2. KAPITEL
G wendolyn die Schüchterne presste sich gegen die Rückwand ihrer Glaszelle, als die Horde der zu großen, zu muskulösen und zu blutverschmierten Krieger in die Kammer stürmten, die sie mehr als ein Jahr lang geliebt und gehasst hatte. Geliebt, weil in der Kammer zu sein bedeutete, dass sie ihre Zelle hatte verlassen dürfen und so etwas wie Freiheit verspürte. Gehasst, weil sie all die schrecklichen Foltertaten hatte mit ansehen müssen, die hier verübt worden waren.
Die Männer, die jene Taten verübt hatten, stießen jetzt entsetzte Schreie aus und ließen ihre Petrischalen fallen, ihre Nadeln, ihre Fläschchen und die verschiedensten Werkzeuge. Glas zersplitterte. Wildes Gebrüll schwoll an, als die Eindringlinge mit eingeübten Drohgebärden vorwärts stürzten und heftig um sich schlugen und traten. Ihre Opfer fielen um wie Pappfiguren. Keine Frage, wer diesen Kampf gewinnen würde.
Gwen zitterte. Sie fragte sich, was mit ihr und den anderen geschah, wenn sich der Staub legte. Die Krieger waren eindeutig keine Menschen, genau wie sie, genau wie all die Frauen, die in den Zellen ringsum eingesperrt waren. Sie waren zu brutal, zu stark, zu Gott weiß was, um sterblich zu sein. Aber was genau sie waren, wusste sie nicht. Und warum waren sie bloß hier? Was wollten sie?
Sie hatte im vergangenen Jahr so viele Enttäuschungen erfahren, dass sie gar nicht zu hoffen wagte, dass die Krieger gekommen waren, um sie zu retten. Würde man sie und die anderen hier verrotten lassen? Oder würden diese Männer an ihnen herumforschen und sie missbrauchen, wie die abscheulichen Menschen es getan hatten?
„Tötet sie!“, rief eine ihrer Mitgefangenen den Kriegern entgegen. Beim Klang ihrer harten, wütenden Stimme schlang Gwen sich unwillkürlich die Arme um die Taille. „Sie sollen genauso leiden, wie wir gelitten haben.“
Das Glas, das die Frauen von der Außenwelt trennte, war dick und kugelsicher. Und doch war jedes Leid in der Kammer und in den anderen Zellen wie ein lauter Knall in Gwens Ohren.
Sie wusste, wie sie den Lärm abschirmen konnte – das hatten ihre Schwestern sie schon als kleines Mädchen gelehrt –, aber sie wollte die Niederlage ihrer Entführer unbedingt hören. Ihre schmerzerfüllten Laute waren wie Schlaflieder für sie. Beruhigend und süß.
Doch so stark die Krieger offenbar auch waren, sie versetzten keinem der Menschen den Todesstoß. Seltsamerweise verwundeten sie sie bloß und schlugen sie bewusstlos, bevor sie sich auf den nächsten stürzten. Und nach gefühlten – viel zu kurzen – Sekunden, die wahrscheinlich aber mehrere Minuten gewesen waren, stand nur noch ein Mensch auf den Beinen. Der schlimmste von ihnen.
Einer der Krieger ging auf ihn zu. Zwar verfügten alle Angreifer über tödliche Fähigkeiten, aber der hier hatte am schmutzigsten gekämpft. Er hatte in erster Linie auf die Leistengegend und die Kehle gezielt. Bereit für den letzten Schlag hob er den Arm, doch dann blickte er in Gwens aufgerissene Augen und hielt inne. Langsam ließ er den Arm sinken.
Ihr stockte der Atem. Braune blutverschmierte Haare klebten an seinem Kopf. Seine Augen hatten die Farbe von Brandy und leuchteten zugleich blutrot. Unmöglich. Das bildete sie sich bestimmt nur ein. Sein Gesicht war so grob, das es aus Granit hätte gehauen sein können. Jeder Gesichtszug schien Zerstörung zu versprechen, und trotzdem hatte es fast etwas … Jungenhaftes. Ein verblüffender Gegensatz.
