7. KAPITEL
P aris saß in gebeugter Haltung auf dem Rücksitz eines Cadillac Escalade, und Strider steuerte den Wagen, ohne auf irgendwelche Geschwindigkeitsbeschränkungen zu achten. Obwohl die Sonne auf die Innenstadt von Budapest schien, konnte Paris es nicht sehen. Die Fenster waren so stark verdunkelt, dass man in der Fahrgastzelle nur düstere Schemen wahrnahm. Kurz vor ihrer Abreise aus Ägypten hatte Anya, Luciens Frau und die weniger bedeutsame Göttin der Anarchie, das Auto die Götter wissen wem gestohlen – zusammen mit einem passenden Zweitwagen und einem Bentley für sich selbst.
„Ihr braucht mir nicht zu danken“, hatte sie gesagt und ironisch gegrinst. „Eure entsetzten Gesichter sind Geschenk genug. Aber wenn ich mich mal selbst loben darf: Sind das nicht coole Flitzer? Und diese Ausstattung … Sehen wir der Wahrheit doch mal ins Gesicht: Ihr brauchtet dringend eine Veränderung, und diese Reifen sind dafür bestens geeignet.“
Leider war Paris im gleichen Wagen gelandet wie Amun, der sich den Kopf hielt, als würde er gleich explodieren. Und dann waren da noch Aeron, der seinen grimmigen Blick nicht abstellen konnte – der Kerl brauchte sofort seine kleine Dämonenfreundin Legion –, und Sabin und seine Harpyie.
Sabin konnte den Blick nicht von der gefährlichen Kehlen fressenden Frau abwenden und war ihr ganz offensichtlich verfallen, seit sie ihn im Flugzeug geküsst hatte. Verständlich, sicher. Sie war unvergleichlich reizvoll, mit diesen goldenen Augen, die fast so rein waren wie Diamanten, mit diesen Lippen, die so rot waren, wie Evas Apfel gewesen sein musste, und mit einem Körper, der das Wort „Versuchung“ neu definierte. Und dieses rotblonde Haar war ein Wunder für sich. Aber weil sie eine Harpyie war, die sie zudem im feindlichen Lager gefunden hatten, durfte man ihr auf gar keinen Fall trauen.
Vielleicht war sie wie die anderen Gefangenen missbraucht worden. Vielleicht verachtete sie die Jäger so sehr wie er. Vielleicht …
Vielleicht reichte das nicht, um ihr zu vertrauen. Nicht mehr. Immerhin war es möglich, dass sie ein Köder war, eine hübsche Falle, die die Jäger aufgestellt und die die Herren mit offenen Armen empfangen hatten.
Paris wollte nicht, dass Sabin wie er endete und sich mit jeder Faser seines Körpers nach einer Feindin sehnte, sie aber nicht haben konnte.
Vor einer Minute, einer Stunde, einem Monat, einem Jahr – er wusste es nicht, die Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr – hatten die Jäger ihn aus dem Hinterhalt angegriffen und eingesperrt. Da er den Dämon der Promiskuität beherbergte, brauchte Paris Sex, um zu überleben. Sex jeden Tag, mindestens einmal, jedoch niemals mit derselben Frau. In seiner Zelle war er – an eine fahrbare Krankentrage gefesselt – so schwach geworden, dass ihn allein das Augenöffnen schrecklich gequält hatte. Weil sie ihn aber nicht töten wollten, bevor sie die Büchse der Pandora gefunden hatten – denn ohne sie hätte der Tod seines Körper den Dämon befreit, der dann ungehindert durch die weite Welt gestreift wäre –, hatten sie sie zu ihm hineingeschickt. Sienna. Die einfache Sienna mit den Sommersprossen auf der Nase, den schmalen Händen und der natürlichen Sinnlichkeit.
Sie hatte ihn verführt und ihm in rasender Geschwindigkeit seine Kraft zurückgegeben. Und zum ersten Mal, seit er sich seinen Körper mit dem Dämon teilte, hatte Paris bei ein und derselben Frau zum zweiten Mal eine Erektion bekommen. In diesem Moment hatte er gewusst, dass sie zu ihm gehörte. Er hatte gewusst, dass sie Sein war – sein Grund zu atmen und der Grund, weshalb ihm in all den Jahrtausenden der Tod erspart geblieben war. Doch ihre Leute hatten sie erschossen, nachdem Paris mit ihr geflohen war.
