14. KAPITEL

D ie Küche sah aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Hungrige Krieger sind wie Wilde, dachte Sabin. Bevor er nach unten gekommen war, hatte er jedem einzelnen eine SMS geschrieben – Götter, er liebte die Technik; er hatte sogar den technikfeindlichen Maddox ins einundzwanzigste Jahrhundert gebracht – und am Mittag ein Treffen einberufen, bei dem darüber diskutiert werden sollte, was die Jäger ihm über Misstrauen und das Internat für halb menschliche, halb unsterbliche Kinder verraten hatten. Außerdem stand die bevorstehende Ankunft von Gwens Schwestern auf der Agenda.

Die Schwestern. In dem Moment, als eine der Harpyien ans Telefon gegangen war, waren Gwen die Tränen in die Augen getreten und hatten das strahlende Gold in geschmolzene Goldmünzen verwandelt. Auf ihrem Gesicht hatten sich Erleichterung, Hoffnung und Traurigkeit gespiegelt. Sabin hatte gegen den Drang kämpfen müssen, zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu schließen und sie zu trösten. Er hatte alles an Kriegerinstinkt aufbringen müssen, das er besaß, um sich nicht von der Stelle zu bewegen.

Er hoffte, dass der Rest des Tages einfacher würde. Mit einer schnellen Bewegung schloss er die Kühlschranktür. Sogleich umhüllte ihn warme Luft. Er sah Gwen an, die auf die marmorne Arbeitsfläche starrte. Oder auf die Spüle aus Edelstahl, das wusste er nicht sicher. Vielleicht fragte Gwen sich, warum eine so alte Burg an einigen Stellen modernisiert worden war und an anderen den Staub der Jahrtausende trug.

Als er vor einigen Monaten in Budapest angekommen war, hatte er sich dieselbe Frage gestellt. Seit seinem Einzug hatte er einige Verbesserungsmaßnahmen vorgenommen. Sein Plan war es, bis Ende des Jahres das gesamte Monstrum restauriert zu haben. Es war schon lustig. Da war er in der ganzen Welt umhergereist und hatte an vielen Orten seine Basislager, aber diese Burg war in Rekordzeit zu seinem Zuhause geworden.

„Leer“, verkündete er.

Sie sah ihm in die Augen, und es dauerte einen Moment, bis sich auch ihr Geist wieder im Hier und Jetzt befand. Als es so weit war, fuhr sie sich mit der Hand durch das immer noch feuchte Haar, als wäre sie verlegen. „Ich brauche kein Essen.“

„Doch.“ Er würde auf keinen Fall zulassen, dass sie die Küche verließ, ohne zu essen. Ein Jahr lang hatte sie schrecklichen Hunger erleiden müssen. Solange sie sich in seiner Obhut befand, sollte sie diese Erfahrung nicht noch einmal machen. Ihre Wünsche wären ihm Befehl. Weil er ihre Hilfe und Unterstützung brauchte.

Da er besser gelaunt war als zuvor, konnte er sich vorstellen, sie nun doch mit Nahrungsmitteln zu versorgen, die sie stehlen konnte. „Wir gehen in die Stadt“, fügte er hinzu. Paris, der eigentlich für den Einkauf zuständig war, lag vermutlich noch komatös im Bett. „Nachdem wir dich von Kopf bis Fuß eingehüllt haben.“ Er wollte auf keinen Fall, dass die Leute diese kostbare edelsteingleiche Haut sahen.

„Ich werde mir Make-up ins Gesicht schmieren“, sagte sie. Seine Absichten zu erraten war offenbar nicht schwer. „Außerdem hat Anya dir vorhin ein Tablett mit Essen gebracht … äh, was ich sagen will, ist, dass ich schon etwas gegessen habe.“

So hatte Anya sie also überlistet. Sie hatte behauptet, das Essen sei für ihn, und als Gwen es gegessen hatte, war sie zur scheinbaren Diebin geworden. Ausnahmsweise klatschte er der Trickserei der Göttin innerlich Beifall. „Eine Mahlzeit wird dich nicht für immer satt machen. Außerdem können wir dir ein paar Klamotten kaufen, die dir passen, wenn wir schon mal draußen sind.“

Ihr Gesicht begann zu strahlen – und zwar buchstäblich. Auf ihrer Haut schienen alle Farben des Regenbogens zu schimmern. Er bekam eine schmerzhafte Erektion, sein Blut erhitzte sich gefährlich, und Vorstellungen von ihrem nackten Körper, nass und glänzend, rasten durch seine Gedanken. Plötzlich lag ihm ihr dekadenter Geschmack auf der Zunge, und ihre Schreie erklangen in seinen Ohren.

„Klamotten?“, wiederholte sie. „Ganz für mich allein?“

Ihre Freude war zu viel für Zweifel, der sich zum Angriff bereit machte und Sabins Ablenkung nutzte, um sich loszureißen. Neue Klamotten werden deine Situation nicht verbessern. Vielleicht verschlechtern sie sie sogar. Wie willst du sie überhaupt bezahlen? Mit deinem Körper? Oder vielleicht werden deine Schwestern sie für dich bezahlen. Was, wenn Sabin sie begehrt? Er hat nicht mit dir geschlafen, obwohl er total scharf darauf gewesen ist. Was, wenn er stattdessen mit deinen Schwestern ins Bett geht?

