen war – noch ein Stich.
„Wir beobachten das Haus nun schon seit über einer Stunde, unser unfreiwilliger Lockvogel ist schon längst wieder mit leeren Händen verschwunden, und sonst hat sich nichts geregt. Ich denke, es steht leer“, sagte Anya, und ihr Ton war leicht verwirrt, was bei ihr nur höchst selten vorkam. „Aber ich spüre Chaos. Und zwar ein verdammt großes Chaos.“ Das Chaos war ihre stärkste Machtquelle. Wenn es alsoirgendjemanden gab, der es erkannte, dann diese schöne Göttin.
„Können wohl keine Hexen und ihre Zaubersprüche sein“, sagte Gideon.
Anya japste. „Hexen. Natürlich. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? In all den Jahren hatte ich ungefähr ein-bis zweitausendmal Ärger mit ihnen. Sie sind die Machtschänder schlechthin“, murmelte sie. „Mal sehen, wie es ihnen gefällt, wenn ich meine Macht missbrauche und aus ihren schwarzen Herzen ein neues Mittelstück für unseren Tisch mache.“
„Vielleicht sollte ich meinen Geist reinschicken“, schlug Lucien vor. Er wäre für alle unsichtbar und könnte sich die Räume in Ruhe ansehen, ohne Angst haben zu müssen, entdeckt zu werden.
„Nein. Das Thema hatten wir doch schon“, widersprach Anya entschlossen. Sie schüttelte den Kopf. Gideon, der rechts neben ihr stand, spürte, wie ihre seidigen Haare ihn streiften. „Irgendetwas ist faul mit dem Gebäude, und ich will nicht mal, dass dein Geist da reingeht. Erst recht nicht, wenn womöglich Hexen im Spiel sind …“
Gideon betete Frauen an, und bei der Berührung des Haars stieg seine Temperatur um ein paar Grad. Das letzte Mal war er nur wenige Stunden nach seiner Rückkehr aus Ägypten mit einer Frau zusammen gewesen. Bis zu einem gewissen Grad wussten die Frauen aus Budapest, dass er und die anderen Herren anders waren. Sie betrachteten sie als „Engel“. Er hatte nichts sagen, sondern nur seinen Finger krümmen müssen, und schon war diese eine zu ihm gelaufen. Doch sie hatte nicht genügt, um seinen inneren Schmerz zu lindern. Sie waren nie genug.
„Dann lasst uns mal weiter nichtstuend hier herumstehen“, sagte er. Was hieß: Lasst uns das Haus mit rauchenden Pistolen stürmen. Und seine Freunde wussten es. Was seine Wortwahl betraf, waren sie sehr versiert. Und das war auch dringend nötig.
Wenn er auch nur versuchte, irgendein wahres Wort von sich zu geben, durchzuckte ihn ein schier unerträglicher Schmerz. Ein Schmerz, der stärker war, als man es jemandem zumuten sollte. Es war schmerzhaft wie Messer, die in Säure getaucht, mit Salz paniert und mit Gift beträufelt waren, bevor man sie ihm in den Bauch stach und dann in mehreren Runden bis zum Gehirn und zurück zu seinen Füßen zog.
„Wir haben vor Kurzem keinen Bombenangriff überlebt“, fügte er hinzu, weil sie natürlich einen überlebt hatten. Seit der Explosion, auf die er anspielte, waren erst wenige Monate vergangen. Und er erinnerte sich noch lebhaft an den Schrecken und den Schmerz. Doch Gideon war gewillt, es noch einmal zu ertragen. Es war schon viel zu lange her, seit er seinem Feind das Messer ins Fleisch gebohrt hatte oder ihn mit seinen Pistolenkugeln hatte tanzen lassen. Er konnte sich vor Tatendrang kaum halten. „Also können wir auf keinen Fall etwas anderes überleben, das sie uns zwischen die Beine werfen. Nicht mal Zaubersprüche.“
Gideon war der lebende Beweis dafür, dass die Herren nicht nur eine Menge Mist überleben konnten, sondern dabei auch noch lächelten. Einmal hatten die Jäger es geschafft, ihn zu fangen und einzusperren. Die nächsten drei Monate seines Lebens waren die reine Folter gewesen. Wortwörtlich. Er hätte lieber in der Hölle geschmort, als die Schläge, Elektroschocks und Stockhiebe auszuhalten, mit denen sie ihn zur Schwelle des Todes getrieben hatten, nur um ihn dann wiederzubeleben und aufs Neue auf ihn einzuschlagen.