Sie war in seinen Armen gestorben.
Jetzt war Paris immer noch gezwungen, jeden Tag eine neue Frau ins Bett zu bekommen. Und wenn er keine Frau finden konnte, musste halt ein Mann genügen, auch wenn er sich nie für Männer interessiert hatte. Für den Dämon der Promiskuität war Sex eben Sex. Eine Tatsache, die ihn vor langer Zeit in eine Spirale der Scham gestoßen hatte.
Doch inzwischen musste er sich das Gesicht von Sienna vor Augen rufen, um erregt zu werden, ganz egal wie attraktiv sein Betthäschen war. Er musste dieses Bild festhalten, um die Sache zu Ende bringen zu können, weil jede Zelle seines Körpers wusste, dass die Person, die unter ihm lag, die falsche war. Falscher Duft, falsche Rundungen, falsche Stimme, falsche Haptik. Alles war falsch.
Heute wäre es genauso. Und morgen auch. Und am Tag danach und an dem danach auch. Bis in alle Ewigkeit. Für ihn war kein Ende in Sicht. Außer dem Tod, aber er verdiente den Tod noch nicht. Nicht bevor Sienna gerächt war. Nur, wäre sie das überhaupt jemals?
Du hast sie nicht geliebt. Das ist doch Wahnsinn.
Weise Worte. Von seinem Dämon? Von ihm selbst? Er wusste es nicht mehr. Er konnte die eine Stimme nicht mehr von der anderen unterscheiden. Sie waren ein und dieselbe, zwei Hälften eines Ganzen. Und beide steckten mitten in einer Zerreißprobe, die jederzeit damit enden konnte, dass einer von beiden den falschen Schritt tat.
Bis dahin …
Paris strich über den Beutel in seiner Hosentasche, in der er die getrocknete Ambrosia aufbewahrte, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war noch da. Mittlerweile trug er das wirksame Zeug immer und überall mit sich herum. Nur für den Fall, dass er es brauchte – was häufiger der Fall war, als dass er es nicht brauchte.
Nur wenn Ambrosia in den Wein gemischt wurde, tat der Alkohol, was man von ihm erwartete, und betäubte ihn. Wenn auch nur für kurze Zeit. Doch es erschien Paris so, als müsse er jeden Tag die Dosis erhöhen, um den gleichen Rausch zu erleben.
Er hätte nur seinen Freund bitten müssen, mehr zu stehlen. Die Götter wussten, dass er ein paar friedliche Stunden verdiente, eine Chance, sich zu verlieren. Danach fühlte er sich belebt, stärker und bereit, seinen Feind zu bekämpfen.
Denk jetzt nicht daran. Sobald sie die Burg erreichten, hätte er einen Job zu erledigen. Das kam zuerst, musste zuerst kommen. Er zwang sich, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren und die Gedanken auszublenden. Die farbenfrohen Paläste hatten sie hinter sich gelassen, genau wie die Menschen, die quer über die Straßen liefen. Stattdessen sah er dicht bewaldete Hügel, verlassen und vergessen.
Der Escalade fuhr über eine Felskante und einen dieser Hügel hinauf. Sie wichen den Bäumen und den kleinen Geschenken aus, die er und die anderen für jeden Jäger hinterlassen hatten, der so dumm war, herzukommen, um sie zu erschießen. Mal wieder.
Vor etwa einem Monat hatten sie sein Zuhause gestürmt und ausgebombt. Ein Zuhause, in dem er seit Jahrhunderten gelebt hatte. Die Krieger waren gezwungen gewesen, sich schnell aufzuraffen und auf die nächste Reise zu gehen, um in eine weitere Schlacht zu ziehen. Sie hatten neue Möbel und neue Geräte gebraucht. Das gefiel ihm nicht. In seinem Leben hatte es in der letzten Zeit so viele Veränderungen gegeben – Frauen auf der Burg, die Rückkehr einer alten Freund-Feindschaft, den Ausbruch des Krieges –, dass er nicht viel mehr ertragen konnte.
Endlich kam die Burg in Sicht, ein gewaltiges Monstrum aus Schatten und Stein. Efeu kletterte an den zerklüfteten Wänden empor und verwischte die Grenze zwischen der Burg und ihrer Umgebung so stark, dass man kaum noch sagen konnte, wo das eine anfing und das andere endete. Das Einzige, das sie klar voneinander trennte, war das Eisentor, das nun das Gebäude umgab. Eine neue, weitere Sicherheitsvorkehrung.