Normalerweise war der Dämon vorsichtiger und zerstörte das Selbstvertrauen seines Zuhörers mit einem zarten Flüstern oder einer leisen Vermutung. Nun aber benutzte er das, was unter der Dusche zwischen ihnen geschehen war, um bei Gwen Eifersucht und weibliche Kränkung hervorzurufen. Damit es funktionierte, brauchte sie Sabin nicht etwa zu mögen oder sich gar mehr von ihm zu wünschen. Keiner Frau gefiel die Vorstellung von ihrem Möchtegern-Lover, der mit einer anderen im Bett herumturnte. Und bei Männern war es nicht anders. Sabin war bereits darauf vorbereitet, jedem die Augen herauszuschneiden, der Gwen auch nur bewunderte.

Du wusstest, dass das geschehen würde. Dass Zweifel ihr weiterhin nachstellen würde. „Gwen“, sagte er durch zusammengebissene Zähne. „Diese Gedanken … es tut mir leid.“ Dafür werde ich dir schrecklich wehtun, du Stück Scheiße. „Du wirst mir für die Klamotten gar nichts schuldig sein. Und auch niemandem anders.“

Ihre Pupillen weiteten sich, Schwarz verschlang Gold … dann Weiß … Bald käme die Harpyie durch. Da er sich nicht anders zu helfen wusste, legte er ihr die Hand in den Nacken und zog sie an sich. Im Flugzeug hatte es geklappt. Vielleicht …

Den anderen Arm legte er Gwen um die Taille und zog sie so dicht an sich, dass sie seine Erektion spüren musste. „Fühlst du das? Der ist für dich, und für niemanden sonst. Ich kann meine Reaktion auf dich nicht beeinflussen, ich begehre nur dich.“ Er biss sie zärtlich in den Hals. „Es ist dumm, weil wir nicht zusammen sein können, aber das ist mir egal. Ich will nur dich.“ Das würde er tausendmal wiederholen, falls notwendig. Er wünschte nur, seine Worte wären eine Lüge.

Nichts. Keine Reaktion.

Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, verweilte dort, kostete den Moment aus. Obwohl der Kuss so keusch war, erregte er ihn unsäglich. Wie sie sich anfühlte … Und wenn er nur an diese Haut dachte, die unter der weiten Kleidung wartete, oder an die kleinen rosa Brustwarzen, die er so gern lecken wollte …

Sie holte tief Luft … seine Luft. Kaum spürbar schmiegte sie sich an. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals, hielt ihn fest, zog ihn näher an sich. Vollkommen unvermittelt wurden ihre Pupillen kleiner. Ihr Atem war nicht mehr so flach, ihre Muskeln waren weniger angespannt.

Seine Worte hatten sie nicht erreicht, sondern seine Berührung. Die Harpyie beruhigte sich offenbar durch Körperkontakt. Das musste er sich merken.

Doch sobald ihm diese Erkenntnis gekommen war, stieg heiße und vernichtende Wut in ihm auf. Ein Jahr, ein ganzes Jahr ohne Körperkontakt musste die Hölle für dieses Mädchen gewesen sein, das seine dunkle Seite so sehr hasste. Die Harpyie musste eine schreiende Stimme in ihrem Kopf gewesen sein, ein permanenter verhasster Begleiter.

Das war in gewisser Hinsicht eine weitere Gemeinsamkeit. Obwohl Sabin seinen Dämon nicht hasste. Nicht andauernd. Auf jeden Fall genoss er es, welche Qualen er den Jägern zufügen konnte. Aber im Augenblick konnte er den Hass nicht leugnen, zumindest wenn er ehrlich war, und das musste er schließlich sein. Der Bastard weigerte sich, Gwen in Ruhe zu lassen, und provozierte sie in Situationen, in denen sie einfach nur ihren Frieden brauchte.

„Wieder gut?“, fragte er.

Sie atmete zittrig ein. Abrupt ließ sie ihn los, und ihre Wangen wurden rot. „Kommt darauf an. Hast du deinem Freund einen Maulkorb verpasst?“

„Ich arbeite dran. Und wie gesagt: Der Dämon ist nicht mein Freund.“

„Dann geht es mir wieder gut, ja.“

Er hatte ihren verbitterten Tonfall gehört. „Sicher?“ Er zeichnete mit dem Daumen ihren Haaransatz nach.

„Sicher. Du kannst mich jetzt wieder loslassen.“

Aber das wollte er gar nicht. Er wollte sie bis in alle Ewigkeit festhalten. Und genau deshalb ließ er sie los und machte ein paar Schritte von ihr weg. Er hatte sie bereits gekennzeichnet. Alles, was darüber hinausging, wäre zu viel des Guten. Es wäre unnötig und würde nur seinen eigentlichen Plan gefährden.

Zweifel wimmerte enttäuscht und zog sich in die hinterste Ecke zurück, um über seinen nächsten Angriff nachzudenken.

Nachdem sie eine Schicht Make-up aufgetragen hatte, um ihre Haut überzuschminken – das Make-up hatte Sabin sich von einer der Burgbewohnerinnen ausgeborgt –, verließen Gwen und er die Burg.