Das Hemd hing ihm in Fetzen vom Leib und enthüllte bei jeder seiner Bewegungen gebräunte Haut und schlanke Muskeln. Die Sonne! Wie sehr Gwen sie vermisste, sich nach ihr sehnte. Ein violetter Schmetterling schlang sich um die rechte Seite seines Brustkorbs und tauchte zaghaft in den Bund seiner Hose ein. Die Flügel liefen spitz zu, was die Figur zugleich weiblich und männlich wirken ließ. Warum ein Schmetterling?, fragte Gwen sich. Seltsam, dass sich ein starker, bösartiger Krieger so ein Motiv aussuchte. Aber was auch dahintersteckte, der Anblick beruhigte sie.
„Helft uns“, sagte sie und betete, dass der Unsterbliche sie durch das schalldichte Glas hören konnte. Doch falls er sie hörte, ließ er es sich nicht anmerken.
„Befreit uns.“ Noch immer keine Reaktion.
Was, wenn sie euch hierlassen? Oder schlimmer: wenn sie aus demselben Grund hier sind wie die Menschen?
Ihr Kopf war plötzlich voll von Zweifeln. Sie runzelte die Stirn und wurde blass. Die Ängste waren nicht aus der Luft gegriffen; noch vor wenigen Momenten hatte sie sich dasselbe gefragt. Aber jetzt war es irgendwie anders … fremd. Das waren nicht ihre Gedanken, nicht von ihrer inneren Stimme gesprochen. Wie … was … ?
Spitze weiße Zähne bohrten sich in die Unterlippe des Mannes, als er sich sichtlich wütend die Hände an die Schläfen presste.
Was, wenn …
„Aufhören!“, brüllte er.
Der Gedanke, der sich gerade in ihrem Kopf hatte formen wollen, verpuffte plötzlich. Irritiert blinzelte Gwen. Der Krieger schüttelte den Kopf, und sein Blick wurde noch intensiver.
Für ihren verhassten Foltermeister war das die Gelegenheit zu handeln. Er machte einen Schritt auf den Krieger zu.
Gwen fuhr zusammen und schrie: „Pass auf!“
Die Aufmerksamkeit nach wie vor auf Gwen gerichtet, streckte der granitgesichtige Krieger einen Arm aus und packte den Menschen am Hals, wodurch er ihn zugleich würgte und auf Abstand hielt. Der Mensch – sein Name war Chris – ruderte panisch mit den Armen. Obwohl er nicht älter war als fünfundzwanzig, war er dennoch der Anführer der Wärter und Wissenschaftler hier. Er war der Mann, den sie mehr hasste als die Gefangenschaft.
„Alles, was ich tue, tue ich für das Allgemeinwohl.“ Das hatte er am liebsten gesagt – kurz bevor er eine der anderen Frauen direkt vor ihren Augen vergewaltigt hatte. Er hätte sie auch künstlich befruchten können, aber er hatte es vorgezogen, sie durch den erzwungenen Geschlechtsakt zu erniedrigen. „Ich wünschte, ich hätte dich vor mir“, hatte er oft hinzugefügt. „Jede dieser Frauen ist nur ein Ersatz für dich.“
Trotz seines Verlangens hatte er sie nie angerührt, weil er sich zu sehr vor ihr gefürchtet hatte. Genau wie die anderen. Sie wussten, wen sie vor sich hatten. An dem Tag, als die Männer Gwen entführt hatten, hatten sie sie in Aktion gesehen. Eine Frau braucht nur aus Versehen ein paar Menschen zu Tode zu prügeln, und schon hat sie ihren Ruf weg, dachte Gwen. Anstatt sie zu töten, hatten sie sie eingesperrt und mit verschiedenen Drogen im Belüftungssystem experimentiert, in der Hoffnung, sie lange genug außer Gefecht setzen zu können. Bisher hatten sie zwar keinen Erfolg gehabt, aber auch nicht aufgegeben.
