19. KAPITEL

S ie dürfen mich nicht so sehen … Wer? Oder was?, fragte Sabin sich, als er die schlafende Gwen in die Arme nahm. Ein Laut teilte ihre Lippen. Er war leise und irgendwie erotisch. Auf einmal fühlte er sich auf seltsame Art beschützerisch und hielt sie noch fester.

Die Herren dürfen sie nicht nackt sehen? Geschenkt. Er wäre lieber gestorben, als dass er anderen Männern auch nur einen kurzen Blick auf ihre Schönheit erlaubt hätte.

Ihre Schwestern dürfen sie nicht so sehen? Auch geschenkt. Sie würden bloß Fragen stellen, auf die er nicht vorbereitet war. Mehr noch: Sie neigten zu überempfindlichen Reaktionen, wenn es darum ging, dass Gwen ein Nickerchen machte. Warum nur? Das ergab nach wie vor keinen Sinn für ihn.

Noch ein Laut, diesmal noch leiser, fast gehaucht. Sein Magen zog sich vor Verlangen zusammen, weil sie dieses Geräusch auch von sich gegeben hatte, als sie ihn geritten hatte. Die Sonne streichelte sie, unterstrich den Glanz ihrer Haut, ihre rosigen Brustwarzen. Ihre Hände lagen gefaltet auf ihrem Bauch, ihr Körper war entspannt, ihr Kopf lag vertrauensvoll an seiner Schulter. Rotblonde Locken fielen über seinen Arm, seinen Bauch, und es fühlte sich an, als wäre er in Seide gehüllt.

Sollte er ihr etwas anziehen? Nein, dachte er. Er wollte sie nicht hin und her drehen und am Ende noch versehentlich wecken. Endlich ruhte sie sich mal aus. Endlich schlief sie. Und alles, was ich tun musste, war, bis zur Besinnungslosigkeit mit ihr Sex zu haben, dachte er. Dann grinste er. Wenn es sein musste, würde er das jeden Abend tun. Schließlich brauchte ein Mädchen seinen Schlaf. Und (hüstel, hüstel) er war es ja gewohnt, Opfer zu bringen.

Keine Sekunde lang dachte er darüber nach, sich selbst anzuziehen. Dann hätte er sie ja auf den Boden legen müssen. Und nur um seine Blöße zu bedecken, ging er doch nicht das Risiko ein, dass sich ein Zweig in ihre Haut bohrte oder ein Käfer auf ihren Körper krabbelte.

Sabin küsste sie auf die Schläfe – er konnte nicht anders – und ging los. Sorgfältig darauf bedacht, sich im Schatten zu halten, schlich er sich von hinten an die Burg heran, wobei er sämtlichen Kameras, Fallgruben und Stolperdrähten aus dem Weg ging, die er und die anderen Krieger installiert hatten, um die Jäger fernzuhalten.

Was eben zwischen ihm und Gwen geschehen war – so etwas hatte er noch nie erlebt. Nicht mal mit Darla, die er aufrichtig geliebt hatte.

Und im Gegensatz zu Darla war Gwen vielleicht sogar stark genug, um auf lange Sicht mit seinem Dämon fertig zu werden. Das war eine verblüffende und willkommene Offenbarung gewesen.

Denkst du allen Ernstes, du könntest sie halten? Wie lange wird sie dich wohl lieben, falls sie überhaupt so dumm ist, dich zu lieben? Du könntest sie verraten. Und du musst immer wieder weg, um zu kämpfen. Schlimmer noch: Du hast vor, neben ihren Schwestern zu kämpfen. Was, wenn sie getötet werden? Dann würde Gwen dir die Schuld daran geben, und zwar zu Recht.

Die Zweifel flössen nicht einfach durch seinen Körper. Sie schrien, trommelten gegen seine Schläfen, prügelten auf ihn ein. Der scharfe Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Jetzt, da Gwen schlief und die Harpyie genauso, hatte sich Sabins Dämon aus seinem Versteck gewagt. Er war wütend und gierte nach Nahrung.