Plötzlich lag Ungeduld in der kühlen Luft. Sie spannten die Muskeln an, hielten den Atem an. Gleich da …
Torin, der aus dem Innern der Burg mittels Monitoren und Sensoren beobachtete, was draußen geschah, öffnete das Tor. Als sie langsam auf den großen gewölbten Haupteingang zusteuerten, drückte Aeron seine Armlehne so fest, dass sie kaputtging.
„Bist wohl ein klitzekleines bisschen aufgeregt, hm?“, kommentierte Strider das Missgeschick und sah ihn über den Rückspiegel an.
Aeron antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er die Frage nicht einmal gehört. Auf seinem tätowierten Gesicht spiegelten sich Entschlossenheit und Wut. Es zeigte nicht den milden Ausdruck, den es normalerweise hatte, kurz bevor er Legion traf.
Sobald der Wagen hielt, sprangen sie heraus. Das gleißende Sonnenlicht knallte auf Paris’ Körper und ließ ihn unter seinem T-Shirt und der Jeans schwitzen. Götter, so heiß war es doch nicht mal in der Hölle, oder?
Kaum waren alle ausgestiegen, stellte sich die kleine Harpyie etwas abseits neben sie. Sie schlang sich die zierlichen Arme um die Taille, machte große Augen und war blass um die Nase. Sabin verfolgte jede ihrer Bewegungen. Er sah nicht einmal weg, als er eine Tasche aus dem Kofferraum hievte, wobei ihm eine andere auf die Füße fiel.
Wie konnte etwas so Teuflisches wie eine Harpyie nur so schüchtern sein? Das war einfach nicht möglich. Es passte nicht zusammen. Sie war wie zwei Stücke aus unterschiedlichen Puzzles, und in diesem Moment dachte Paris, dass sie ihr auf dem Weg zur Burg lieber die Augen hätten verbinden sollen.
Eine späte Einsicht. Aber wir können ihr ja immer noch die Zunge herausschneiden, damit sie nichts ausplaudert, dachte er. Und vielleicht noch die Hände abhacken, um sie am Zeichnen oder Schreiben zu hindern.
Wer bist du?
Vor Sienna war er jemand gewesen, der alles getan hätte, um eine Frau zu beschützen. Dass es jetzt anders war und er sie tatsächlich verletzen wollte, hätte ihn eigentlich mit Schuldgefühlen erfüllen sollen. Stattdessen war er wütend darüber, dass er seine Freunde nicht besser vor ihr beschützt hatte. Jegliche Bedrohung musste eliminiert werden. Über die Jahre hatten die anderen Krieger immer wieder versucht, ihn davon zu überzeugen, doch er hatte sich standhaft geweigert. Jetzt verstand er es.
Doch es war zu spät, ihr irgendetwas anzutun. Sabin ließ es nicht zu. Der Typ ist ja nicht zurechnungsfähig, dachte Paris. Selbst bevor sich zwischen Luciens und Sabins Gruppen diese tiefe Kluft aufgetan hatte, hatte Paris noch nie erlebt, dass Sabin jemals so versessen auf eine Frau gewesen war. Was nicht unbedingt gut war. Wenn die Schüchternheit des Mädchens nicht bloß gespielt war, würde Sabin sie zerstören und ihr mit der Zeit immer mehr Selbstbewusstsein rauben.
Maddox stieg aus dem zweiten Escalade. Paris nahm ihn am Rand seines Sichtfelds wie einen dunklen Blitz wahr. Der Hüter der Gewalt machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Tasche auszuladen, sondern stapfte schnell die Stufen zur Veranda hinauf. Die Tür schwang auf, und seine schwangere Frau flog förmlich nach draußen – sie lachte und weinte gleichzeitig. Ashlyn sprang ihm in die Arme, und er wirbelte sie durch die Luft. Sekunden später waren sie in einem heißen Kuss verschmolzen.
Es fiel Paris schwer, sich den grausamen Maddox als Vater vorzustellen – selbst wenn das Baby zur Hälfte ein Dämon wäre, wie die Herren.
Als Nächstes kam Danika. Sie blieb an der Tür stehen und suchte mit ihrem Blick nach Reyes. Als die hübsche Blondine ihn entdeckte, juchzte sie vor Freude. Und als wäre dieses Juchzen eine Art Paarungsruf, umfasste Reyes die Klinge seines Dolchs und ging dann zu ihr hinüber.