„Sabin, nicht“, sagte eine hübsche dunkelhaarige Frau und legte dem rotäugigen Krieger die Hand auf die Schulter. Ihr Tonfall war so bedrückt, dass Gwen sich krümmte. „Wie du uns gesagt hast: Wir brauchen ihn vielleicht noch.“
Sabin. Ein starker Name. Hatte was von einer Waffe. Passte zu ihm.
Ob die beiden ein Paar waren?
Endlich nahm er den vereinnahmenden Blick von ihr, und sie konnte wieder atmen. Sabin ließ Chris los, und der Bastard fiel bewusstlos zu Boden. Dass er noch lebte, wusste Gwen, weil sie das Blut durch seine Adern und die Luft in seinen Lungen rauschen hörte.
„Was sind das für Frauen?“, fragte ein blonder Krieger. Er hatte funkelnde blaue Augen und ein schönes Gesicht, das Leidenschaft und Sicherheit ausstrahlte. Aber er war nicht derjenige, neben dem sich Gwen in Gedanken plötzlich zusammenrollte und friedlich schlief. Tief. Sicher. Endlich.
All die Monate hatte sie Angst gehabt zu schlafen, weil sie gewusst hatte, dass Chris darauf gelauert hatte, sie in einem günstigen Moment zu vergewaltigen. Deshalb hatte sie immer nur kurz und leicht geschlummert, ohne jemals ihre Deckung aufzugeben. Manchmal hatte sie sich dazu zwingen müssen, sich nicht einfach dem bösen Mann hinzugeben, um als Gegenleistung endlich die Augen schließen und im schwarzen Vergessen versinken zu können.
Ein schwarzhaariger Mann mit violetten Augen trat vor und betrachtete die Zellen rings um Gwens. „Gütige Götter. Die dort drüben ist ja schwanger.“
„Diese auch.“ Der diese Worte sprach, hatte bunte Haare, blasse Haut und so stahlblaue Augen wie sein blonder Freund, nur dass er dunklere Schatten um die Augen hatte. „Welche Bestien halten denn schwangere Frauen unter solchen Bedingungen gefangen? Das ist erbärmlich, sogar für Jäger.“
Die gefangenen Frauen schlugen gegen das Glas und flehten um Hilfe, darum, befreit zu werden.
„Kann irgendwer hören, was sie sagen?“, fragte der Berg von einem Mann.
„Ja, ich“, erwiderte Gwen, ohne lange zu überlegen.
Sabin drehte sich zu ihr um. In seinen braunen Augen loderte es nicht mehr rot. Er taxierte sie, prüfte sie mit seinem Blick.
Ein Schauer rieselte ihr den Rücken hinab. Konnte er sie hören? Ihre Augen wurden größer, als er zu ihrer Zelle herüberkam und dabei sein Messer in die Scheide steckte. Durch ihre hochsensiblen Sinne nahm sie einen leisen Hauch Schweiß, Zitrone und Minze wahr. Gwen atmete tief ein und genoss jede Nuance dieses Dufts. Monatelang hatte sie nichts als Chris und sein aufdringliches Aftershave gerochen, seine beißenden Drogen und die Angst der anderen Frauen.
„Du kannst uns hören?“ Sabins Stimmfarbe war genauso rau wie sein Gesicht und hätte ihre Nerven eigentlich wie Sandpapier aufreiben müssen, aber aus irgendeinem Grund beruhigte sie sie wie eine Liebkosung.
Zögerlich nickte Gwen.
„Und sie?“ Er zeigte auf die anderen Gefangenen.
Sie schüttelte den Kopf. „Kannst du mich denn hören?“
Nun schüttelte er den Kopf. „Ich lese von deinen Lippen.“
Oh. Das bedeutete, dass er sie die ganze Zeit intensiv beobachtet hatte, sogar als sie es nicht bemerkt hatte. Es war ihr nicht unangenehm.