Er berührte sie andauernd. Eine flüchtige Berührung mit dem Arm hier. Eine Liebkosung seiner Finger da. Sie dachte gar nicht daran, ihn davon abzuhalten. Schließlich wusste sie, welchen Zauber er bewirken konnte.

Sie zitterte. Die Berührungen und Erinnerungen reichten beinah – beinah – aus, um sie von der Schönheit Budapests abzulenken. Hier gab es burgähnliche Häuser, moderne Gebäude, grüne Bäume, Kopfsteinpflasterstraßen und Vögel, die davon kleine Krümel aufpickten. Über einen trüben Fluss führte eine Brücke mit Eisengeländer, und eine Kapelle ragte spitz in den Himmel. In der Stadt standen Säulen und Statuen, und es funkelten mehrfarbige Lichter.

Sabin schaffte es fast, sie auch von den Stadtbewohnern abzulenken. Sie begegneten ihm mit Ehrfurcht, machten ihm Platz, versuchten aber trotzdem, irgendwie Kontakt zu ihm herzustellen. Irgendwer flüsterte sogar „Engel“, als er vorbeiging.

Ihre Shoppingtour dauerte mehrere Stunden, und kein einziges Mal schien es ihn zu stören, dass sie alles anprobieren, jeden Stoff mit der Wange berühren und sich vor bodentiefen Spiegeln hin und her drehen wollte. Oft ertappte sie ihn dabei, wie er lächelte.

Nachdem sie sich für einige Jeans, eine Handvoll bunter T-Shirts und glitzernde pinkfarbene Flip-Flops entschieden und sich ihre eigenes Make-up zugelegt hatte, ging es weiter zum Essen. Aber wer dachte schon daran, jemals wieder etwas zu essen? Schließlich trug sie ihre neuen Sachen! Eine bequeme Jeans und ein süßes pinkfarbenes T-Shirt.

Noch nie war sie mit ihrem Aussehen so zufrieden gewesen. Nach einem Jahr in diesem knappen Top und dem kurzen Röckchen fühlte Gwen sich jetzt schön, wohl und, na ja, normal. Wie ein Mensch. Als sie das Lebensmittelgeschäft mit ihren Einkäufen verließen, schaute Sabin sie an, als wäre sie sein Lieblingseis.

Natürlich begann in dem Augenblick das Flüstern.

Bist du sicher, dass du gut aussiehst? Ich frage mich, ob du Mundgeruch hast. Mit wie vielen Frauen ist Sabin schon zusammen gewesen? Wie viele waren hübscher, klüger und mutiger als du?

Gwens gute Laune verflog im Nu, und ihre Nervosität stieg. Das Flüstern ging weiter, und schon bald stellten sich sogar der Harpyie die Federn auf. Bei einem totalen Nervenzusammenbruch würde diese Stadt eine verheerende Verwüstung erfahren, und Sabin würde verletzt werden. Sosehr Sabin sie auch ärgerte, Gwen wollte nicht, dass auch nur ein einziger Tropfen seines Blutes vergossen wurde.

Im Augenblick lud er die Lebensmittel in den Kofferraum, seine Muskeln spannte er bei jeder Bewegung an. Brote, Fleisch, Obst und Gemüse waren im Überfluss vorhanden. Die Aromen, die sie verströmten, waren göttlich. Im Supermarkt war die Versuchung mehrere Male zu groß gewesen. Ihr war das Wasser im Mund zusammengelaufen, und sie hatte einfach etwas stibitzen müssen. Doch sie war merklich aus der Übung gekommen, denn Sabin hatte sie jedes Mal erwischt. Aber er hatte nicht protestiert. Im Gegenteil, er hatte sie sogar mit einem Lächeln oder Augenzwinkern ermutigt, als wäre er stolz auf sie. Das hatte sie schockiert … und es schockierte sie noch.

Gwen lehnte sich mit der Hüfte gegen das Rücklicht. „Dein Dämon steht kurz davor, mir den ganzen Tag zu vermiesen.“

„Ich weiß, und es tut mir leid. Nur fürs Protokoll: Du siehst umwerfend aus, dein Atem ist frisch, ich hatte noch nicht so viele, und keine waren hübscher oder klüger als du.“

Ihr fiel auf, dass er „mutiger“ weggelassen hatte. „Lenk mich ab. Erzähl mir von den Artefakten, nach denen ihr sucht.“

Er hielt in der Bewegung inne und hob eine Tasche in die Luft. Seine dunklen Haare, die in der sanften Brise leicht wehten, glänzten in der Sonne. Mit schmalen Augen sah er sie an – das tat er oft, wie sie festgestellt hatte. „Darüber kann ich nicht einfach so in der Öffentlichkeit sprechen.“

War das vielleicht nur eine Ausrede, um sie weiterhin im Ungewissen zu lassen?

Oder färbte sein Dämon schon auf sie ab, und sie zweifelte nur deshalb an ihm?