Vom Dämon des Schmerzes besessen, konnte Reyes keine Freude ohne körperliches Leid empfinden. Bevor er Danika begegnet war, hatte er sich rund um die Uhr Verletzungen zufügen müssen, um zu funktionieren. Während ihres Aufenthalts in Kairo hatte er sich kein einziges Mal selbst verletzen müssen. Von Danika getrennt zu sein sei Schmerz genug, hatte er gesagt. Jetzt, da sie wieder beisammen waren, musste er sich wieder schneiden, doch Paris glaubte nicht, dass es einen von beiden störte.
Fest nahm Reyes sie in die Arme, und die zwei verschwanden in der Festung. Nur Danikas Kichern, das immer noch zu hören war, bewies Paris, dass sie eben noch da gewesen waren.
Als er plötzlich einen Schmerz in der Brust fühlte, rieb er sich die Stelle und betete, es würde wieder vergehen. Doch er wusste es besser. Nicht bevor er seine Dosis Ambrosia getrunken hätte. Jedes Mal, wenn er in der Nähe der so offensichtlich verliebten Pärchen war, keimte dieser Schmerz in ihm auf und blieb – wie ein Parasit, der das Leben aus ihm heraussaugte –, bis er sich einen ordentlichen Rausch angetrunken hatte.
Von Lucien, der sich lieber nach Hause gebeamt hatte, als stundenlang in dem Flugzeug zu sitzen, war nichts zu sehen. Er und Anya hatten sich vermutlich in sein Zimmer eingeschlossen. Wenigstens zwei, die Rücksicht nahmen.
Er bemerkte, dass die Harpyie die Paare genauso intensiv beobachtet hatte wie er. Weil sie fasziniert war oder weil sie hoffte, die Information gegen sie verwenden zu können?
Sonst waren keine Frauen in der Burg, den Göttern sei Dank. Niemand, den Paris verführen und schließlich verletzen konnte, wenn er sie für eine andere fallen ließ. Gilly, Danikas junge Freundin, lebte jetzt in einem Apartment in der Stadt. Das Mädchen hatte seinen Freiraum gewollt. Und sie hatten so getan, als gäben sie ihn ihr – dabei war ihr neues Zuhause mit Torins Überwachungssystem verbunden. Danikas Großmutter, Mutter und Schwester hatten die Burg ebenfalls wieder verlassen und waren in die USA zurückgeflogen.
„Komm“, forderte Sabin die Harpyie auf. Als sie sich nicht in Bewegung setzte, zog er sie an seine Seite.
„Die Frauen …“, flüsterte sie.
„… sind glücklich.“ In jeder einzelnen Silbe lag feste Überzeugung. „Wären sie nicht so ungeduldig gewesen, endlich wieder ihre Männer bei sich zu haben, hätten sie sich dir auch vorgestellt.“
„Wissen sie …?“ Wieder hatte sie Probleme, den Satz zu beenden.
„Oh ja. Sie wissen, dass ihre Männer von Dämonen besessen sind. Und jetzt komm.“ Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr mitzukommen.
Sie zögerte immer noch. „Wohin bringst du mich?“
Sabin drückte sich mit der freien Hand auf die Nasenwurzel. Das tat er seit Kurzem häufiger. „Komm mit rein oder lass es. Aber ich werde nicht hier draußen warten, bis du dich entschieden hast.“
Wütende Schritte folgten, eine ins Schloss knallende Tür.
Jeden anderen hätte er einfach hochgehoben und wie einen Sack über seine Schulter gelegt, dachte Paris. Aber ihr gestattete er, selbst zu entscheiden. Schlau von ihm.
Die Harpyie sah nach links und rechts, und Paris bereitete sich gedanklich auf eine Verfolgungsjagd vor. Zwar glaubte er nicht, sie fangen zu können, falls sie sich entschloss, sich zu verwandeln und zu fliegen – so wie in der Höhle –, aber er war bereit, sich zu verteidigen, falls es nötig war.
In diesem Moment wurde es ihm bewusst. Das hier war eine günstige Gelegenheit für sie, zu verschwinden. Aber es war nicht die einzige. Auch als sie das Flugzeug bestiegen hatten, wäre es möglich gewesen, oder als sie mit ihnen in der Wüste kampiert hatte. Warum hatte sie all diese Chancen nicht genutzt? Warum nicht, wenn sie kein Köder und nur hier war, um sie auszuspionieren?