Sabin hatte ihn gefunden und gerettet, indem er ihn sich wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter gelegt hatte. Gideon war nicht mehr in der Lage gewesen zu gehen. Sie hatten ihm einfach die Füße abgeschlagen, um ihnen beim Nachwachsen zuzusehen. Vielleicht liebte Gideon den Krieger deshalb so sehr und hätte alles für ihn getan. Ein paar Jäger bringe ich nur für ihn um. Dass Sabin nicht hier war, obwohl er doch für diese Kämpfe lebte …
Daran war bestimmt die Harpyie schuld. Noch nie war Sabin von einer Frau derart besessen gewesen, dass er sich mit ihr eingeschlossen und seine Pflichten vernachlässigt hatte. Zwar freute sich Gideon für seinen Freund, weil er jemanden gefunden hatte, aber er war sich nicht sicher, was das für ihren Krieg bedeutete.
„Ich habe eine Idee“, sagte Strider. Strider hatte immer Ideen. Da der Sieg für sein Wohlergehen notwendig war, verbrachte er oft Stunden, Tage, ja sogar Wochen mit strategischen Planungen, bevor er in die Schlacht zog. „Ashlyn hat für die Jäger die Unsterblichen gefunden. Wahrscheinlich hat sie sogar die Hexen für sie ausfindig gemacht, verdammt. Dann soll sie jetzt einfach eine für uns finden. Unsere Hexe kann jedweden Bann aufheben – sofern wir es tatsächlich mit einem Zauber zu tun haben – und dann: bumm, Sieg.“
„Die Zeit ist nicht gerade auf unserer Seite. Wir müssen diese Kinder aus den Fängen unserer Feinde befreien. Wir müssen weiter nach der Büchse suchen“, entgegnete Lucien.
„Aber, Baby …“ Anya klang besorgt.
„Mir wird nichts passieren, Liebste. Ich habe dein Herz gewonnen. Ich kann alles schaffen.“ Lucien küsste sie, und trotz seines dringlichen Tonfalls verweilte er noch kurz, bevor er vollständig verschwand. Die Arbeiter werkelten rings um sie herum unbeirrt weiter. Falls sie die Krieger jetzt sehen und hören konnten, ließen sie es sich nicht anmerken.
Anya seufzte verträumt. „Götter, dieser Mann bringt meinen Motor auf Touren.“
Reyes lachte in sich hinein.
Strider verdrehte die Augen.
Amun blieb so stoisch wie immer.
Nein, nicht stoisch, dachte Gideon. Aber von irgendetwas Dunklem gezeichnet. Er betrachtete die Falten, die Amun vor Anspannung hatte und die sich von den dunklen Augen bis zu seinem Mund zogen. Seine Schultern waren so steif, als wären die Muskeln verknotet. Die letzte Reise in den Kopf des Jägers in der Pyramide hatte ihn offenbar nachhaltig mitgenommen.
Wenn es irgendetwas gab, was Gideon tun konnte, um ihm zu helfen, er würde es tun. Er mochte den stillen Riesen. Niemand war netter, keiner war fürsorglicher. Während Gideon sich von seinem Fußraub erholt hatte, war Amun derjenige gewesen, der ihm etwas zu essen gebracht, seine Verbände gewechselt und ihn nach draußen an die frische Luft getragen hatte.
Da er keine bessere Idee hatte, stellte Gideon sich neben Amun und klopfte dem großen Mann auf den Rücken. Amun sah ihn nicht an, doch auf seinen Lippen deutete sich ein Lächeln an.