„Wie bekommen wir das Glas auf?“, wollte er wissen.
Sie presste die Lippen zusammen und wagte, einen kurzen Blick auf die schwer bewaffneten, blutverschmierten Raubtiere hinter ihm zu werfen. Sollte sie es ihm verraten? Was, wenn sie ihre Mitgefangenen vergewaltigen wollten, so wie die anderen Männer es getan hatten? So wie sie es befürchtet hatte?
Sein harter Gesichtsausdruck wurde weicher. „Wir sind nicht gekommen, um euch etwas anzutun. Ich gebe dir mein Wort. Wir wollen euch nur befreien.“
Sie kannte ihn nicht und wusste, dass sie ihm lieber nicht vertrauen sollte. Dennoch stand Gwen auf und schleppte sich aufweichen Knien zur Glaswand. Auf diese kurze Distanz sah sie, dass Sabin sie weit überragte und seine Augen überhaupt nicht braun waren. Vielmehr waren sie eine Symphonie der Farben: Bernsteingelb, Kaffeebraun und Kastanienrot. Zum Glück war das rote Glimmen noch immer weg. Hatte sie es sich tatsächlich nur eingebildet?
„Frau?“, sagte er.
Wenn er die Zelle wie versprochen öffnete, wenn sie den Mut aufbringen konnte und nicht auf der Stelle erstarrte, wie es ihre Art war – dann konnte sie endlich fliehen. Die Hoffnung, die sie sich zuvor versagt hatte, wurde plötzlich lebendig, geradezu quälend. Einzig der Gedanke, dass sie ihre möglichen Retter unabsichtlich auf grausame und brutale Art und Weise vernichtete, schmälerte Gwens Freude.
Mach dir keine Sorgen. Solange sie nicht versuchen, dir was anzutun, bleibt deine Bestie eingesperrt. Aber eine falsche Bewegung, und…
Das Risiko muss ich eingehen, dachte sie und sagte: „Steine.“
Er runzelte die Stirn. „Steige?“
Sie musste einen dicken Kloß herunterschlucken, als sie den Arm hob und mit einem ihrer Fingernägel – verglichen mit den Nägeln eines Menschen war es eher eine Kralle – das Wort STEINE in das Glas ritzte. Kaum hatte sie einen Buchstaben geschrieben, verschwand er auch schon wieder. Verdammtes Götterglas. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie die Menschen darangekommen waren.
Er wartete. Dann runzelte er wieder die Stirn, während er seine Aufmerksamkeit offensichtlich auf ihre zu langen, zu spitzen Fingernägel richtete. Ob er sich gerade fragte, was für ein Geschöpf sie war?
Dann fragte Sabin: „Steine?“, und ihre Blicke kreuzten sich.
Sie nickte.
Er drehte sich um die eigene Achse und suchte die gesamte Kammer ab. Obwohl es nur wenige Sekunden dauerte, hatte Gwen den Eindruck, er hätte sich jeden Zentimeter genau eingeprägt und fände sich auch im Stockdunkeln zurecht.
Die Krieger stellten sich hinter ihm auf und sahen sie erwartungsvoll an. Unter die Erwartung mischten sich noch andere Gefühle: Neugierde, Misstrauen, Hass – auf sie? – und sogar Lust. Gwen wich einen Schritt zurück, dann noch einen.
Sie würde den Hass der Lust immer vorziehen. Ihre Beine zitterten so heftig, dass sie befürchtete, sie würden ihr den Dienst versagen. Bleib ruhig. Du darfst nicht in Panik geraten. Es geschehen schlimme Dinge, wenn du in Panik gerätst.