Obwohl sie es geleugnet hatte, war auch Sienna ein Köder gewesen. Sie hatte ihn genauso geküsst wie vergiftet – und sie war nur ein Mensch gewesen. Welchen Schaden könnte erst diese Harpyie anrichten?
Soll Sabin sich fürs Erste damit auseinandersetzen. Du hast genug um die Ohren.
Endlich beschloss sie, Sabin zu folgen, und ging mit zögernden Schritten in die Burg.
„Die Gefangenen müssen verhört werden“, sagte Paris in die Runde.
Cameo strich sich die dunklen Haare über die Schulter und bückte sich, um ihre Tasche aufzuheben. Niemand eilte ihr zu Hilfe. Sie behandelten sie genauso wie die männlichen Krieger, weil sie es so wollte. Wenigstens hatte er sich das immer eingeredet. Paris hatte nie versucht, sie anders zu behandeln, weil er nie mit ihr hatte schlafen wollen. Vielleicht hätte es ihr gefallen, hin und wieder ein wenig verwöhnt zu werden.
„Vielleicht morgen“, erwiderte sie, und ihre traurige Stimme brachte sein Trommelfell fast zum Platzen. „Ich muss mich ausruhen.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren – den Göttern sei Dank –, marschierte sie hinein.
Paris kannte Frauen gut genug, um zu wissen, dass sie log. Ihre Augen hatten gefunkelt, ihre Wangen waren leicht gerötet gewesen. Sie hatte erregt gewirkt, nicht müde. Mit wem wollte sie sich wohl treffen?
Sie war in letzter Zeit viel mit Torin zusammen gewesen und … Paris blinzelte. Nein, sicher nicht. Torin konnte niemanden berühren, ohne ihn mit einer Krankheit zu infizieren – und der Berührte steckte wiederum jeden an, dem er begegnete, wodurch eine Epidemie ausgelöst wurde. Auch ein Unsterblicher war davor nicht gefeit. Er würde zwar nicht sterben, aber so werden wie Torin und nicht in der Lage sein, einen anderen zu berühren, ohne dass es schwerwiegende Folgen hätte.
Aber es war auch egal, was zwischen ihnen lief. Er hatte etwas zu erledigen. „Sonst jemand?“, wandte sich Paris an die restlichen Krieger. Er wollte diesen Mist am liebsten sofort hinter sich bringen. Je eher er damit fertig war, Informationen aus den Jägern herauszuprügein, desto schneller konnte er sich in seinem Zimmer einschließen und vergessen, dass er am Leben war.
Strider pfiff gedankenverloren und tat, als hätte er ihn nicht gehört, während er auf den Eingang zuging.
Was war hier los? Niemand hatte mehr Spaß an Gewalt als Strider. „Hey, Strider. Ich weiß, dass du mich gehört hast. Hilf mir bei den Verhören, ja?“
„Ach komm schon. Warte wenigstens bis morgen. Sie können uns ja nicht weglaufen. Ich muss mich auch ein bisschen erholen. Wie Cameo. Morgen in aller Frühe bin ich bereit. Das schwöre ich bei den Göttern.“
Paris seufzte. „Na gut. Geh schon.“ Waren also Cameo und Strider ein Paar? „Was ist mit dir, Amun?“
Amun nickte, geriet dadurch aber dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass er stöhnend auf der untersten Verandastufe zusammenbrach.
Keine Sekunde verging, und Strider war an seiner Seite und legte ihm den Arm um die Taille. „Onkel Strider ist da, mach dir keine Sorgen.“ Er hievte den sonst so stoischen Krieger auf die Füße. Er hätte ihn im Notfall auch getragen, aber solange Strider ihn stützte, konnte Amun einen Fuß vor den anderen setzen, ohne allzu oft zu stolpern.
„Ich helfe dir mit den Jägern“, bot Aeron an und ging auf Paris zu.
Damit hätte Paris niemals gerechnet. „Was ist mit Legion? Das Mädchen vermisst dich bestimmt.“
Aeron schüttelte den Kopf. Unter den raspelkurzen Haaren glänzte seine Kopfhaut im Sonnenlicht. „Sie hätte schon längst auf meinen Schultern gesessen, wenn sie hier wäre.“
„Tut mir leid.“ Niemand wusste besser als Paris, wie es sich anfühlte, wenn man eine bestimmte Frau vermisste. Auch wenn er zugeben musste, dass er ziemlich überrascht gewesen war, als er herausgefunden hatte, dass der kleine Dämon tatsächlich eine Frau war.