Und welche Nahrung war besser als die geheimen Ängste, über deren Existenz sich Sabin erst in diesem Momentbewusst wurde? Einmal ins Bewusstsein geholt, gab es keine Möglichkeit mehr, sie auszublenden; sie verschlangen ihn fast in einem Stück.

Wollte er, dass Gwen ihn liebte?

Dass diese bernsteinfarbenen Augen ihn gütig ansahen – heute, morgen, für immer? Dass dieser fantastische Körper jede Nacht in seinem Bett lag? Dass er ihr perlendes Gelächter hörte? Dass er sie beschützte? Dass er in ihr ihre eigentliche Stärke weckte?

Ja, er wollte, dass sie ihn liebte. Wie er gerade herausgefunden hatte, konnte sie seinen Dämon besiegen. Verdammt, sie hatte der Bestie solche Angst eingejagt, dass sie sich ihr unterworfen hatte.

Ihm wurde klar, dass ein Teil von ihm sie seit dem Moment liebte, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Als sie hilflos eingesperrt gewesen war, hatte sein Instinkt ihm eindeutig gesagt, dass er sie retten musste. Dann, als sie hart darum gekämpft hatte, ihre Harpyie unter Kontrolle zu halten und die Regeln ihres Volkes zu befolgen, war er von ihr fasziniert gewesen. Doch er hatte sie nie richtig verstanden und sie fälschlicherweise für schwach gehalten. Jetzt sah er sie als das, was sie in Wahrheit war: stärker als ihre Schwestern, stärker als er.

Fast ihr gesamtes Leben lang hatte sie eine offenbar nicht zu unterdrückende Bestie in Schach gehalten. Sabin hatte schon Probleme, seinen Dämon länger als einen Tag einzusperren. Sie hatte ihre Familie verlassen, um ihren eigenen Traum zu leben. Sie war nicht vor ihm davongelaufen – selbst dann nicht, als sie herausgefunden hatte, was er war, und sich vor ihm gefürchtet hatte.

Oh ja. In dieser zierlichen Frau steckte mehr Mut, als irgendwer je bemerkt hatte. Gwen selbst eingeschlossen. Jetzt wollte sie seinetwegen die Jäger angreifen. Sie war bereit, sich jeden Tag aufs Neue der Gefahr auszusetzen.

Im Falle einer Verletzung würde ihr Körper wieder heilen. Das wusste er. Oder besser: Sein Kopf wusste das. Denn beim Gedanken an eine verletzte, blutüberströmte Gwen hätte er fast laut losgebrüllt, während er durch einen der Hintereingänge der Burg schlüpfte. Ich bin ein bescheuerter Vollidiot!

Da widerspreche ich dir nicht.

Er zog die Augenbrauen hoch und bahnte sich seinen Weg zu einem Geheimgang – ein Gang, den Torin mit Monitoren überwachte.

Sabin sah zu einer der versteckten Kameras hoch und schüttelte den Kopf. Mit dieser Geste befahl er seinem Freund, Stillschweigen zu bewahren. Doch er verlangsamte seine Schritte nicht. Als er sein Schlafzimmer erreicht hatte, sperrte er die Tür hinter ihnen ab. Liebte Gwen ihn? Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, sonst hätte sie sich ihm nicht hingegeben. Und noch dazu so leidenschaftlich, dass sie ihm den besten Orgasmus seines langen, langen Lebens beschert hatte. Sie vertraute ihm, sonst hätte sie ihm nicht ihre größte Schwäche offenbart. Aber liebte sie ihn?

Und wenn sie ihn liebte, könnte diese Liebe die Zeit auf den Wegen überstehen, die sie mit Sicherheit betreten würden? Ob ja oder nein, auf einmal wusste er, dass er sie nicht gehen lassen würde. Sie gehörte jetzt zu ihm, und er gehörte zu ihr. Er hatte sie schließlich davor gewarnt, dass es Konsequenzen hätte, wenn sie sich ihm hingab.

Er wollte alles von ihr wissen. Er wollte jedes ihrer Bedürfnisse kennen. Sie verwöhnen. Jeden umbringen, der sie verletzte – sogar ihre Schwestern.