„Schnell, irgendjemand muss mich ablenken“, sagte Anya. „Mir ist langweilig.“
Alle stöhnten. Eine gelangweilte Anya war eine streitlustige Anya. Aber Gideon kannte die Wahrheit. Er konnte fast immer noch den sorgenvollen Tonfall der Göttin hören. Ihr gefiel es nicht, von Lucien getrennt zu sein.
„Wir können auf keinen Fall ‚Wie werde ich die Jäger töten‘ spielen“, sagte er.
„Ich ersteche sie“, erwiderte Reyes sofort, und seine dunklen Augen glühten wild.
„Ich erschieße sie“, meinte Strider. „Und ziele dabei auf ihre Eier.“
„Ich breche ihnen die Hälse“, erwiderte Anya und rieb sich die Hände, „und zwinge sie dann, dabei zuzusehen, wie ich ihnen die Eingeweide herausnehme.“ Das täte sie wirklich. Jeder, der Lucien bedrohte, bekam einen Platz auf ihrer Unbedingt-Foltern-Liste. „Du brauchst uns nicht zu sagen, dass du sie küssen wirst, Gideon. Das wissen wir schon.“
Die Krieger lachten im Chor.
Das hatte man also davon, wenn man nett zu Anya sein wollte. Gideon zeigte ihnen den gestreckten Mittelfinger.
„Ich weiß, was wir machen können“, meinte Reyes. Normalerweise hatte er in jeder Hand einen Dolch und schnitt sich, während er sprach. Aber heute nicht. Nicht solange er von Danika getrennt war. Das ist Schmerz genug, sagte er häufig. „Lasst uns wetten, wie Sabin mit der Harpyie vorankommt.“
„Der Mann hat Eier in der Hose, so viel steht fest“, erwiderte Strider. „Gwen ist hübsch, keine Frage, aber jeder, der einem die Kehle herausreißen kann …“ Er schauderte.
„He!“, unterbrach Anya ihn und sah ihn finster an. „Das war nicht Gwens Schuld. Nicht dass mich irgendwas an dem Gedanken stört, dass man einem Jäger die Kehle herausreißt. Aber nach allem, was ich gehört habe, hatte sie Angst. Und man jagt einer Harpyie keine Angst ein und lebt dann fröhlich weiter, um mit seiner Tat zu prahlen. Das ist gewissermaßen eines der ersten Dinge, die sie einem in der Götterschule beibringen. Die ganze Art ist von Natur aus gewalttätig. Ich meine, ihr habt doch Gwens Schwestern kennengelernt, oder?“
Jetzt schauderten alle.
„Sabin hat einfach nur verfluchtes Glück gehabt“, meinte Gideon.
Anya sah ihn an, doch auf einmal war ihr Blick wie verschleiert, so als schaute sie durch ihn hindurch. Ein energiegeladenes Brummen ging von ihr aus, legte sich um ihn, drückte zu. Als sie ihn fixierte, erstrahlte ein Lächeln auf ihren Lippen. „Pass lieber auf“, warnte sie ihn. „Sonst wird dir das Schicksal die Liebe zu einer Frau auferlegen, die noch viel schlimmer ist als eine Harpyie. Die Götter sprühen in dieser Hinsicht regelrecht vor Humor.“
Die Hitze wich aus seinen Wangen, und er ballte die Hände zu Fäusten. „Weißt du irgendwas?“ Sie war eine Göttin und verfügte vermutlich über Informationen, die die Herren nicht hatten.
„Schon möglich“, erwiderte sie und zuckte kess die Schultern.
„Wag es nicht, es mir zu erzählen!“ Er liebte die Frauen, das tat er wirklich. Aber eine für immer nehmen, wenn nur eine Frau ihn nie wirklich befriedigen konnte? Zum Teufel, nein. Grausam wie das Leben zu ihm war, brauchte er etwas Extremes, um in Ekstase zu geraten. Wenn seine Partnerinnen ihn fragten, wie er es am liebsten mochte, musste er ihnen das Gegenteil sagen. Wie viel schlimmer wäre es, wenn er an eine einzige Frau gebunden wäre? Er würde niemals den Sex bekommen, nach dem er sich in Wahrheit sehnte, nicht mal aus Versehen.