„Es ist besser so.“ Mit einer seiner geäderten Hände rieb sich Aeron über das müde Gesicht. „Irgendetwas hat mich … beobachtet. Irgendetwas Mächtiges. Es hat eine Woche vor unserem Aufbruch nach Ägypten angefangen.“
Paris’ Magen zog sich zusammen. „Tolle Idee, eine Information wie diese vor uns geheim zu halten. Du hättest uns davon erzählen müssen, gleich nachdem du es das erste Mal bemerkt hast. Genauso wie du uns vor Monaten, als du von deiner himmlischen Vorladung zurückgekehrt bist, hättest erzählen sollen, was mit den Titanen passiert ist. Wer auch immer dich beobachtet, hat womöglich die Jäger von unserer Reise unterrichtet. Wir hätten …“
„Du hast recht, und ich entschuldige mich dafür. Aber ich glaube nicht, dass diese Macht für die Jäger arbeitet.“
„Und warum nicht?“, hakte Paris nach, der das Thema nicht einfach ad acta legen wollte.
„Ich kenne das Gefühl dieser hasserfüllten, richtenden Augen auf meinem Körper, aber so ist es diesmal nicht. Dieser Beobachter ist … neugierig.“
Er entspannte sich etwas. „Vielleicht ist es ja ein Gott.“
„Glaube ich auch nicht. Legion hat keine Angst vor den Göttern, aber sie hat eine Heidenangst vor diesem Unbekannten. Das ist ein Grund dafür, warum sie so scharf darauf ist, für Sabins Aufklärungsarbeiten in die Hölle zu gehen. Sie meinte, sie kommt wieder, wenn der Beobachter weg ist.“
Aeron klang besorgt. Paris verstand nicht ganz, warum. Legion mochte ein kleiner Dämon mit einer Schwäche für Diademe sein – was sie erst vor Kurzem entdeckt hatten, als sie Anya eins geklaut hatte und damit wie ein stolzer Schwan durch die Burg gestakst war –, aber sie konnte gut auf sich selbst aufpassen.
Paris drehte sich aufmerksam im Kreis. „Ist dein Schatten hier? In diesem Moment, meine ich?“ Als wenn sie noch einen Feind brauchten! „Vielleicht kann ich was oder wer auch immer es ist ja verführen und von dir weglocken.“ Und es umbringen. Man wusste ja nicht, was es schon alles in Erfahrung gebracht hatte.
Aeron schüttelte abermals den Kopf. „Ich glaube ehrlich nicht, dass es uns schaden will.“
Paris schwieg und stieß langsam den angehaltenen Atem aus. „Na gut. Wir befassen uns später damit. Sag mir Bescheid, wenn es wiederkommt. Im Augenblick müssen wir uns um einen Kerker voller Scheißkerle kümmern.“
„Du klingst jeden Tag menschlicher, weißt du das eigentlich?“ Das sagte Aeron ihm nicht zum ersten Mal, aber ausnahmsweise klang es mal nicht geringschätzig. Ein pfeifendes Geräusch ertönte, als er eine Machete aus der Schlaufe auf seinem Rücken zog. „Vielleicht wehren sich die Jäger ja.“
„Nur wenn wir Glück haben.“
Torin, der Hüter der Krankheit, saß an seinem Tisch. Doch statt auf die Monitore zu schauen, die ihn mit der Außenwelt verbanden, starrte er unverwandt auf die Zimmertür. Er hatte die Geländewagen in die Auffahrt einbiegen sehen und war sofort erregt gewesen. Er hatte die Krieger beim Aussteigen beobachtet und sich berühren müssen, um den plötzlichen Schmerz zu lindern. Er beobachtete, wie einer nach dem anderen die Burg betrat. Jeden Moment könnte …
Cameo schlüpfte ins Zimmer und schloss die Tür mit einem leisen Klicken. Sie sperrte ab und wandte ihm einige Sekunden lang den Rücken zu. Die langen dunklen Haare, die sich in den Spitzen lockten, fielen ihr auf die Taille.