Er hatte ihr einst gesagt, dass er mit einer anderen Frau schlafen könnte – und würde – als mit der, die er liebte, sofern ihm das in seiner Sache weiterhalf. Wie albern von ihm. Wie naiv. Die Vorstellung, mit einer anderen Frau ins Bett zu steigen, ließ ihn kalt. Ihm wurde sogar schlecht dabei. Keine würde sich so anfühlen, so anhören und würde so schmecken wie seine Gwen. Außerdem würde es sie verletzen, und er konnte sie nicht verletzen. Die Vorstellung von Gwen, wie sie mit einem anderen Mann schlief – wie sie ihn berührte, küsste, sich gehen ließ –, nur um eine Schlacht zu gewinnen, allein das versetzte Sabin in Mordlaune.

Was, wenn sie einen anderen Mann will? Wenn sie ihn begehrt? Wenn sie sich danach sehnt…

Noch ein Wort, und ich finde die Büchse der Pandora und sauge dich aus meinem Körper, das schwöre ich dir bei den Göttern.

Du würdest sterben. Die Stimme zitterte.

Du würdest leiden. Und wir wissen beide, dass ich mich opfern würde, um meinen Feind zu vernichten.

Und wer würde dann deine kostbare Gwen beschützen?

Ihre Schwestern. Soll ich sie holen? Damit du dich mit ihnen unterhalten kannst?

Stille. Süße Stille.

Sabin legte Gwen sanft aufs Bett und steckte die Decke um sie herum fest. An der Tür klopfte es laut, und er murrte. Doch Gwen bewegte sich weder, noch stöhnte sie oder brachte auf andere Art zum Ausdruck, dass sie die Störung irgendwie wahrnahm. Das rettete dem Eindringling das Leben.

Drei lange Schritte, und er hatte die Tür erreicht, entriegelte sie und riss sie auf.

Kaia versuchte sich an ihm vorbei ins Zimmer zu drängen. „Wo ist sie? Ich kann nur hoffen, dass du ihr nichts angetan hast, Mr. Ich-schlag-aus-Spaß-auf-Gwen-ein.“

„Das war kein Spaß. Es war, um sie zu stärken, und das weißt du genau. Du solltest mir dankbar sein, denn du hast deine Aufgabe ja nur schändlich erfüllt. Und jetzt geh.“

Sie sah mit starrem Blick zu ihm auf und stemmte die Hände in die Hüfte. „Ich gehe nicht, bevor ich sie gesehen habe.“

„Wir sind beschäftigt.“

Goldene Augen, die Gwens unheimlich ähnlich waren, betrachteten seinen nackten Körper. „Das sehe ich. Ich will trotzdem mit ihr reden.“

Sie dürfen mich nicht so sehen, hatte Gwen ihn angefleht. „Sie ist nackt.“ Wahr. „Und ich möchte jetzt zu ihr zurück.“ Auch wahr. „Dein Gespräch muss warten.“

Auf dem hübschen Gesicht der Harpyie breitete sich ein unverschämtes Grinsen aus. Den Göttern sei Dank, dass Sex gegen keine dieser verdammten Harpyien-Regeln verstieß.

Wenn Gwen wieder wach war, würden sie und er sich mal ausführlich unterhalten, und dann könnte sie ihm detailliert darlegen, was erlaubt war und was nicht. Und im Anschluss wurden die Regeln abgeschafft, mit denen er nicht einverstanden war.

„Mom wäre so stolz auf sie! Die kleine Gwennie schnappt sich einen bösen Dämon.“

„Hau ab.“ Er schlug ihr die Tür direkt vor der Nase zu. Dann zog er eine Grimasse und wirbelte herum. Zum Glück hatte Gwen sich immer noch nicht bewegt.

Im Laufe des Tages klopften Krieger, Frauen und Harpyien gleichermaßen an seine Tür. Es war ihm unmöglich, Ruhe zu finden, da er Gwens Worte einfach nicht aus dem Kopf bekam. Wer durfte was nicht sehen, verdammt noch mal? Die Schwestern hatten schon gesehen, dass sie bei ihm schlief, und zwar am Abend ihrer Ankunft. Deshalb konnte er sich nicht vorstellen, dass das so ein großes Problem war. Immerhin hatten sie nicht versucht, sie zu bestrafen. Schämte Gwen sich für die Wunde an ihrem Hals? Vielleicht hätte er sie nicht beißen sollen.