Wie wehrte man das Verlangen anderer ab? Sie konnte ihren Körper nicht zusätzlich bedecken. Während der Gefangenschaft hatten die Entführer ihr die Jeans und das T-Shirt weggenommen und ihr stattdessen ein weißes Trägertop und einen kurzen Rock gegeben – das erleichterte den „Zugriff“. So hatten sich die elenden Schweine ausgedrückt. Einer der Träger war vor Monaten gerissen, und das Top klaffte auseinander. Gwen hatte es unter dem Arm zusammengeknotet, um irgendwie ihre Brust zu bedecken.
„Umdrehen“, sagte Sabin plötzlich.
Ohne nachzudenken, wirbelte Gwen herum, und ihr langes rotes Haar flog ihr auf den Rücken. Ihr Atem ging stoßweise, und ihr traten Schweißperlen auf die Stirn. Warum wollte er sie von hinten sehen? Damit er sie leichter überwältigen konnte?
Noch eine schwere Pause. „Ich meinte nicht dich, Frau.“ Dieses Mal war Sabins Stimme weich und sanft.
„Ach komm schon“, beschwerte sich jemand. Sie erkannte den respektlosen Tonfall des blonden Mannes mit den blauen Augen. „Du meinst doch nicht ernsthaft …“
„Ihr macht ihr Angst.“
Gwen blickte über die Schulter.
„Aber sie …“, begann der stark Tätowierte.
Sabin fiel auch ihm ins Wort. „Wollt ihr Antworten oder nicht? Ich habe gesagt, umdrehen!“
Ein paar Seufzer ertönten, dann scharrende Geräusche.
„Frau.“
Langsam drehte sie sich wieder um. Alle Krieger hatten Sabins Befehl befolgt und wandten ihr nun den Rücken zu.
Sabin legte eine Hand auf das Glas. Sie war groß, frei von Narben und wirkte ruhig, war jedoch von blutigen Kratzern übersät. „Welche Steine?“
Sie zeigte auf eine Steingruppe in einem Kasten hinter ihm. Die Steine waren klein, etwa faustgroß, auf jeden war eine andere Art zu sterben gemalt worden. Die wichtigsten waren Enthauptung, Entfernen der Gliedmaßen, Erstechen, ein Speer durch den Bauch und ein Feuer, das am Körper eines an einen Baum genagelten Mannes emporkletterte.
„Gut, das ist gut. Aber was mache ich damit?“
Das Verlangen nach der Freiheit – sie war zum Greifen nah – machte sie atemlos, als sie pantomimisch erklärte, dass die Steine in Löchern platziert werden mussten, wie Schlüssel in Schlössern.
„Spielt es eine Rolle, welcher Stein wohin kommt?“
Sie nickte und zeigte dann auf jeden einzelnen Stein und auf die Zelle, die er öffnete. Sie hatte den Einsatz der Steine fürchten gelernt, da sie jedes Mal unfreiwillige Zeugin einer weiteren Vergewaltigung geworden war. Seufzend begann Gwen, das Wort SCHLÜSSEL ins Glas zu ritzen, als Sabin seine Faust in den Kasten rammte, um an die Steine zu gelangen. Das hätten sonst vielleicht zehn Menschen mit vereinten Kräften geschafft, aber bei ihm wirkte es völlig mühelos.
Seine Hand war schwer verletzt, mehrere Schnitte zogen sich von den Fingerknöcheln bis zum Handgelenk. Es bildeten sich rote Perlen, die er wegwischte, als bedeuteten sie nichts. Zu dem Zeitpunkt hatten die Verletzungen bereits zu heilen begonnen, und die zerrissene Haut wuchs wieder zusammen. Oh ja. Er war irgendetwas viel Größeres als ein Mensch. Kein Elb, denn seine Ohren waren perfekt abgerundet. Kein Vampir, denn er hatte keine langen Eckzähne. Also eine männliche Sirene? Seine Stimme war voll und köstlich genug, ja. Aber vielleicht zu rau.