Einmal hatte sie ihm erlaubt, die Enden einiger Strähnen zwischen seinen bloßen Fingern zu zwirbeln, vorsichtig, ganz vorsichtig, um ja nicht ihre Haut zu berühren. Zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren hatte er wieder richtig eine Frau berührt. Er wäre fast gekommen, allein dadurch, dass er die seidigen Strähnen an seinen nackten Fingern spürte. Doch diese kleine Berührung war alles, was sie erlaubt hatte; alles, was sie erlauben und was er je riskieren konnte.
Im Grunde war er sogar überrascht, dass sie überhaupt so leichtsinnig gewesen waren. Wenn er die Handschuhe anhatte, dann sicher. Dann war die Gefahr, sie zu infizieren, gleich null. Aber Locken auf blanker Haut, Seide gegen Wärme, Frau gegen Mann? Das erforderte Mut und Vertrauen ihrerseits und Verzweiflung und Dummheit seinerseits. Zwar waren Haare keine Haut, aber was, wenn er ausgerutscht wäre? Was, wenn sie auf ihn gefallen wäre? Aus irgendeinem Grund war keiner von ihnen fähig gewesen, den Konsequenzen eine Bedeutung beizumessen.
Als er das letzte Mal eine Frau berührt hatte, war ein komplettes Dorf gestorben. Man hatte von der Pest gesprochen. Das war es, was durch seine Venen strömte und in seinem Kopf lachte. Noch Jahre nach der Tragödie hatte Torin sich die Haut so lange geschrubbt, bis das schwarze Blut aus ihm herausgeflossen war. Aber es hatte sich als unmöglich herausgestellt, sich von dem Virus zu reinigen.
Im Laufe der folgenden Jahrhunderte hatte er gelernt, das permanente Gefühl der Unreinheit und Verpestung hinter einem Lächeln und trockenem Humor zu verstecken, aber er hatte nie die Sehnsucht nach dem unterdrücken können, was ihm nie zuteil werden würde: eine Beziehung. Cameo verstand ihn wenigstens. Sie wusste, womit er zu kämpfen hatte, was er tun konnte und was nicht, und sie bat ihn nicht um mehr.
Er wünschte, sie würde ihn um mehr bitten, und hasste sich dafür.
Langsam drehte sie sich zu ihm um. Ihre Lippen waren rot und feucht, als hätte sie darauf herumgekaut, und ihre Wangen rosig. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter schnellen, flachen Atemzügen. Sein eigener Atem schmerzte ihn in der Kehle.
„Wir sind wieder da“, flüsterte sie atemlos.
Er blieb sitzen und zog die Augenbrauen hoch, als kümmerte ihn das alles nicht. „Bist du unverletzt?“
„Ja.“
„Gut. Zieh deine Sachen aus.“
Seit er vor einigen Monaten ihr Haar berührt hatte, waren sie beste Freunde geworden. Mit beiderseitigem Nutzen. Ein Sich-mit-einem-Sicherheitsabstand-Selbstbefriedigen-währendder-andere-dasselbe-tat-Nutzen, aber nichtsdestoweniger ein Nutzen. Es machte alles höllisch kompliziert. Das Hier und Jetzt… die Zukunft. Eines Tages wollte sie bestimmt einen Liebhaber, der sie richtig berühren konnte, der mit ihr schlafen, sich in ihr bewegen, sie küssen und schmecken und sich um ihren Körper schlingen konnte, und Torin müsste Platz machen und dürfte den Bastard nicht töten.
Aber bis dahin …
Sie war seinem Befehl nicht gefolgt.
„Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt“, sagte er. „Ich möchte, dass du dich ausziehst.“
Später würde sie ihn dafür bestrafen, dass er sie so herumkommandierte. Er kannte sie gut und wusste, wie sehr sie beweisen wollte, dass sie genauso mächtig war wie die männlichen Krieger. Jetzt befand sie sich in einem Zwiespalt. Er nahm den süßen Duft ihrer Erregung wahr. Cameo würde nicht mehr lange widerstehen können.
Tatsächlich griff sie mit zittrigen Fingern zum Saum ihres Hemdes und zog es sich über den Kopf. Ein schwarzer Spitzen-BH kam zum Vorschein. Sein Lieblingsstück.
„So gefällst du mir“, sagte er lobend.
Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und blickte auf seine Erektion, die die Hose nicht verbarg. „Ich habe dir befohlen, nackt zu sein, wenn ich herkomme. Du warst kein braver Junge.“
Er hatte sich an ihre traurige Stimme gewöhnt und krümmte sich nicht mehr wie die anderen vor seelischen Schmerzen. Weder innerlich noch äußerlich. Die Stimme war Teil ihrer Persönlichkeit – Kriegerin im Kern, wunderschönes Unglück, ungewollter Albtraum. Für ihn war sie eine gefühlvolle Melodie, die in seiner Seele ihr Echo fand.