Die ersten Besucher waren Maddox und eine lächelnde Ashlyn, die einen Teller mit Sandwiches in ihren Händen hielt. „Ich dachte mir, nach so einer intensiven Trainingseinheit habt ihr zwei bestimmt Hunger.“

Maddox lächelte nicht. „Danke.“ Sabin nahm den Teller und schloss die Tür. Er hatte sich einen Bademantel übergezogen, da er den Anschein erwecken wollte, dass sie sich den ganzen Tag im Bett vergnügten, ohne seine Würde zu verlieren.

Als Nächstes kamen Anya und Lucien. „Wollt ihr euch mit uns einen Slasher-Film ansehen, während wir so tun, als würden wir uns diese verstaubten Schriftrollen durchlesen, in Wirklichkeit aber dafür sorgen, dass jemand anders die ganze Arbeit macht?“, fragt Anya und wackelte mit den Augenbrauen. „Das wird garantiert lustig.“

„Nein, danke.“ Wieder schloss er die Tür.

Kurze Zeit später kam Bianka. „Ich muss mit meiner Schwester sprechen.“

„Sie ist immer noch beschäftigt.“ Mit Schlafen. Er schlug vor ihrem finster dreinblickenden Gesicht die Tür zu.

Dann, endlich, gaben die Besucher auf. Sabin schickte Torin eine Kurzmitteilung auf sein Handy, um ihm mitzuteilen, dass er nun doch hierblieb, wenn die anderen nach Chicago aufbrachen.

„Dachte ich mir schon“, lautete die Antwort. „Deshalb habe ich schon Ersatz für dich gefunden. Gideon übernimmt die Mission.“

Seine Erleichterung war beinah greifbar. Gwen allein zurückzulassen stand nicht länger zur Debatte.

Wenn einer von deinen Männern verletzt wird, wirst du dir die Schuld dafür geben, sagte Zweifel.

Sabin versuchte nicht, es abzustreiten. Zu Recht.

Was, wenn du anfängst, es Gwen übel zu nehmen?

Jetzt verdrehte er die Augen. Das werde ich nicht.

Woher weißt du das? Mürrisch, weinerlich.

Sie hat keine Schuld. Sondern ich. Wenn ich esirgendjemandem übel nehme, dann mir selbst.

Im Ernst: Wie könnte er dieser weichherzigen Frau irgendetwas verübeln? Er ging davon aus, dass sie sogar selbst hätte mitfahren wollen, wenn sie etwas von der Reise gewusst hätte.

Sabin beobachtete, wie die Sonne unterging, der Mond aufging und die Sonne wiederkam. Er war unfähig, sich auszuruhen oder zu entspannen. Warum wachte Gwen nicht auf? Niemand brauchte so viel Ruhe. Brauchte sie wieder Blut? Er hätte gedacht, dass er ihr in der Hitze ihres Liebesspiels genügend gegeben hatte.

Sabin lehnte sich in dem Sessel zurück, den er ans Bett gezogen hatte. Die Holzleisten stachen in seinen Rücken, aber das kümmerte ihn nicht. So blieb sein Geist wenigstens wach und er aufmerksam.

Sieh dich nur an. Du wirst genau so, wie du es immer verabscheut hast, dachte er. Schwach wegen einer Frau. Besorgt um eine Frau. Leicht angreifbar wegen einer Frau.

„Sabin.“ Atemlos seufzte sie.

Sabin fuhr in seinem Sessel zusammen, seine Füße knallten mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden. Sein Herz setzte einen Schlag aus, seine Lunge kollabierte fast. Endlich!