„Nehmt euch einen Stein“, rief er, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Sofort wirbelten die Krieger herum. Aus Sorge, ein Blick auf die anderen könnte ihre Angst zu sehr schüren und die Bestie in ihr wecken, konzentrierte Gwen sich darauf, nur Sabin anzusehen. Du hast alles im Griff, du machst das gut. Sie durfte – und würde – nicht unsicher werden. Sie bereute schon viel zu viel.
Warum konnte sie nicht so sein wie ihre Schwestern? Warum konnte sie nicht mutig und stark sein und sich so annehmen, wie sie war? Sie hätten sich sogar ein Bein oder einen Arm abgeschnitten, um zu entkommen – und zwar schon längst. Sie hätten zuerst eine Faust durch das Glas und dann durch Chris’ Brust gestoßen. Danach hätten sie vor seinen Augen sein Herz verspeist und dabei gelacht.
Plötzlich überkam das Heimweh sie. Wenn ihr Exfreund Tyson ihren Schwestern von der Entführung berichtet hätte – was er vermutlich nicht getan hatte, denn er fürchtete sich viel zu sehr vor ihnen –, dann hätten sie nach ihr gesucht und nicht aufgegeben, ehe sie sie gefunden hätten. Denn sie liebten sie trotz ihrer Schwächen und wollten nur das Beste für sie. Wie enttäuscht sie sein würden, wenn sie von ihrer Gefangenschaft erfuhren. Gwen hatte nicht nur sich verraten, sondern ihre gesamte Art. Schon als Kind hatte sie bei Konflikten die Flucht ergriffen, was ihr den erniedrigenden Beinamen „Gwendolyn die Schüchterne“ eingebracht hatte.
Sie merkte, dass ihre Handflächen feucht waren, und wischte sie an den Oberschenkeln ab.
Sabin kommandierte die Männer und sagte ihnen, welche Steine in welche Löcher gehörten. In einigen Fällen irrte er sich, doch Gwen blieb unbesorgt. Sie würden es herausfinden. Bei dem Stein, der zu ihrer Zelle gehörte, lag er jedoch sofort richtig, und als ein Krieger – ein blauhaariger gepiercter Punk – ihn in die Hand nehmen wollte, legte Sabin ihm seine starken, sonnengebräunten Finger ums Handgelenk und hielt ihn zurück.
Der Blauhaarige sah Sabin fest in die Augen. Sabin schüttelte den Kopf und sagte: „Meiner.“
Der Punk grinste. „Wir hassen, was wir sehen, nicht wahr?“
Sabin zog nur die Augenbrauen hoch.
Gwen blinzelte irritiert. Sabin hasste es, sie anzusehen?
Eine Frau nach der anderen wurde befreit. Einige weinten, andere versuchten aus der Kammer zu fliehen. Aber die Männer ließen sie nicht weit kommen, und Gwen war überrascht, wie sanft sie die wild kämpfenden Frauen in den Armen wiegten. Der hübscheste Mann der Gruppe – der mit den bunten Haaren – näherte sich jeder einzelnen Frau und murmelte leise: „Schlaf, mein Liebling.“
Erschreckenderweise gehorchten sie ihm und sanken in die schützenden Arme der Krieger.
Sabin ging in die Hocke und nahm Gwens Stein, auf dem der bei lebendigem Leib angezündete Mann abgebildet war. Nachdem Sabin sich aufgerichtet hatte, warf er den Stein in die Luft und fing ihn mit Leichtigkeit wieder auf. „Lauf nicht weg. In Ordnung? Ich bin müde und möchte nicht hinter dir herlaufen müssen, aber ich werde es tun, wenn du mich dazu zwingst. Und ich habe Angst, dass ich dir aus Versehen wehtue.“
Da sind wir schon zu zweit, dachte sie.
„Nein … lass sie nicht frei.“ Chris stöhnte auf einmal. Wie lange war er schon wach? Er hob den Kopf und spuckte Dreck aus. Unter seinen Augen hatten sich Blutergüsse gebildet. „Gefährlich. Tödlich.“
„Cameo.“ Mehr sagte Sabin nicht.