Grrrr! „Du kannst es mir ruhig sagen. Ich arbeite doch jetzt für dich.“ Oder etwa nicht? Hatten sie nicht beschlossen, dass sie sich um die administrativen Dinge kümmern würde? Bislang hatte sie noch keinen Preis genannt, allerdings nur nicht, weil ihr als Erstes „Unterkunft und Verpflegung in seiner Burg“ eingefallen war. Also für immer. Wie blöd war das denn? „Ich werde dir helfen, sie zu finden.“

„Und ich werde dir mehr darüber erzählen. Später.“

Okay, vielleicht färbte der Dämon tatsächlich auf sie ab.

Sabin hob die restlichen Taschen an, aber jegliche Gewandtheit war verschwunden, als er sie mit raschen Bewegungen ins Auto warf. Gwen zuckte zusammen, als sie hörte, dass die Eier kaputtgingen.

„Übrigens, wir haben uns noch nicht auf deine Aufgaben geeinigt“, sagte er.

Gwen hob den Ellbogen über den Kopf, ließ ihren Kopf in ihrer Hand ruhen und vergrub die Fingernägel in ihren Haaren. „Traust du mir die Büroarbeit nicht zu, oder respektierst du mich nicht genug, damit ich mich auf dem Gebiet beweisen kann?“

„Moment. Hast du gerade in einer Diskussion über Büroarbeit das R-Wort benutzt?“ Er bewegte den Kiefer nach links, nach rechts, dann öffnete er den Mund. „Was ist das nur mit euch Frauen? Da knutscht man ein bisschen mit euch herum, und plötzlich bedeutet alles, was man macht, dass man euch zu wenig Respekt entgegenbringt.“

„Das ist nicht wahr.“ War ja klar, dass er die Sache noch mal ansprach. Allein wenn sie darüber redete, glaubte Gwen, wieder die warmen Wassertropfen auf der Haut zu spüren und wie seine Hände sich auf ihr angefühlt hatten, wie er sie gebissen hatte … Er ist nicht der Typ Mann, den du willst. Traurig, dass sie sich das in Erinnerung rufen musste. Und das vermutlich längst nicht zum letzten Mal. „Erstens: Ich habe dir meine Hilfe angeboten. Und du hast behauptet, sie zu wollen, obwohl du mir nie richtig gesagt hast, wie ich anfangen kann. Zweitens: Die Dusche hat nichts mit irgendetwas zu tun. Ich finde sogar, wir sollten einen Pakt schließen und nie mehr darüber sprechen, was dort passiert ist.“

Er drehte sich zu ihr um. Auf die Taschen achtete er jetzt nicht mehr. „Warum?“

„Weil ich nicht mit meinem Körper gegen deinen Feind kämpfen will.“

„Nein, nicht, warum du denkst, ich würde dich nicht respektieren, oder warum ich dich Büroarbeiten erledigen lassen sollte, sondern warum du nicht über die Dusche reden willst?“

Im Nu wurden ihre Wangen heiß wie Kohlestückchen. Sie straffte die Schultern und sah weg. „Darum.“

„Warum?“, beharrte er.

Weil ich sonst mehr will. „Arbeit mit Vergnügen zu mischen ist gefährlicher, als wir es sind“, erwiderte sie trocken.

Unter seinem Auge zuckte ein Muskel. Sabin sah sie durchdringend an, musterte sie von Kopf bis Fuß und wartete offenbar darauf, dass sie das Gesagte zumindest abmilderte. Sie tat es nicht, und das überraschte sie. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie keine Angst vor ihm hatte. Nicht im Geringsten.

„Steig ins Auto“, befahl er ihr.

„Sabin.“

„Auto.“

Zum Teufel mit diesen dominanten Männern!

Kaum waren sie eingestiegen, startete er den Motor, bog jedoch nicht auf die Straße ab. Er schirmte seine Augen mit einer Sonnenbrille ab, legte Gwen eine Hand auf den Oberschenkel und wandte ihr das Gesicht zu. „Nun, da wir allein sind, kann ich dir gern von den Artefakten erzählen. Aber sei dir über eines im Klaren: Von dem Moment an, in dem du alles weißt, bist du an mich gebunden. Du wirst weder mit deinen Schwestern weggehen noch die Burg allein verlassen. Verstanden?“

Moment. Was? „Über was für einen Zeitraum sprechen wir hier eigentlich?“

„Solange, bis wir gefunden haben, wonach wir suchen.“

Was einige Tage dauern konnte. Oder eine Ewigkeit… Das hatte sie sich insgeheim gewünscht … Aber nicht unter diesen Umständen. Sie wollte die Wahl haben. „So einer Sache stimme ich nicht zu. Ich war bereits ein Jahr lang in Gefangenschaft und habe nicht das Verlagen, noch einmal so zu leben. Ich habe nämlich ein Leben, in das ich zurückkehren möchte, weißt du?“ Na ja, so was Ähnliches zumindest. Es war ja nicht so, dass sie es schon versucht oder überhaupt gewollt hätte. „Es gibt Dinge, die erledigt werden wollen, und Leute, die ich sehen möchte.“

Er zuckte die Schultern. „Dann wirst du nichts aus mir herausbekommen.“ Mit diesen Worten lenkte er das Fahrzeug auf die Straße. Er fuhr langsam und fädelte sich umsichtig in den Verkehr ein. Seine Achtsamkeit wirkte … seltsam. Das stand in krassem Widerspruch dazu, dass er das Leben am Limit liebte. Tat er es ihretwegen? Um sie nicht in Gefahr zu bringen? Das wäre irgendwie niedlich.