Gwen blinzelte und öffnete die Augen, doch ihre Wimpern schienen sich verklebt zu haben, sodass sie sich die Augen reiben musste. Dann trafen sich ihre Blicke, und er vergaß zu atmen. Er hatte sich die ganze Zeit gefragt, wie sie reagieren würde, wenn sie in seinem Bett aufwachte. Er hätte sich wohl besser fragen sollen, wie er reagieren würde. Er hätte sich doch darauf vorbereiten können. Er zitterte, und ihm wurde heiß, als er sie so daliegen sah – verschlafen und bereit.

Sie runzelte die Stirn, als sie den Blick durch das Zimmer schweifen ließ. „Wie bin ich hierhergekommen? Warte. Sag es mir, wenn ich zurück bin.“ Sie schwang die Beine über eine Seite des Bettes und stellte sich auf die wackligen Beine.

Sabin war bereits auf den Füßen und fasste sie unter den Armen.

„Ich kann schon laufen“, protestierte sie.

„Ich weiß.“ Er setzte sie im Badezimmer ab, ging zurück in den Schlafraum und schloss die Tür hinter sich, wodurch er ihr ein kleines bisschen Privatsphäre gewährte.

Was ist, wenn sie hinfällt und sich wehtut?

Ruhe. Du wirst mich jetzt nicht beeinflussen.

Er hörte ein entsetztes Keuchen und grinste. Offenbar hatte sie erst jetzt realisiert, dass sie nackt war. Sie so im Arm zu halten hatte ihn mächtig erregt. Er hatte ihren Duft immer noch in der Nase und war hart.

Als er hörte, wie das Wasser anging, schnappte er sich saubere Kleidung und ging in das Zimmer nebenan. Die Tür stand offen, also ging er hinein, ohne sich vorher anzukündigen. Die drei Harpyien saßen in einem Kreis auf dem Boden. In der Mitte lagen stapelweise Lebensmittel. Sie lachten über irgendetwas – bis sie ihn sahen.

Kaias Augen wurden kohlrabenschwarz, und Sabins Dämon schwieg augenblicklich.

„Unser Essen“, quäkte sie, und er verzog das Gesicht. Lustig. Wenn Gwen sich so anhörte, störte es ihn nicht. Im Gegenteil, in dem Moment wollte er sie einfach nur glücklich machen. „Wir haben es gestohlen. Es gehört uns.“

„Beruhig dich.“ Bianka gab ihr einen Klaps auf den Arm, jedoch ohne Sabin auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Wird auch langsam Zeit, dass du hier auftauchst. Wo ist Gwennie?“

„Sie duscht. Ich muss eure Dusche benutzen.“ Er wartete nicht auf eine Erlaubnis, sondern stapfte ins Badezimmer und nahm sich ein Handtuch.

„Nach stundenlangem, endlosem Sex könnt ihr zwei euch keine Dusche teilen?“, rief eine von ihnen. Manchmal, wenn er sie nicht sah, wusste er nicht mit Sicherheit, welcher der Zwillinge gerade sprach.

„Vielleicht wäre das ja der Startschuss für den nächsten Marathon“, erwiderte er im Scherz.

Sie lachten.

„Hat sie dich ins Koma versetzt? Hat sie dich die ganze Zeit über versteckt, damit du dich nicht schämen musst?“ Dieses Mal hatte Taliyah gesprochen. Er erkannte das kühle Timbre, das ihn jedes Mal aufs Neue schaudern ließ.

Sie kennt die Wahrheit, dachte er. Dennoch fragte er sich einmal mehr, ob tiefer Schlaf gegen das Protokoll der Harpyien verstieß. „Und was wäre, wenn es so war?“, hörte er sich fragen.

Bianka und Kaia redeten aufgeregt durcheinander. „Los, kleine Schwester“, sagte eine von ihnen.

Sabin stieß die Tür mit dem Fuß zu und sprang unter die Dusche. Er beeilte sich, da er Angst hatte, die Frauen könnten sich auf Gwen stürzen und sie aushorchen, bevor er die Gelegenheit dazu hatte. Doch als er wieder herauskam, saßen sie noch genauso auf dem Boden wie zuvor, aßen und lachten.

Taliyah, die Einzige, die nicht lächelte, nickte ihm zu. Dankbar?