Torin stand auf, die Muskeln angespannt. „Wann bin ich schon gut?“
Ihre Pupillen weiteten sich, und ihre Brustwarzen wurden hart. Sie mochte es, wenn er sie herausforderte. Vielleicht weil sie wusste, dass der Wert einer Sache stieg, je härter man dafür kämpfen musste.
Er wünschte nur, er hätte die Kraft, einen Kampf mit ihr zu gewinnen – einmal, nur ein einziges Mal. Am Ende gewann immer sie. Er hatte zu wenig Erfahrung mit Frauen und war zu sehr darauf aus, sie ins Schwitzen zu bringen. Aber er bot immer eine gute Vorführung.
„Ich werde mich ausziehen, wenn du nackt bist“, sagte er heiser. „Keine Sekunde früher.“ Starke Worte, die er vielleicht gar nicht wahr machen konnte.
„Das werden wir ja sehen …“ Ihre schwarzen Haare rauschten leise, als sie zu seinem Kleiderschrank schlenderte. Sie stellte einen Fuß auf den Stuhl vor sich und verschlang Torin regelrecht mit ihrem Blick. Noch nie war das Offnen eines Schuhs so sexy gewesen. Dem ersten Stiefel, den sie ihm zuwarf, wich er mit einer kleinen Kopfbewegung aus. Der zweite traf ihn hart auf der Brust. Aber den Blick von ihr abzuwenden, um den Aufprall zu vermeiden, das kam für ihn nicht infrage. Nicht mal für eine Sekunde.
Raschel. Die Hose glitt hinunter. Sie stieg aus ihr heraus.
Ein Slip aus schwarzer Spitze, passend zu ihrem BH. Perfektion. Überall Waffen. Reizvoll.
Ihre Brüste waren klein und keck, und er wusste, dass ihre Brustwarzen wie Rosenknospen aussahen. Über dem rechten Hüftknochen hatte sie eine ovalförmige Mulde. Was hätte er dafür gegeben, einmal darüberzulecken … Doch was ihn am meisten faszinierte, war der glänzende Schmetterling, der ihre Hüfte umschlang.
Wenn man sie nur von einer Seite ansah oder von vorn, war es schier unmöglich zu sagen, was das für ein schimmerndes, glühendes Muster war. Nur wenn sie ihm den Rücken zuwandte, nahm es Gestalt an. Wie sehr er sich danach sehnte, mit der Zunge über jede Flügelspitze und jede Linie zu fahren.
Er hatte eine entsprechende Tätowierung auf dem Bauch, allerdings war seine onyxfarben und von einem roten Rand eingefasst. Alle Krieger hatten ein Schmetterlingstattoo. Doch bei jedem schimmerte dieses Dämonenzeichen an einer anderen Stelle. Und bisher hatte er sich noch nie danach gesehnt, die Tätowierungen eines anderen mit Händen, Lippen und seinem Körper zu berühren.
Als Cameo ihre Waffen abgelegt hatte, türmte sich neben ihr ein kleiner Haufen auf. Sie sah Torin an und zog eine Augenbraue hoch. „Du bist dran.“ Ihre Stimme zitterte. Traf das, was gleich geschehen sollte, sie mehr, als sie ihn wissen lassen wollte?
Selbstgerecht schöpfte er daraus Trost. „Du bist nicht nackt.“
„Könnte ich aber.“
Er hätte die Sache beenden sollen, sie wegschicken sollen, hätte irgendetwas unternehmen sollen, weil sie beide wussten, dass sie niemals weitergehen könnten als jetzt und dass es ihnen niemals reichen würde, aber … er zog sich aus.
Wie immer an diesem Punkt raubte es Cameo hörbar den Atem, als sie seine Erektion sah. „Sag mir, was du mit mir anstellen willst“, befahl sie ihm und streichelte bereits ihre Brüste. „Und lass kein Detail aus.“
Er gehorchte ihr, und ihre Finger bewegten sich über ihren Körper, als wären es seine. Erst als sie zweimal gekommen war, berührte er sich, und sie dirigierte seine Bewegungen. Doch keinen Moment lang vergaß er, dass er niemals mehr bekäme; dass ihm niemals mehr gehören würde.