Die Kriegerin wusste sofort Bescheid. Sie ging zu dem Menschen hinüber, packte ihn am Hemd und zog ihn mit Leichtigkeit auf die Füße. Mit der freien Hand hielt sie ihm einen Dolch an die Kehle. Entweder war er zu schwach, oder er hatte zu große Angst – auf jeden Fall wehrte er sich nicht.
Gwen hoffte inständig, dass es die Angst war, die ihn in Schach hielt. Sie starrte auf die Messerspitze, als könnte sie sie allein mit ihrer Willenskraft dazu bringen, die Kehle dieses Bastards aufzuschlitzen und ihm unvergessliche Qualen zuzufügen.
Ja, dachte sie wie hypnotisiert. Ja, ja, ja. Tu es. Bitte, tu es. Schneide ihn, lass ihn leiden.
„Was soll ich mit ihm machen?“, fragte Cameo Sabin.
„Setz ihn außer Gefecht, aber lass ihn am Leben.“
Enttäuscht ließ Gwen die Schultern sinken. Doch mit der Enttäuschung kam eine verblüffende Erkenntnis: Obwohl sie ihre Gefühle im Griff hatte, war sie trotzdem kurz davor, ihre innere Bestie von der Leine zu lassen. All diese Gedanken an Schmerz und Leid waren nicht ihre eigenen. Unmöglich. Gefährlich, hatte Chris gesagt. Tödlich. Und er hatte recht. Du darfst nicht die Kontrolle verlieren.
„Aber du kannst ihm ruhig etwas wehtun, wenn du magst“, fügte Sabin hinzu und sah Gwen mit zusammengekniffenen Augen an. War er … wütend? Auf sie? Aber warum? Was hatte sie ihm denn getan?
„Lass das Mädchen nicht frei“, wiederholte Chris. Ein Zittern fuhr durch seinen Körper. Er wich zurück, aber Cameo, die offensichtlich stärker war, als sie aussah, riss ihn zurück. „Bitte nicht.“
„Vielleicht solltest du die Rothaarige in ihrer Zelle lassen“, schlug die zierliche Kriegerin vor. „Zumindest fürs Erste. Nur für alle Fälle.“
Sabin hob die Hand mit dem Stein und hielt inne, kurz bevor er ihn in die Mulde neben Gwens Käfig legte. „Er ist ein Jäger. Ein Lügner. Und ich denke, er hat sie verletzt und will verhindern, dass sie uns alles erzählt.“
Gwen sah ihn voller Schrecken und Ehrfurcht an. Er war nicht wütend auf sie, sondern auf Chris – einen Jäger? – und darauf, was er ihr angetan hatte. Er meinte wirklich, was er gesagt hatte. Er würde ihr nicht wehtun. Er wollte sie in Freiheit sehen. In Sicherheit.
„Habe ich recht?“, fragte Sabin sie. „Hat er dir wehgetan?“
Die Demütigung trieb ihr die Hitze in die Wangen, als sie nickte. Emotional hatte er sie geradezu zerstört.
Sabin fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Er wird es bereuen. Das verspreche ich dir.“
Langsam verflog die Verlegenheit. Ihre Mutter, die sie vor fast zwei Jahren enterbt hatte, hätte Gwen lieber tot als geschwächt gesehen, aber dieser Mann – dieser Fremde – wollte sie rächen.
Chris schluckte nervös. „Hört mir zu. Bitte. Ja, ich bin euer Feind, und ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ihr nicht auch meine Feinde seid. Das seid ihr. Ich hasse euch mit jeder Faser meines Körpers. Aber wenn ihr sie gehen lasst, bringt sie uns alle um. Das schwöre ich.“
„Wirst du wirklich versuchen, uns umzubringen, kleiner Rotschopf?“, fragte Sabin noch sanfter als zuvor.