„Ich würde es dir natürlich sagen, wenn ich etwas wüsste.“
Sie log. Das wusste er genau. Lügen, das gehörte zu ihren Leidenschaften. Wie hielt Lucien es nur mit ihr aus? He, warte eine Sekunde, dachte er angewidert.
Plötzlich nahm Lucien vor ihren Augen Gestalt an. Sein vernarbtes Gesicht schaute verwirrt drein, als sich alle um ihn versammelten. „Das Haus ist eingerichtet, aber es ist niemand da. Papierkram habe ich nicht gefunden, aber dafür Kleidungsstücke, die überall herumliegen. Das waren eindeutig Kindergrößen. Offenbar sind sie hastig aufgebrochen.“
Strider zog die Augenbrauen hoch und rieb sich die Schläfen. „Das bedeutet, dass wir zu spät gekommen sind. Dass unsere Reise umsonst war.“
„An den Wänden prangen merkwürdige Zeichen“, fügte der narbengesichtige Krieger hinzu. „Allerdings konnte ich sie nicht entziffern. Ich will euch einen nach dem anderenreinbeamen. Auf diese Weise kann uns niemand entdecken, falls das Außengelände videoüberwacht wird. Irgendeiner von uns hat die Zeichen bestimmt schon mal gesehen und kennt ihre Bedeutung.“
Es dauerte nicht lange. Innerhalb von fünf Minuten waren sie in dem Gebäude. Gideon wankte vor Schwindel – dieses Beamen war wirklich schrecklich –, Strider lachte, Reyes war blass und hielt sich den Bauch, Anya tanzte durch das leere Zimmer, und Amun starrte in die Ferne.
„Hier lang“, kommandierte Lucien.
Sie gingen durch schmale Flure, in denen ihre stiefelschweren Schritte widerhallten. Gideon fuhr mit dem Finger an der Wand entlang; sie war in einem Übelkeit erregenden Grau gestrichen, in demselben Grau, in dem auch seine Zelle gestrichen gewesen war. Das einzige Möbelstück, das man ihm gewährt hatte, war ein Bett mit Hand-und Fußfesseln gewesen.
Schlechte Erinnerungen. Er folgte diesem Gedankengang nur ungern, wenn er sich nicht mitten in einem Kampf befand. Sonst half es, seine Wut zu kanalisieren. Er sah sich um und erblickte zahlreiche Schlafzimmer. Na ja, eigentlich ähnelte das Ganze eher einer Kaserne, mit fünfzehn Betten in einem Raum. Zudem gab es noch Zimmer, die wie Klassenräume aussahen.
Links, rechts, rechts, links, und sie betraten eine Sporthalle. Alle blieben wachsam. An einer Wand hingen Spiegel, vor denen eine Stange montiert war. Für … Ballett?, fragte er sich. Natürlich. Killer arbeiteten umso effizienter, je beweglicher sie waren.
Drei der Wände waren grau, genauso wie der Flur. Aber die vierte Wand war kunterbunt gestrichen. Gideon konnte kein einziges Bild erkennen, sondern nur scharfe, zerklüftete Linien und weitschweifige Bögen. Ein einziges Durcheinander.
„Hübsch“, murmelte er.
„Das ist auch ein Zauber, genau wie wir vermutet haben“, erwiderte Anya.
Dicht neben ihm blieben sie stehen. Schon bald folgten Finger und Blicke den Linien und suchten nach Mustern.
„Das habe ich schon mal gesehen“, meinte Reyes finster. „In den Büchern, die ich gelesen habe, um mehr über Anya zu erfahren.“
Als Anya zu ihnen gekommen war, hatte anfangs niemand gewusst, ob sie ihnen schaden oder helfen wollte. Doch das war nicht die Schuld der Krieger gewesen. Die Frau war seit Jahrhunderten für die Schwierigkeiten bekannt, die sie verursachte.