Wag es ja nicht, dein Herz für ihn zu erweichen!

„Es gefällt dir, in der Burg zu bleiben. Gib’s zu!“, sagte er.

Konnte die Information gegen sie verwendet werden? Ja. Würde es ihr irgendeinen Vorteil verschaffen, wenn sie die Information für sich behielt? Ja. Wäre eine Lüge ausreichend, wenn nicht sogar besser? Ja. Doch als Gwen den Mund öffnete, platzte die Wahrheit aus ihr heraus. „Also gut. Ich gebe es zu. Ich war ein Jahr lang allein und hatte Angst. Dann sind du und deine Freunde gekommen, und auf einmal war ich nicht mehr allein. Ich hatte immer noch Angst, aber niemand hat mir etwas getan oder mich bedroht, und dieses Gefühl der Sicherheit ist einfach so wunderbar, dass ich mich nicht dazu aufraffen kann, zu gehen.“

„Dasselbe Gefühl hätten deine Schwestern dir geben können.“ Sein Ton war weicher geworden, sanft massierte er ihr Bein. „Oder?“

„Ja.“ Irgendwie schon. „Wahrscheinlich hätte ich ihnen ein Lügenmärchen auftischen können, dann hätte es keinerlei Spannungen gegeben. Aber sie konnten mich schon immer durchschauen. Ich kann jeden belügen, außer sie.“ Und Sabin, wie es schien. „Ihr Jungs seid wie ein Urlaub vom Leben. Nur dass du von mir verlangst, im Urlaub zu arbeiten. Und das ist auch in Ordnung“, rutschte es ihr heraus, „solange es ein Schreibtischjob ist.“

Sein langer, lauter Seufzer erfüllte den Wagen. „Hör gut zu, denn ich werde dir diese Information nur ein einziges Mal geben. Es gibt vier Artefakte: den Zwangskäfig, die Rute, den Tarnumhang und das Allsehende Auge. Sind alle vier Artefakte vereint, weisen sie einem den Weg zur Büchse der Pandora. In unserem Besitz befinden sich zwei davon: der Käfig und das Auge.“

„Was genau muss ich mir darunter vorstellen? Ich habe noch nie davon gehört.“

„Wer in dem Käfig eingesperrt ist, ist gezwungen, das zu tun, was von ihm verlangt wird. Und zwar restlos alles, nichts ist heilig, solange es Cronus nicht verletzt. Er hat das Ding konstruiert und dafür gesorgt, dass man es nicht gegen ihn einsetzen kann.“

Wow. Jemanden, der so viel Macht hatte, musste Gwen einfach bewundern. Sie selbst war ja noch nicht mal in der Lage, ihre dunkle Seite zu beherrschen.

„Was die Rute kann, wissen wir nicht genau. Der Umhang ist im Grunde selbst erklärend, und das Auge zeigt uns, was im Himmel passiert. Und in der Hölle.“ Er lehnte den Kopf gegen die Stütze, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. „Danika ist das Auge.“

Okay, Doppel-Wow. Die kleine Blondine, die so normal aussah, konnte die Wunder des Himmels und die Schrecken der Hölle sehen? Das arme Ding. Gwen wusste, wie es war, anders zu sein … mehr zu sein. Vielleicht könnten sie ja Freundinnen werden, ein paar Gläser Wein trinken und über ihre Probleme reden. Wie cool wäre das denn? So was hatte sie noch nie gemacht. „Und wie habt ihr das Auge und den Käfig gefunden?“

„Wir sind einigen Hinweisen gefolgt, die Zeus hinterlassen hatte, damit er sie eines Tages selbst zurückholen konnte.“

Wie eine Schatzsuche. Nicht schlecht. „Kann ich den Käfig mal sehen?“ Sie konnte ihre Aufregung nicht verbergen. Wenn ihre Schwestern ihrer Tätigkeit als Berufssöldnerinnen nachgegangen waren, hatten sie sie oft allein zu Hause gelassen und nur an das Jagen gedacht. Sie hatte immer mitkommen wollen. Oder zumindest hatte sie sich gemeinsam mit ihnen an der Ausbeute erfreuen wollen. Doch sie hatten die Objekte stets ihren neuen Besitzern übergeben, bevor sie nach Hause zurückgekehrt waren, und so war Gwens Wunsch unerfüllt geblieben.

Sabin schenkte ihr für ein paar Sekunden seine Aufmerksamkeit, und Gwen spürte die Hitze in seinem Blick. „Dafür gibt es keinen Grund“, erwiderte er unfreundlich.