Er machte einen kurzen Abstecher in die Küche – jemand hatte eingekauft, den Göttern sei Dank – und griff sich eine Tüte Chips, einen Brownie, einen Müsliriegel, einen Apfel und eine Flasche Wasser. Dann ging er zurück in sein Zimmer, schloss die Tür mit einem Tritt und fand Gwen auf einer Ecke des Bettes sitzend vor. Sie trug eine kurze Jogginghose und ein hellblaues T-Shirt – beides Stücke, die sie während der erst wenige Tage zurückliegenden Shoppingtour erstanden hatte. Aus den nassen Haaren, die sie sich in einem Knoten auf dem Kopf zusammengebunden hatte, tropfte das Wasser.

Zweifel lugte aus seinem Versteck hervor, beschloss jedoch, nicht zu riskieren, den Zorn der Harpyie auf sich zu ziehen, und verschwand wieder.

Während er sich zwang, einen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten, setzte Sabin sich in den Sessel, in dem er schon viel zu lange gesessen hatte, und balancierte das Tablett auf seinem Bauch.

„Wir müssen reden“, begann sie und blickte sehnsüchtig auf das Essen. „Darüber, was im Wald passiert ist …“

Ehe sie das Thema weiterverfolgen konnte, erzählte er ihr, wie lange sie geschlafen hatte, wie er sie beschützt hatte, dass niemand ihren Hals gesehen hatte und dass niemand wusste, was sie wirklich gemacht hatte, sondern dass alle annahmen, sie hätten es wie die Tiere miteinander getrieben.

„Es gibt also einen Gott“, erwiderte sie merklich erleichtert.

Oder Götter. Aber wie auch immer. Jede andere Frau wäre entsetzt gewesen, dachte er und musste ein Grinsen unterdrücken. Noch ein Indiz dafür, dass sie die einzig Richtige für ihn war. „Und jetzt wirst du mir ein paar Fragen beantworten.“

Sie schluckte, und ihre Augen leuchteten im Sonnenlicht, das durch einen Spalt in den dunklen, schweren Vorhängen fiel. „In Ordnung.“

„Warum kannst du nur gestohlenes Essen zu dir nehmen?“

Ihre Augen wurden schmal. „Darüber darf ich nicht sprechen.“

„Ich dachte, die Phase hätten wir hinter uns.“

„Haben wir ja auch“, murmelte sie. „Warum willst du das wissen?“

„Damit ich es verstehe.“ Er riss die Brownie-Verpackung auf und biss in ein Ende des Gebäcks. „Du hast mir deinen Körper anvertraut. Ich durfte dich bewachen, während du geschlafen hast. Du hast mir sogar deine Schwäche anvertraut. Vertraue mir nun auch deine Geheimnisse an.“

Ihr Brustkorb hob und senkte sich, ihr Atem wurde flach und begann zu rasseln. Ihr Magen knurrte, und sie rieb ihn sich, ohne den Blick von Sabin zu nehmen – oder besser gesagt von dem Essen. „Ich … ich … okay. Gut.“ Sie befeuchtete sich die Lippen. „Wirst du mich dafür entlohnen?“

„Dich entlohnen? Wie viel willst du denn und wofür?“

„Sag einfach nur Ja!“ Ein Knurren.

„Ja?“

Wieder huschte ihre Zunge über ihre Lippen, ehe die Worte aus ihr heraussprudelten. „Die Götter verachten uns Harpyien und betrachten uns als Abscheulichkeit, weil wir die Ausgeburt eines Prinzen der Dunkelheit sind. Vor langer Zeit hofften sie, uns auf eine Weise ruinieren zu können, die sie in keinem schlechten Licht erscheinen ließ; auf eine Weise, die nach außen wirkte, als würden wir uns selbst zerstören: Im Stillen verfluchten sie uns dazu, nie wieder eine Mahlzeit genießen zu können, die uns jemand freiwillig gibt oder die wir uns selbst zubereiten. Wenn wir den Fluch ignorieren, wird uns furchtbar übel; einige sterben sogar. Um diese Lektion zu lernen, genügt schon ein einmaliger Verstoß – wie du in dem Camp in Ägypten selbst gesehen hast.“