„Och Schmerzchen. Dein Interesse schmeichelt mir immer noch, aber so langsam musst du wirklich über mich hinwegkommen. Ich bin doch schon vergeben. Aber nun zu dem Zauber. Sie benutzen definitiv die alte Sprache“, sagte sie. „Aber sie haben auch eigene Zeichen hinzugefügt, und ich habe Probleme, bestimmte Wörter zu entziffern. Das da bedeutet ‚dunkel‘, das hier ‚Macht‘ und dieses … ‚hilflos‘, glaube ich.“
„Ich will jetzt nicht gehen“, sagte Gideon, der plötzlich ein Kribbeln verspürte, das ihm die Wirbelsäule entlanglief. Eine Warnung. Ganz in ihrer Nähe lauerte die Gefahr.
Reyes seufzte. „Die Lügerei geht mir allmählich schwer auf die Nerven.“
„Das ist mir nicht egal. Ehrlich nicht“, erwiderte Gideon trocken. „Mein Herz blutet für dich. Und nur damit du es weißt: Ich kann genauso gut leben, ohne zu lügen, wie du, ohne dich zu schneiden.“
Noch ein Seufzer. Dann sagte Reyes: „Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Lüg ruhig so viel wie du willst.“
„Das werde ich nicht.“
Strider lachte schallend und klopfte ihm auf die Schulter.
Gideon wusste, dass er anstrengend war. Aber er konnte nicht anders.
Anya, die beim Lesen die ganze Zeit über unverständlich vor sich hin gemurmelt hatte, rang auf einmal nach Atem. „Oh meine Götter.“ Einen Schritt, noch einen, so entfernte sie sich rückwärts von der Wand. Sie zitterte, und in all den Wochen, die Gideon sie nun kannte, in all den Schlachten, in denen sie Seite an Seite gekämpft hatten, hatte er die mutige Frau noch nie zittern sehen. „Beam uns weg, Lucien. Sofort. Uns alle, wenn möglich.“
Lucien zögerte keine Sekunde und verschwendete auch keine Zeit damit, nach dem Warum zu fragen. Mit raschen Schritten ging er zu ihr hinüber und schlang die Arme um sie. Ohne Frage wollte er sie zuerst rüberbeamen – denn, ob sie es wusste oder nicht, er konnte nicht mehr Personen transportieren, als er berühren konnte. Doch es war zu spät. Dunkle Metallblenden fielen über die Fenster und schotteten jedweden Lichtstrahl ab.
Er hörte, wie sich am Ende des Flurs die gleichen Blenden über die Fenster legten.
Gideon wirbelte herum und umklammerte seine Dolche. Er wollte um sich schlagen, aber es war so dunkel geworden, dass er die Hand nicht vor Augen sehen konnte, geschweige denn seine Freunde. Und er wollte ja nicht die Falschen verletzen.
„Lucien“, rief Anya.
„Ich bin hier, Baby, aber ich kann uns nicht wegbeamen. Anscheinend kann ich meinen Körper nicht mehr entmaterialisieren.“ Lucien hatte noch nie so grimmig geklungen. „Es ist, als würde irgendein magnetischer Schild meinen Geist in meinem Körper einsperren.“
„So ist es auch“, meinte Anya. „Das ist der Zauber. Ich habe den Rest aktiviert, indem ich den Spruch laut vorgelesen habe.“
Eine seltsame Pause entstand, in der die Krieger Anyas Worte erst mal verarbeiten mussten. In Gideon drang die Erkenntnis durch, sodass sich ihm die Kehle zuzuschnüren drohte.
„Was bedeuten die Formen denn?“, fragte Strider schließlich.
„Das meiste davon ist ein Zauberspruch, der uns im Dunkeln einschließt – machtlos und hilflos. Aber die letzte Zeile ist eine Botschaft für euch alle. Da steht: Willkommen in der Hölle, Herren der Unterwelt. Ihr werdet hierbleiben, bis ihr sterbt.“