„Aber …“

„Nein.“

„Es könnte doch nicht schaden.“

„Doch, könnte es.“

„Na schön.“ Wieder einmal war sie außen vor. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Was werdet ihr mit der Büchse der Pandora machen, wenn ihr sie gefunden habt?“

Er umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Sie in abertausende Stücke zerschmettern.“

Das war die Antwort eines Kriegers, stellte Gwen froh fest. „Anya hat erwähnt, dass die Büchse die Dämonen aus euren Körpern ziehen, euch töten und die Dämonen wegsperren könnte.“

„Das stimmt.“

„Und was passiert, wenn ihr ohne die Büchse getötet werdet? Sterben die Dämonen dann auch?“

„Tz, tz, tz, so viele Fragen.“

,,’tschuldigung.“ Sie zeichnete einen Kreis auf ihr Knie. „Ich war schon immer neugieriger, als gut für mich ist.“ Diese Neugier hätte sie schon mehrmals fast das Leben gekostet. Einmal, als kleines Kind, hatte sie den Berg ihrer Familie erkundet und einen ruhigen, harmlosen Fluss gefunden. Ob ich Fische sehe, wenn ich darin tauche?, hatte sie sich gefragt. Und wenn ja, wie viele wohl, und welche Farbe haben die wohl, und ob ich vielleicht sogar einen fangen kann?

In dem Augenblick, als sie in das eiskalte Wasser eingetaucht war, hatte es ihr jegliche Kraft geraubt. Es spielte keine Rolle, dass der Fluss keine Strömung hatte. Sie hatte auch so keine Kraft, sich über Wasser zu halten. Die Harpyie hatte die Kontrolle übernommen, doch das Wasser hatte ihre Flügel am Rücken festfrieren lassen und sie daran gehindert, aus dem Fluss zu fliegen.

Kaia hatte ihre panischen Schreie gehört und sie gerettet, und dann hatte Gwen eine ordentliche Tracht Prügel bekommen. Doch das hatte sie nicht davon abgehalten, weiterhin über diese albernen Fische nachzudenken.

„… du mir zu?“ Sabins Stimme drang zu ihr vor.

„Nein, entschuldige.“

Seine Lippen zuckten. Sie mochte das. Dadurch wirkte der überlebensgroße Mann irgendwie menschlich. „Was ich dir hier erzähle, sind privilegierte Informationen, Gwen. Du verstehst doch, was das bedeutet, oder?“

Oh ja. Das tat sie. Man könnte sie gegen ihn verwenden, indem man sie den Jägern übermittelte, sodass sie ihm etwas antun konnten. „Du hast mich gerettet. Ich werde dich nicht verraten, Sabin. Aber wenn du mir nicht vertraust, warum willst du mich dann in deinem Team haben?“ Sein Misstrauen verletzte sie mehr, als sie es für möglich gehalten hätte. Vielleicht kann er nicht anders. Vielleicht hält sein Dämon ihn davon ab, irgendjemandem zu vertrauen. Sie blinzelte nachdenklich. Das ergab durchaus Sinn, und außerdem tat es nicht mehr so weh, wenn es so war.

„Ich vertraue dir ja. Aber man könnte dich entführen und foltern, um an diese Informationen zu gelangen. Du bist stark und schnell, und ich denke nicht, dass es dazu kommen wird, aber sie haben es schon mal geschafft, und deshalb …“

Ihr Mund wurde staubtrocken. „Ich … äh …“ Gefoltert?

„Das heißt nicht, dass ich zulassen würde, dass so etwas geschieht.“

Langsam beruhigte sie sich wieder. Natürlich ließe er es nicht zu. Und sie auch nicht. Sie war zwar ein Feigling, aber sie konnte auch böse sein, wenn es nötig war. Außerdem hatte sie ihre Lektion in Sachen „Ausflüchte suchen“ gelernt. „Ich will die Informationen trotzdem.“

„Gut, das war nämlich nur ein Test, und du hast ihn bestanden. Man kann die Informationen gar nicht gegen mich benutzen, weil die Jäger es längst wissen. Wenn man mich tötet und die Büchse nicht in der Nähe ist, wird der Dämon frei sein. Rasend, verrückt und viel gefährlicher und zerstörerischer als je zuvor, aber frei.“

Ihre Augen wurden größer. „Deshalb wollen sie euch lieber einfangen als töten.“

„Woher weißt du das?“

„In den Katakomben herrschte ein ständiges Kommen und Gehen verschiedener Truppen, aber jedes Mal, wenn ein Regiment ging, um zu kämpfen – damals wusste ich ja noch nicht, gegen wen –, erinnerten sie einander daran, euch nicht zu töten, sondern nur zu verletzen und …“

„Verdammt“, fluchte er plötzlich und unterbrach sie mitten im Satz. „Wir werden verfolgt. So ein Mist!“ Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad. „Ich habe mich ablenken lassen, sonst hätte ich sie schon früher bemerkt.“

Gwen ignorierte seinen vorwurfsvollen Tonfall und den neuerlichen Stich, der sie mitten ins Herz traf. Sie wirbelte auf ihrem Sitz herum, um durch die verdunkelte Rückscheibe zu schauen. Ihnen folgten eindeutig drei Autos um eine Kurve. Alle hatten getönte Scheiben, sodass sie nicht in die Wagen sehen und zählen konnte, wie viele Männer hinter ihnen her waren. „Jäger?“

„Garantiert. Verdammt!“, rief Sabin wieder, und das war auch schon die einzige Warnung, die sie erhielt, bevor ein vierter Wagen vor ihnen ausscherte.