Seufzend fuhr sie fort: „Die ersten Vertreterinnen meiner Art erfuhren durch systematisches Ausprobieren, dass wir trotzdem essen können, aber eben nur das, was gestohlen oder was als Bezahlung überlassen wird. Die Götter haben es nicht geschafft, uns zu vernichten. Sie haben uns nur das Leben schwer gemacht. Und jetzt bezahl mich. Ich habe dir die Antwort gegeben, die du haben wolltest. Jetzt bist du mir etwas schuldig.“

Auf einmal ergab ihre Zahlungsaufforderung einen Sinn. Und hatte Anya nicht irgendwas von Essen erwähnt, das sie sich verdienen mussten? Götter, er musste dringend schneller denken und besser zuhören. „Für das Geheimnis.“ Er warf ihr den Brownie zu, und sie fing ihn mit einer blitzschnellen Handbewegung auf. Eine Sekunde später hatte sie den Nachtisch verspeist. Nun haben wir noch eine Gemeinsamkeit, dachte er. Unser beider Leben wird von einem Fluch beeinträchtigt.

„Du hättest mir sagen sollen, dass ich dich in Form von Essen bezahlen kann“, schalt er sie. „Ich hätte dir die ganze Zeit etwas geben können.“

„Ich kannte dich nicht gut genug, um grundlegende Informationen über meine Art mit dir zu teilen. Und wie meine Schwestern immer sagen: Wissen ist Macht. Und du brauchtest nicht noch mehr Macht über mich.“

Er hatte oft dasselbe gesagt, auch wenn er der Ansicht war, dass er sehr wohl mehr Macht über sie brauchte. „Aber jetzt schon?“, fragte er leise und törichterweise erfreut. „Kennst du mich gut genug, meine ich?“

Ihre Wangen wurden feuerrot. „Na ja, jetzt kenne ich dich zumindest besser.“

Na schön. Sabin nahm die Chipstüte, hielt sie mit spitzen Fingern fest und ließ sie hin und her baumeln. „Sag mir, wer dich nicht sehen sollte und was der-oder diejenige nicht sehen sollte.“

„Meine Schwestern. Ich wollte nicht, dass sie mich schlafen sehen.“

Das war also der Grund. „Moment. Verrate mir, wie du dich mit deinem Hühnchen ausgeruht hast, und dann bekommst du die hier.“

„Sabin. Chips!“

„Du hast nicht zu meiner Zufriedenheit geantwortet.“

„Ich habe mich noch nie mit einem Huhn… ach so, du meinst Tyson. Lange Zeit habe ich das gar nicht. Mich ausgeruht, meine ich. Zählt das? Habe ich mir damit die Chips verdient?“ Sie streckte die Hand aus und bewegte auffordernd die Finger.

Er hielt die Türe fest. „Wie lange wart ihr ein Paar?“

„Sechs Monate.“

Sechs. Monate. Er knirschte mit den Zähnen. Der Gedanke, dass sie so lange mit jemandem zusammen gewesen war, gefiel ihm nicht. „Und die ganze Zeit über bist du wach geblieben?“

„Nein. Zuerst machte ich ihn glauben, dass ich an einer Schlafstörung litt. Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben. Aber als die Müdigkeit zu groß wurde, habe ich mich bei der Arbeit krankgemeldet und in den Bäumen geschlafen. Das ist der einzige Ort, an dem wir schlafen dürfen, weil es so gut wie unmöglich ist, dass uns dort jemand sieht oder an uns herankommt. Doch im Laufe der Monate dachte ich: Warum soll ich mich nicht bei dem Mann ausruhen, dem ich vertraue? Also fing ich an, bei ihm im Bett zu schlafen. Und bevor du fragst: Nicht in der Nähe von anderen zu schlafen ist weder ein Befehl noch ein Fluch der Götter, sondern eine Sicherheitsmaßnahme, die jeder Harpyie von Geburt an eingetrichtert wird.“

Er erinnerte sich zwar nicht daran, dass ihre Schwestern des Nachts die Burg verlassen hatten, um im Wald zu schlafen, aber so leise, wie sie sich bewegten, war es natürlich möglich. „Warum?“

Sie stieß einen verärgerten Laut aus. „Man könnte uns die Flügel zusammenbinden, wenn wir schlafen, wie meine Entführung ja beweist. Und jetzt. Gib. Mir. Die. Chips.“

Er warf ihr die Tüte zu.