Gwen, die von den Menschen immer nur „Nutte“ oder „Dreckstück“ genannt worden war, spürte, wie der süße Kosename einer nach Rosen duftenden Sommerbrise gleich durch ihren Geist wehte. In den wenigen gemeinsamen Minuten hatte dieser Mann es geschafft, ihr die eine Sache zu schenken, von der sie seit ihrer Entführung geträumt hatte: Er war wie der weiße Ritter, der fest entschlossen ist, den bösen Drachen zu töten. Zugegeben – einst hatte sie gedacht, dieser weiße Ritter käme in Gestalt von Tyson oder des Vaters, den sie nie kennengelernt hatte. Trotzdem: Es geschah nicht jeden Tag, dass ein Traum wahr wurde.
„Rotschopf?“
Das Wort riss Gwen aus den Gedanken. Was hatte er gefragt? Ach ja, ob sie versuchen würde, ihn und seine Freunde umzubringen. Sie befeuchtete sich die Lippen und schüttelte den Kopf. Wenn ihre Bestie das Ruder übernahm, würde sie es nicht nur versuchen. Sie würde es schaffen. Ich habe die Kontrolle. Größtenteils. Ihnen wird nichts geschehen.
„Dachte ich auch nicht.“ Mit einer flinken Bewegung legte Sabin den Stein in die richtige Position.
Gwens Herz hämmerte so hart in ihrer Brust, dass sie fast glaubte, es müsste ihr die Rippen brechen. Langsam hob sich das Glas … hob sich weiter … gleich … gleich … Und dann war zwischen ihr und Sabin nichts als die pure Luft. Der Duft von Zitrone und Minze wurde intensiver. Die Kälte, an die Gwen sich mit der Zeit gewöhnt hatte, wich einer Decke aus Wärme, die sich um ihren Körper zu legen schien.
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Frei. Sie war wirklich frei.
Sabin atmete scharf ein. „Meine Götter. Du bist unglaublich.“
Sie ertappte sich dabei, wie sie auf ihn zuging und einen Arm ausstreckte. Sie sehnte sich nach dem Hautkontakt, der ihr all die Monate verwehrt worden war. Eine einzige Berührung war alles, was sie brauchte. Und dann würde sie nach Hause gehen. Endlich.
Nach Hause.
„Nutte!“, schrie Chris, der versuchte, sich aus Cameos Griff zu befreien. „Bleib weg von mir. Haltet sie von mir fern. Sie ist ein Ungeheuer!“
Unvermittelt blieb sie stehen, und ihr Blick wanderte zu dem erbärmlichen Menschen, der für all das Leid und die Qual verantwortlich war, die sie während des vergangenen Jahres erlitten hatte. Ganz zu schweigen davon, was er ihren Mitgefangenen angetan hatte. Ihre Fingernägel verwandelten sich in messerscharfe Krallen. Kleine, scheinbar hauchdünne Flügel entfalteten sich auf ihrem Rücken, zerrissen dabei den Baumwollstoff ihres Tops und flatterten wild. Das Blut in ihren Adern verdünnte sich, raste durch jeden Teil ihres Körpers, schnell, so schnell, und ihr Blick wurde zum Infrarotblick – sämtliche Farben verschwanden, sie sah nur noch die Wärme von Körpern.
In dem Augenblick wurde ihr klar, dass sie ihre Bestie – ihre dunkle Seite – nicht einmal im Ansatz unter Kontrolle gehabt hatte. Sie hatte sich die ganze Zeit in ihr gewunden und nur so lange stillgehalten, bis sie die Möglichkeit zum Angriff hatte …
Nur Chris, nur Chris, bitte, Götter, nur Chris. Dieses Mantra wiederholte sie immer und immer wieder im Geiste, auf dass es den Blutrausch ihrer rachedurstigen Bestie linderte. Nur Chris, lass alle anderen am Leben, greif nur Chris an.
Doch tief in sich wusste sie, dass die Zahl der Todesopfer längst feststand.