Metall prallte auf Metall. Sie wurde nach vorn geschleudert, blieb dank Sicherheitsgurt und Airbag jedoch unverletzt.

„Bist du okay?“, fragte Sabin eindringlich.

„Ja“, brachte sie hervor. Ihr Herz schlug unkontrolliert, und ihr Blut fühlte sich in ihren Venen wie Eis an.

Sabin griff bereits nach den Messern, die er sich umgeschnallt hatte und deren silberne Spitzen in der Sonne glänzten. „Schließ dich ein“, befahl er ihr. Er legte zwei Messer auf das Armaturenbrett. „Außer du willst kämpfen.“ Er ließ ihr keine Zeit zu antworten, sondern sprang aus dem Auto und knallte die Tür hinter sich zu.

In Gwen stieg der Zorn hoch, als sie die Türen verschloss. Zorn, Scham und Angst. Wie konnte sie nur hier sitzen und zulassen, dass er allein gegen – sie zählte die Männer, die aus den Autos stiegen und mit erhobenen Waffen auf ihn zurannten –, gegen vierzehn Männer kämpfte? Gütiger Gott. Vierzehn!

Sie konnte nicht.

Sie hörte einen Knall, dann ein Zischen.

Ich bin eine Harpyie. Ich kann kämpfen. Ich kann gewinnen. Ich kann ihm helfen.

Ihre Schwestern hätten nicht gezögert. Sie hätten schon auf den Autos gestanden und die Dächer zerfetzt, noch ehe die Wagenräder aufgehört hätten, sich zu drehen. Ich kann es schaffen. Ich kann. Mit zitternder Hand nahm sie die Waffen. Sie waren schwerer, als sie aussahen, und ihre Griffe fühlten sich auf ihrer viel zu kalten Haut wie heiße Lava an.

Dieses eine Mal. Sie würde dieses eine Mal kämpfen. Aber das wäre es dann auch. Danach würde sie einen Vollzeit-Bürojob machen. Noch mal ein Knall. Ein weiteres Zischen ertönte, dann ein lautes Krachen. Sie rang nach Atem. Ja, ich kann es schaffen. Vielleicht.

Wo zum Teufel war die Harpyie? Ihr Blick war normal, nicht infrarot, und sie lechzte auch nicht nach Blut.

Das faule Luder war von dem Essen und den Berührungen vermutlich dermaßen satt, dass es am Ende sogar schlief. Wenn Gwen nicht so viel Zeit damit verbracht hätte, ihre dunkle Seite zu unterdrücken, hätte sie vielleicht gewusst, wie sie sie herbeirufen konnte. Aber nun war sie offenbar auf sich gestellt.

Wieder knallte es, jemand schrie.

Ich kann nicht ewig hier drin sitzen bleiben. Sie schluckte schwer und stieg dann am ganzen Leibe zitternd aus dem Auto. Sogleich musste sie sich einem entsetzlichen Anblick stellen: Sabin, der in einem Todestanz gefangen war; Arme wurden aufgeschlitzt, Klingen schnitten in Fleisch, Blut spritzte. Die Jäger schössen Loch um Loch in seinen Körper. Doch Sabin kämpfte unbeirrt weiter.

„Dumm von dir, allein auszusteigen, Dämon“, sagte einer der Fremden. „Gib uns unsere Frauen zurück, und wir sind weg.“

Gwen hätte wissen müssen, dass sich die Jäger für die Geschehnisse in den Katakomben rächen würden.

Sabin grunzte. „Eure Frauen sind fort.“

„Nicht die Rothaarige. Wir haben sie mit dir gesehen. Diese Hure hat sich ja schnell bei dir eingeschmeichelt.“

„Nenn sie nicht noch mal so. Ich warne dich.“ In seiner Stimme lag so viel Zorn, dass Gwen überrascht war, weil die Jäger nicht auf der Stelle Reißaus nahmen.

„Sie ist eine Hure, und du bist ein Bastard. Ich werde deinen Köper zuerst mit Blei vollstopfen, dich danach wiederbeleben und schließlich den Rest meines Lebens damit verbringen, dich für das bezahlen zu lassen, was du in Ägypten angerichtet hast.“

„Du hast unsere Freunde ermordet, du Hurensohn“, meldet sich ein anderer zu Wort.

Sabin schwieg. Er schlug einfach nur weiter wild um sich, während seine Augen rot leuchteten und unter seiner Haut plötzlich die Umrisse scharfer, knorriger Knochen sichtbar wurden. Rings um ihn fielen Körper zu Boden, doch wie lange würde seine Kraft noch reichen? Es waren noch acht Jäger auf den Beinen. Acht, die immer noch auf ihn schössen. Da sie ihn nicht töten, sondern nur kampfunfähig machen wollten, zielten sie auf seine Waden und Oberarme.

Gwen konnte seinen Dämon förmlich hören, wie er ihnen gefährliche kleine Unsicherheiten in die Ohren flüsterte: Im Grunde weißt du doch genau, dass du ihn nicht besiegen kannst, nicht wahr? Die Chancen, dass deine Frau heute Abend deine Leiche identifizieren muss, stehen gut.