Sie riss das Plastik auf, und orangefarbene Chips fielen auf ihren Schoß. Gwen warf sich einen in den Mund, schloss die Augen und stöhnte. Sabin musste schlucken, um nicht auch zu stöhnen.

„Willst du dir auch noch den Apfel verdienen?“

Er sah ihre Zungenspitze, als sie sich die Lippen benetzte. „Ja. Bitte.“

„Sag mir, was du über mich denkst. Über das, was wir im Wald getan haben. Und lüg mich nicht an. Ich bezahle nur für die Wahrheit.“

Sie zögerte.

Warum wollte sie nicht, dass er es wusste? Was sollte er nicht wissen? Eine Minute verstrich, ohne dass jemand etwas sagte, und er fürchtete schon, sie würde sich mit dem Essen zufriedengeben, das sie sich schon verdient hatte. Aber dann überraschte sie ihn.

„Ich mag dich. Mehr als gut ist. Ich fühle mich zu dir hingezogen, und ich möchte mit dir zusammen sein. Wenn ich nicht bei dir bin, denke ich an dich. Es ist dumm. Ich bin dumm. Aber ich liebe es, wie ich mich in deiner Gegenwart fühle. Wenn dein Dämon ruhig ist, schäme ich mich nicht, noch habe ich Angst oder fühle mich bedeutungslos. Ich habe das Gefühl, etwas wert zu sein, begehrt und beschützt zu werden.“

Er warf ihr den Apfel zu, und sie fing ihn auf, ohne ihn anzusehen. „Ich fühle dasselbe für dich“, gestand er schroff.

„Wirklich?“ Ihre Augen glänzten hoffnungsvoll.

„Ja.“

Ganz langsam begann sie zu lächeln, doch das Lächeln verschwand sogleich wieder, und sie ließ die Schultern sinken. Sie biss in den Apfel, kaute, schluckte.

„Sag mir, woran du denkst“, forderte er sie auf.

„Ich weiß nicht, ob es mit uns funktionieren könnte. Du hast mal gesagt, du könntest die Frau, die du liebst, verraten, wenn du dadurch eine Schlacht gewinnen würdest. Nicht dass ich glaube, dass du mich liebst. Es ist nur, na ja, wenn du mit einer anderen zusammen wärst, würde ich sie umbringen. Und danach dich.“ Am Ende war ihre Stimme hart wie Stahl geworden. Wie rasierklingenscharfer Stahl.

„Das wird nicht passieren. Ich glaube, ich könnte es gar nicht.“ Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich kann an nichts anderes mehr denken als an dich. Ich glaube, ich könnte einer anderen nicht mal was vorspielen.“

„Aber wie lange wird das andauern?“, fragte sie leise und rollte dabei den Apfel zwischen den Handflächen.

Für immer, dachte er und fühlte sich plötzlich schuldig. Er hatte ihr schon mehr Zeit geopfert, als gut war. Er hatte sich weder die Namen auf Cronus’ Schriftrollen angesehen, noch irgendetwas unternommen, um die übrigen zwei Artefakte zu finden. Er hatte nicht nach Galen gesucht.

So viele Jahre lang hatte er den Krieg gegen die Jäger über alles andere gestellt – und dasselbe von seinen Männern verlangt. Ablenkungen waren nicht toleriert worden. Sie hatten ihm alles gegeben, worum er gebeten hatte, und sogar noch viel mehr. Wie konnte er – ihr Anführer – sich nun voll und ganz Gwen widmen?

Statt ihr zu antworten, sprang er also auf und sagte: „Ich habe meine Pflichten vernachlässigt, um auf dich aufzupassen, und muss jetzt eine Menge aufholen.“

Er ging. Wenn er sie irgendwie halten wollte, musste er sich zuerst um den ganzen Mist kümmern, der auf ihn und die anderen wartete.