Während sie die Geräusche um sich herum ausblendete und jedes Quäntchen Mut zusammennahm, bewegte sie sich zentimeterweise vorwärts. Sie würde die Jäger ablenken und Sabin so die Möglichkeit geben, sie zu schlagen. Ja, ja. Guter Plan. Okay. Aber wie lenkte sie sie nur am besten ab, damit Sabin sich auf sie stürzen und ihnen den Garaus machen konnte? Ohne dass ich in dem Tumult getötet oder verstümmelt werde?, formulierte sie die Frage konkreter.

Die Antwort traf sie wie eine Faust in den Magen, und sie hätte sich fast übergeben. Nein, nein, nein. Das ist die einzige Möglichkeit, sagte ein Teil von ihr.

Das ist dämlich und selbstmörderisch, erwiderte der andere Teil. Egal. Gleich würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Mutiges tun, und sie fühlte sich … gut. Sogar sehr gut. Zwar zitterte sie immer noch vor Angst, aber das würde sie nicht aufhalten. Dieses Mal nicht. Sabin hatte sie vor den Jägern gerettet, also schuldete sie ihm etwas. Mehr als das. Als sie zu den Männern hinüberblickte, von denen einige für ihre einjährige Gefangenschaft verantwortlich waren, verspürte sie eine Mischung aus Anspruchsberechtigung und dem Drang, sie zu verletzen.

Sabin hatte recht gehabt. Es würde sich gut anfühlen, ihren Feind zu vernichten – und zwar Auge in Auge. Das einzige Problem war nur, dass sie im Gegensatz zu ihren Schwestern keine ausgebildete Soldatin war. Sie wusste, was zu tun war, aber würde es ihr auch gelingen?

Versuch’s. Was konnte schlimmstenfalls schon passieren? Na ja, sie könnte sterben. Gwen holte tief Luft, zog die Schultern nach hinten und wedelte mit den Armen, sodass die Messerklingen in der Sonne funkelten. „Ihr wollt mich? Dann fangt mich doch.“

Der Todestanz erstarb, als sich aller Augen auf sie richteten und sie ein Messer warf. Es rauschte durch die Luft, als würde es jeden Moment großen Schaden anrichten, und landete dann nutzlos auf dem Boden. Verdammt!

Sie duckte sich, doch einer der Jäger feuerte einen Schuss auf sie ab, bevor sie vollkommen in Deckung gegangen war. Sein Freund schrie: „Bring sie nicht um!“, und schlug ihm gegen den Arm, damit Gwen aus der Schusslinie kam. Doch es war zu spät. Die Kugel traf sie an der Schulter. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Körper und warf sie zurück.

Einen Moment lang lag sie völlig benommen und keuchend da, das Stechen in ihrem Arm war schlimm. Aber angeschossen zu werden ist gar nicht so schlimm, wie ich immer dachte, stellte sie fest. Klar, es tat sehr weh, aber der Schmerz war durchaus erträglich. Vor allem, als sich ihre Sicht trübte. In einer Sekunde waren der blaue Himmel und die weißen Wolken noch da gewesen, in der nächsten nicht. In der Ferne hörte sie stampfende Schritte und Autos, die auswichen. Hoffentlich hatte sie die Jäger genügend abgelenkt, damit Sabin sie besiegen konnte.

„Haltet ihn zurück“, rief jemand. „Ich hole das Mädchen.“

Sabin brüllte, ein entsetzliches Geräusch, das ihr Trommelfell fast zum Platzen brachte. Dann prallte eine Kugel an der Radfelge ab und fraß sich direkt in ihre Brust. Noch ein scharfer Schmerz explodierte in ihr. Okay, dieser Schmerz war nicht mehr so erträglich. Ihr Körper begann zu zittern, als sich ihre Muskeln zu harten Knoten zusammenzogen. Doch am meisten ärgerte sie, dass das warme Blut das hübsche neue T-Shirt verschandelte. Ein T-Shirt, das sie sich selbst ausgesucht hatte. Ein T-Shirt, auf das sie so stolz gewesen war und das sie so gern getragen hatte. Ein T-Shirt, das Sabin lüsterne Blicke entlockt hatte.

Es ist ruiniert. Mein schönes neues T-Shirt ist ruiniert. Diese Feststellung verärgerte sogar die Harpyie, und endlich regte sie sich.

Aber es war zu spät. Gwens Kraft floss zusammen mit ihrem Blut aus ihrem Körper. Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Schlaf zerrte an ihr, lockte sie, lullte sie ein, doch sie wehrte sich dagegen. Ich darf nicht schlafen. Nicht hier, nicht jetzt. Sie war von viel zu vielen Leuten umgeben. Sie wäre verletzlicher denn je. Eine Schande für ihre Familie. Einmal mehr ein Zielobjekt.

„Gwen!“, rief Sabin. In der Ferne vernahm sie ein widerwärtiges Geräusch, das sich so anhörte, als würden Gliedmaßen von einem Körper abgerissen, und das von einem Unheil verkündenden dumpfen Aufschlag gefolgt war. „Gwen, sprich mit mir.“

„Es geht mir … gut.“ Dann verschluckte die Dunkelheit sie, und dieses Mal war sie machtlos dagegen.